Urteil des BVerwG vom 21.05.2012

Psychologisches Gutachten, Verwertung, Anforderung, Gleichbehandlung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 65.11
OVG 2 LB 27/10
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Mai 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler und Buchheister
beschlossen:
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen
Oberverwaltungsgerichts vom 14. April 2011 wird zurück-
gewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde des Klägers, der die Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis der
Klasse B begehrt, hat keinen Erfolg. Der allein geltend gemachte Revisionszu-
lassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.
1. Dem Kläger wurde 1997 wegen Trunkenheit im Verkehr durch das Strafge-
richt erstmals seine Fahrerlaubnis entzogen. Am 12. Juni 1998 erhielt er erneut
eine Fahrerlaubnis der Klasse 3. Durch Urteil des Amtsgerichts Elmshorn vom
12. September 2007 wurde ihm diese Fahrerlaubnis wegen einer Trunkenheits-
fahrt am 24. April 2007 (BAK von 1,46 Promille) wieder entzogen und eine
Sperrfrist von sieben Monaten festgesetzt. Die Mitteilung über diese Entschei-
dung ging beim Kraftfahrt-Bundesamt am 10. Oktober 2007 ein (vgl. Mitteilung
des Kraftfahrt-Bundesamtes an den Beklagten, Bl. 122 VA).
Nachdem der Kläger im Mai 2008 einen im Januar gestellten ersten Neuertei-
lungsantrag wieder zurückgenommen hatte, beantragte er am 12. Juni 2008 er-
neut die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B. Der Beklagte forderte
den Kläger daraufhin wie beim Erstantrag wieder auf, ein medizinisch-
psychologisches Eignungsgutachten vorzulegen. Es bestünden erhebliche Be-
denken an seiner Kraftfahreignung, nachdem ihm 2007 bereits zum zweiten Mal
die Fahrerlaubnis wegen einer Trunkenheitsfahrt entzogen worden sei. Lege er
dieses Gutachten nicht fristgerecht vor, müsse die Neuerteilung der Fahr-
erlaubnis abgelehnt werden. Als der Kläger das Gutachten nicht beibrachte,
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lehnte der Beklagte seinen Antrag mit Bescheid vom 23. September 2008 ab.
Der hiergegen eingelegte Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg.
Seine Klage hat das Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein mit Urteil vom
20. Juli 2010 abgewiesen; die Berufung hiergegen hat das Schleswig-
Holsteinische Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 14. April 2011 zurückge-
wiesen. Zur Begründung heißt es: Die Ablehnung des Neuerteilungsantrags sei
rechtmäßig; der Beklagte habe wegen der Nichtvorlage des angeforderten me-
dizinisch-psychologischen Gutachtens von der fehlenden Kraftfahreignung des
Klägers ausgehen dürfen. Der Beklagte habe vom Kläger die Vorlage eines sol-
chen Gutachtens gemäß § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b der Fahrerlaubnis-
Verordnung (FeV) wegen wiederholter Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr
unter Alkoholeinfluss zu Recht gefordert; berücksichtigungsfähig seien auch die
Trunkenheitsfahrten aus dem Jahr 1996. § 65 Abs. 9 StVG, der vor dem 1. Ja-
nuar 1999 in das Verkehrszentralregister eingetragene Entscheidungen betref-
fe, lasse deren Verwertung bis längstens zu dem Tag zu, der einer zehnjähri-
gen Tilgungsfrist entspreche. Die in dieser Regelung enthaltene Verweisung auf
§ 29 StVG schließe auch die Berechnung des Fristbeginns nach § 29 Abs. 5
StVG und die Voraussetzungen für eine Hemmung des Ablaufs der Tilgungsfrist
nach § 29 Abs. 6 StVG ein. Im Fall des Klägers wäre die zehnjährige Verwer-
tungsfrist, die gemäß § 29 Abs. 5 Satz 1 StVG mit der Neuerteilung der Fahr-
erlaubnis am 12. Juni 1998 zu laufen begonnen habe, an sich am 12. Juni 2008
abgelaufen. Der Fristablauf sei jedoch dadurch gehemmt worden, dass der Klä-
ger am 24. Juli 2007 erneut eine Trunkenheitsfahrt begangen habe.
2. Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig,
ob durch Hemmung über den Verwertbarkeitszeitraum von
zehn Jahren hinaus eine „Alttat“ weiterhin vorgeworfen
werden kann.
