Urteil des BVerwG vom 02.04.2014

Rechtliches Gehör, Einzäunung, Beweisantrag, Landwirtschaft

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 62.13
OVG 11 LC 206/12
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. April 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wysk und Rothfuß
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beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Ober-
verwaltungsgerichts vom 18. Juni 2013 wird zurückgewie-
sen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 500 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beteiligten streiten über eine tierschutzrechtliche Anordnung, mit der der
Klägerin untersagt wurde, Pferde auf mit Stacheldraht eingezäunten Weiden zu
halten, wenn der Stacheldraht nicht in einem Abstand von mindestens 50 cm
durch eine gut sichtbare, weniger verletzungsträchtige Absperrung nach innen
abgesichert ist. Mit ihrer hiergegen gerichteten Klage hat die Klägerin insbe-
sondere geltend gemacht, dass von den auf ihren Weiden vorhandenen Sta-
cheldrahtzäunen wegen deren Gestaltung, der Größe und Lage der Weiden
sowie wegen der Rasse und Ausbildung ihrer Pferde keine tierschutzwidrige
Verletzungsgefahr ausgehe. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem
Urteil des Oberverwaltungsgerichts hat keinen Erfolg. Das Urteil leidet weder an
dem geltend gemachten Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO noch ist eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO in der erforderlichen Weise (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO)
dargetan.
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1. Die Klägerin meint, mit der Ablehnung der von ihr in der mündlichen Ver-
handlung beantragten Einholung eines Sachverständigengutachtens habe das
Oberverwaltungsgericht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103
Abs. 1 GG). Ein solcher Gehörsverstoß, der einfachrechtlich allerdings weniger
§ 108 Abs. 2 VwGO als die Aufklärungspflicht gemäß § 86 Abs. 1 und 2 VwGO
betrifft, liegt nur vor, wenn die Ablehnung des Beweisantrags - auf der Grundla-
ge der materiell-rechtlichen Sicht des Tatsachengerichts - im Prozessrecht kei-
ne Stütze mehr findet (BVerfG, Beschlüsse vom 22. Januar 2001 - 1 BvR
2075/98 - NJW-RR 2001, 1006 <1007> und vom 30. Januar 1985 - 1 BvR
393/84 - BVerfGE 69, 141 <144> m.w.N.). Das ist jedoch nicht der Fall.
Hat das Tatsachengericht die erforderliche Sachkunde, um den streitigen Sach-
verhalt beurteilen zu können, so kann es im Rahmen der freien Beweiswürdi-
gung (§ 108 Abs. 1 VwGO) die Einholung eines Sachverständigengutachtens
ablehnen (Rechtsgedanke des § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO). Entsprechend ist es
auch nicht ohne Weiteres verpflichtet, zusätzlich ein Sachverständigengutach-
ten einzuholen, wenn zu einer beweiserheblichen Tatsachenfrage von den Be-
teiligten bereits Gutachten in das Verfahren eingebracht worden sind. Wird ein
hierauf gerichteter Beweisantrag gestellt, so ist über diesen nach pflichtgemä-
ßem Ermessen unter Auswertung der vorliegenden Gutachten zu entscheiden
(§ 98 VwGO, § 412 ZPO entsprechend). Ein Verfahrensmangel liegt nur dann
vor, wenn sich die Einholung eines zusätzlichen Gutachtens wegen fehlender
Eignung der bereits gegebenen Erkenntnis- und Beurteilungsgrundlagen hätte
aufdrängen müssen, etwa weil sie grobe, offen erkennbare Mängel oder unlös-
bare Widersprüche aufweisen, von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen
ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder der Unparteilichkeit
der Erkenntnisquelle bestehen, so dass sie nicht geeignet sind, dem Gericht die
für die Entscheidung notwendige Sachkunde zu vermitteln (stRspr, vgl. etwa
Urteil vom 6. Oktober 1987 - BVerwG 9 C 12.87 - Buchholz 310 § 98 VwGO
Nr. 31 S. 2, Beschlüsse vom 4. Oktober 2001 - BVerwG 6 B 39.01 - Buchholz
448.0 § 23 WPflG Nr. 11 S. 2 f. und vom 29. Mai 2009 - BVerwG 2 B 3.09 -
Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 5 Rn. 7).
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a) Das Oberverwaltungsgericht hat den Beweisantrag in erster Linie mit der Be-
gründung abgelehnt, dass es aufgrund der vorliegenden Sachverständigenäu-
ßerungen hinreichend sachkundig sei und verweist hierfür zunächst auf die vom
Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz he-
rausgegebenen „Leitlinien zur Beurteilung von Pferdehaltungen unter Tier-
schutzgesichtspunkten“ (Stand Juni 2009 - im Folgenden: Leitlinien) sowie die
im März 1999 herausgegebenen „Empfehlungen zur Freilandhaltung von Pfer-
den“ des Niedersächsischen Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten (im Folgenden: Empfehlungen).