Diese Frage rechtfertigt jedoch - auch wenn sie gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO eingegrenzt und präzisiert würde - keine Revisionszulassung auf der
Grundlage von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Nach der zu § 65 Abs. 9 StVG bereits
ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist, auch ohne
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dass es hierfür noch der Durchführung eines weiteren Revisionsverfahrens be-
dürfte, klar, dass die vom Berufungsgericht gefundene Auslegung zutrifft.
Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Beklagte we-
gen der Nichtvorlage des angeforderten medizinisch-psychologischen Gutach-
tens dann gemäß § 11 Abs. 8 FeV auf die fehlende Kraftfahreignung des Klä-
gers schließen durfte, wenn die Anforderung selbst rechtmäßig erfolgt war
(stRspr; vgl. u.a. BVerwG, Urteil vom 28. April 2010 - BVerwG 3 C 2.10 -
BVerwGE 137, 10 <13> Rn. 14 m.w.N.). Als Rechtsgrundlage für die Anforde-
rung kommt hier § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV in Betracht; danach ordnet die
Fahrerlaubnisbehörde u.a. zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Ertei-
lung einer Fahrerlaubnis an, dass ein medizinisch-psychologisches Gutachten
beizubringen ist, wenn wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter
Alkoholeinfluss begangen wurden. Demgemäß kommt es auf die Verwertbarkeit
der vom Kläger im Jahr 1996 begangenen und 1997 strafrechtlich geahndeten
Trunkenheitsfahrten zum Zeitpunkt der Anforderung des Gutachtens an. Da die
diese Trunkenheitsfahrten betreffenden Eintragungen im Verkehrszentralregis-
ter vor dem 1. Januar 1999 erfolgt sind, richtet sich deren Tilgung und Verwert-
barkeit nach § 65 Abs. 9 StVG; hiernach werden Entscheidungen, die vor dem
1. Januar 1999 im Verkehrszentralregister eingetragen worden sind, bis zum
1. Januar 2004 nach den Bestimmungen des § 29 in der bis zum 1. Januar
1999 geltenden Fassung in Verbindung § 13a der Straßenverkehrs-Zulassungs-
Ordnung getilgt; die Entscheidungen dürfen nach § 52 Abs. 2 des Bundeszen-
tralregistergesetzes in der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung ver-
wertet werden, jedoch längstens bis zu dem Tag, der einer zehnjährigen Til-
gungsfrist entspricht. Diese spezielle und damit auch gegenüber § 29 Abs. 8
Satz 1 StVG Vorrang beanspruchende Übergangsregelung in § 65 Abs. 9 StVG
ermöglicht eine Verwertung solcher Alteintragungen im dort beschriebenen Um-
fang auch dann, wenn diese Eintragung nach Maßgabe des Altrechts bereits im
Verkehrszentralregister getilgt worden ist. Denn gemäß § 52 Abs. 2 BZRG in
der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung darf eine frühere Tat ab-
weichend von § 51 Abs. 1 in einem Verfahren berücksichtigt werden, das die
Erteilung oder Entziehung einer Fahrerlaubnis zum Gegenstand hat, wenn die
Verurteilung wegen dieser Tat in das Verkehrszentralregister einzutragen war.
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Hiernach konnten Eintragungen im Verkehrzentralregister trotz Tilgungsreife in
solchen Verfahren ohne zeitliche Begrenzung berücksichtigt werden (so ge-
nannte ewige Verwertung; vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001
- BVerwG 3 C 14.01 - Buchholz 442.10 § 65 StVG Nr. 1 S. 4 = NVwZ-RR 2002,
93). Allerdings wurde diese umfassende Verwertbarkeit später mit dem durch
das Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßen-
verkehrsrechtlicher Vorschriften vom 19. März 2001 (BGBl I S. 386) in § 65
Abs. 9 Satz 1 StVG eingefügten Halbsatz 2 bis längstens zu dem Tag be-
schränkt, „der einer zehnjährigen Tilgungsfrist entspricht“. Mit dieser Befristung
auf zehn Jahre sollte ausweislich der Gesetzesbegründung (vgl. BTDrucks
14/4304 S. 14) ein Gleichstand mit der ab 1. Januar 1999 geltenden Neurege-
lung hergestellt werden. Sie sieht unter anderem für die hier in Rede stehenden