Dem hält die Klägerin entgegen, die Leitlinien und Empfehlungen seien zu Un-
recht als sachverständige Äußerung gewertet worden, denn sie erhöben nicht
den Anspruch festzulegen, welche Umzäunung tierschutzrechtlich zulässig sei.
Damit verkennt sie jedoch, dass der Sachverstand Dritter, der in den Leitlinien
und Empfehlungen verkörpert ist, lediglich dazu dient, dem Gericht die tatsäch-
liche Sachkunde zu vermitteln, auf deren Grundlage es die ihm zustehende
rechtliche Würdigung vornimmt. Entsprechend ist es ohne Bedeutung, dass
sich die Leitlinien - zutreffend - keine rechtliche Verbindlichkeit beimessen und
lediglich Hilfestellung bei der Rechtsanwendung sein wollen (vgl. Urteil vom
17. Februar 1978 - BVerwG 1 C 102.76 - BVerwGE 55, 250 <256>).
Zur Vermittlung von Sachkunde sind die Leitlinien und Empfehlungen offenkun-
dig geeignet. Die Leitlinien sind das Werk einer achtköpfigen Personengruppe,
in der wissenschaftlich und praktisch mit Fragen des Tierschutzes und der Hal-
tung von Pferden befasste Sachverständige vertreten waren. Auf der Grundlage
ihrer Ausführungen zur Entwicklungsgeschichte und Ethologie des Pferdes so-
wie der arttypischen Verhaltensweise und der Besonderheiten des Gesichtsfel-
des der Pferde folgern die Leitlinien im Interesse einer größtmöglichen Sicher-
heit für Tier und Mensch allgemein die Notwendigkeit einer gut sichtbaren Ein-
zäunung und bewerten die alleinige Einzäunung mit Stacheldraht oder Knoten-
gitter als tierschutzwidrig. Die Empfehlungen, die ihrerseits von Pferdehaltern,
Wissenschaftlern und Verbands- sowie Behördenvertretern unter Federführung
des Tierschutzdienstes Niedersachsens erarbeitet worden sind, enthalten auf
der Grundlage, dass eine Einzäunung keine erhöhte Verletzungsgefahr darstel-
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len dürfe und gut sichtbar sein müsse, die Aussage, dass die alleinige Einzäu-
nung mit Glattdraht, Stacheldraht und Knotengitterzäunen äußerst verletzungs-
trächtig sei; sie könne nur toleriert werden, wenn ein gut sichtbarer Innenzaun
vor direktem Kontakt schütze.
Diese allgemeinen Aussagen sind aus sich heraus plausibel. Dass es erforder-
lich gewesen wäre, sich mit der Gewährleistung der Verkehrssicherungspflicht
auseinanderzusetzen, drängt sich nicht auf. Es ist weder näher dargelegt noch
sonst ersichtlich, dass außer Stacheldraht nicht auch andere verkehrssichere
Arten der Einzäunung zur Verfügung stünden, zumal nur die nicht zusätzlich
abgesicherte Einzäunung mit Stacheldraht als tierschutzwidrig betrachtet wird.
Die Aussagen der Leitlinien und Empfehlungen, die auch keiner rechtlichen
Grundlage bedürfen, um sie als sachverständige Äußerungen würdigen zu
können, werden zudem durch eine Reihe weiterer, von dem Beklagten vorge-
legter Äußerungen sachkundiger Stellen bestätigt, auf die das Oberverwal-
tungsgericht in seinem Urteil zusätzlich Bezug nimmt. Folglich ist nicht zu bean-
standen, dass sich das Oberverwaltungsgericht ebenso wie die Amtstierärztin
auf diese Erkenntnisquellen gestützt und daraus eigene Sachkunde abgeleitet
hat.
b) Darüber hinaus hat sich das Oberverwaltungsgericht in seinem ablehnenden
Beweisbeschluss auf die Stellungnahme der Amtstierärztin berufen; auf der
Grundlage der in verschiedenen Vermerken enthaltenen Äußerungen und der
Aussage der Amtstierärztin vor dem Verwaltungsgericht hat es sich in seinem
Urteil mit den konkreten Einwendungen der Klägerin auseinandergesetzt und
auch mit Blick auf die geltend gemachten Besonderheiten des Falles - auf wel-
che die Leitlinien und Empfehlungen nicht näher eingehen - eine Verletzungs-
gefahr bejaht. Auch das ist nicht zu beanstanden.
Zutreffend ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die beam-
teten Tierärzte im Rahmen der Durchführung des Tierschutzgesetzes als ge-
setzlich vorgesehene Sachverständige eigens bestellt und regelmäßig zu betei-
ligen sind (§ 15 Abs. 2 TierSchG); ihr Gutachten erachtet der Gesetzgeber ge-
mäß § 16a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TierSchG grundsätzlich als ausreichend und
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maßgeblich dafür, einen Verstoß gegen die Grundpflichten zur artgerechten
Tierhaltung nach § 2 TierSchG nachzuweisen. Dementsprechend konnte das
Oberverwaltungsgericht die in verschiedenen Vermerken festgehaltenen Äuße-
rungen der Amtstierärztin heranziehen und auf der Grundlage ihrer Erkenntnis
die von der Klägerin erhobenen individuellen Einwendungen zurückweisen.