Verkehrsverstöße eine Tilgungsfrist und damit auch eine Verwertbarkeit von
zehn Jahren vor; für Beginn und Ablauf der Tilgungsfrist sind § 29 Abs. 5 und 6
StVG zu beachten. Aus der gesetzgeberischen Absicht, mit der in der darge-
stellten Weise ergänzten Übergangsregelung des § 65 Abs. 9 StVG eine
Gleichbehandlung von den unter die Übergangsregelung fallenden Altfällen mit
den unter das neue Recht fallenden Sachverhalten zu erreichen, hat der Senat
geschlossen, dass sich das, was im Sinne von Halbsatz 2 einer zehnjährigen
Tilgungsfrist „entspricht“, aus § 29 StVG n.F. einschließlich der Regelung über
den Beginn der Tilgungsfrist in § 29 Abs. 5 Satz 1 StVG ergibt (BVerwG, Urteil
vom 9. Juni 2005 - BVerwG 3 C 21.04 - Buchholz 442.10 § 2 StVG Nr. 11
Rn. 30 = NJW 2005, 3440 m.w.N.). Es liegt mit Blick auf die vom Gesetzgeber
mit dieser Ergänzung verfolgte Absicht einer Gleichbehandlung von Alt- und
Neufällen auf der Hand, dass das, was der Senat im genannten Urteil in Bezug
auf den in § 29 Abs. 5 Satz 1 StVG geregelten Beginn der Tilgungsfrist bereits
ausdrücklich entschieden hat, Geltung auch für die Hemmung des Ablaufs der
Tilgungsfrist durch spätere Eintragungen gemäß § 29 Abs. 6 StVG n.F. bean-
sprucht. Kann nach § 29 Abs. 6 StVG bei Neufällen eine Ablaufhemmung ein-
treten, muss das gleichermaßen bei Altfällen gelten. Im damaligen Urteil wurde
§ 29 Abs. 5 Satz 1 StVG, da es in jenem Fall ausschließlich auf diese Regelung
ankam, nur exemplarisch neben dem ebenfalls aufgeführten § 29 StVG ge-
nannt.
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Ebenso wenig bedarf danach die außerdem aufgeworfene Frage revisionsge-
richtlicher Klärung, ob
eine Hemmung eintreten kann, wenn eine Alttat nicht
mehr im Verkehrszentralregister eingetragen war.
Dass das unter den in § 65 Abs. 9 StVG genannten Voraussetzungen der Fall
sein kann, ergibt sich unmittelbar aus dieser Bestimmung selbst. Sie unterwirft
die Tilgung und Verwertbarkeit von vor dem 1. Januar 1999 eingetragenen Ent-
scheidungen getrennten Regelungen. Ursprünglich hatte § 65 Abs. 9 StVG
- wie gezeigt - sogar die sog. „ewige“ Verwertbarkeit vorgesehen. Auch der Klä-
ger selbst geht ausweislich der Beschwerdebegründung davon aus, dass im
durch § 65 Abs. 9 StVG gezogenen Rahmen auch in den Registern getilgte Ein-
tragungen verwertet werden dürfen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Festsetzung des
Streitwertes beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2
GKG.
Kley
Liebler
Buchheister
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Straßenverkehrsrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
StVG
§ 29 Abs. 5 bis 8
§ 65 Abs. 9
BZRG
§ 52
FeV
§ 11 Abs. 8, § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b
Stichworte:
Eintragung im Verkehrszentralregister; Übergangsvorschrift; Tilgung; Tilgungs-
frist; Verwertung; Verwertungsfrist; Verwertbarkeit einer Eintragung; Nichtver-
wertbarkeit; Ablaufhemmung; Hemmung; Kraftfahreignung; Erteilung einer
Fahrerlaubnis; Neuerteilung einer Fahrerlaubnis; Gleichbehandlung von Altfäl-
len; Trunkenheitsfahrt; Alkoholproblematik; wiederholte Zuwiderhandlungen
unter Alkoholeinfluss; Alkoholmissbrauch; Eignungszweifel; medizinisch-
psychologisches Gutachten; Anforderung eines Gutachtens.
Leitsatz:
Was im Sinne von § 65 Abs. 9 Satz 1 Halbs. 2 StVG einer zehnjährigen Til-
gungsfrist entspricht, ergibt sich aus § 29 StVG n.F. einschließlich der Regelung
über den Beginn der Tilgungsfrist in § 29 Abs. 5 Satz 1 StVG und der Regelung
über eine Hemmung des Ablaufs der Tilgungsfrist in § 29 Abs. 6 StVG (Fortfüh-
rung der Rechtsprechung aus dem Urteil vom 9. Juni 2005 - BVerwG 3 C
21.04 - Buchholz 442.10 § 2 StVG Nr. 11).
Beschluss des 3. Senats vom 21. Mai 2012 - BVerwG 3 B 65.11
I. VG Schleswig-Holstein vom 20.07.2010 - Az.: VG 3 A 28/09 -
II. OVG Schleswig-Holstein vom 14.04.2011 - Az.: OVG 2 LB 27/10 -