Nichts anderes gilt für die Aussage der Amtstierärztin vor dem Verwaltungsge-
richt, zumal es sich der Sache nach - zumindest überwiegend - nicht um eine
Vernehmung als sachverständige Zeugin im Sinne von § 414 ZPO, sondern um
ein mündliches Sachverständigengutachten handelt. Auf der Basis dieser Äuße-
rungen hat sich das Oberverwaltungsgericht sowohl mit der Frage einer Diffe-
renzierung nach der Pferderasse als auch mit der Ausbildung der von der Klä-
gerin gehaltenen Pferde als Kutschpferde auseinandergesetzt und diese Um-
stände mit Blick auf die Gefahr von erheblichen Verletzungen gewürdigt. Glei-
ches gilt für die Gestaltung der Zäune und der Weiden. Soweit die Klägerin der
Verwertung der Äußerungen der Amtstierärztin entgegenhält, das Oberverwal-
tungsgericht habe es versäumt, sich mit deren Glaubwürdigkeit auseinanderzu-
setzen, ist nicht erkennbar, weshalb sich dem Oberverwaltungsgericht eine Par-
teilichkeit der Amtstierärztin hätte aufdrängen müssen. Allein die geltend ge-
machten Umstände, dass die Amtstierärztin im Dienste des Beklagten steht und
bereits im Verwaltungsverfahren beteiligt war, tragen eine solche Folgerung
nicht. Im Übrigen zeigt die Klägerin Mängel der sachverständigen Äußerung der
Amtstierärztin, die sich dem Oberverwaltungsgericht hätten aufdrängen müs-
sen, nicht näher auf. Folglich ist es nicht zu beanstanden, dass das Oberver-
waltungsgericht den Beweisantrag aufgrund eigener Sachkunde bezüglich des
von ihm erfassten Beweisthemas abgelehnt hat.
c) Soweit das Oberverwaltungsgericht den Beweisantrag im Übrigen auch mit
der Begründung abgelehnt hat, die unter Beweis gestellten Tatsachen seien
nicht erheblich, ist diese Begründung zwar nicht tragfähig. Wäre eine Stachel-
drahteinzäunung für Pferde der Rassen Tinker und Friese unbedenklich, so wä-
re die auf alle Pferde bezogene Anordnung insoweit rechtswidrig. Im Ergebnis
gilt nichts anderes für die unter Beweis gestellte Art der Einzäunung mit Sta-
cheldraht. Allein der Umstand, dass die Klägerin ihre Weiden teilweise auch mit
einer Kombination von Knotengitter und Stacheldraht eingezäunt hat, ändert
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nichts daran, dass die unter Beweis gestellte Art der Einzäunung von der auf
jede Stacheldrahteinzäunung bezogenen tierschutzrechtlichen Anordnung er-
fasst wird. Im Lichte der die Ablehnung des Beweisantrags in erster Linie tra-
genden Begründung kommt es hierauf jedoch nicht weiter an.
2. Sofern die Klägerin mit ihrem Vortrag, die Argumentation des Oberverwal-
tungsgerichts sei widersprüchlich, ein Innenzaun - in Form einer stromführen-
den Litze - mache keinen Sinn, einen Verfahrensfehler geltend machen möchte,
ist dieser weder hinreichend bezeichnet (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) noch ge-
geben. Zwar ist der Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO
verletzt, wenn ein Verstoß gegen die Denkgesetze gegeben ist. Dass ein gut
sichtbarer Innenzaun - etwa in Form einer breiten weißen, stromführenden Lit-
ze - gegenüber schlechter wahrnehmbarem Stacheldraht die Verletzungsgefahr
der Pferde mindert, liegt aber auf der Hand. Aus dem gleichen Grund kann
auch das Vorbringen, dass es bei der Klägerin in der Vergangenheit nicht zu
Verletzungen ihrer Pferde durch Stacheldraht gekommen sei, die Überzeu-
gungsbildung des Gerichts nicht fehlerhaft erscheinen lassen.
3. Schließlich ist auch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß
§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht in der erforderlichen Weise (§ 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO) dargetan.
Mit der Frage:
„Stellen die ‚Leitlinien zur Beurteilung von Pferdehaltungen unter Tier-
schutzgesichtspunkten’ des Bundesministeriums für Ernährung, Land-
wirtschaft und Verbraucherschutz sowie die ‚Empfehlungen zur Freiland-
haltung von Pferden’ des niedersächsischen Ministeriums für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten, der Bezirksregierung Weser-Ems und des
Tierschutzdienstes Niedersachsen Sachverständigenäußerungen dar,
auf deren Grundlage in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren ohne
weitere Beweisaufnahme tatsächliche Verhältnisse im Rahmen einer
Pferdehaltung als tierschutzwidrig oder tierschutzgerecht gewürdigt wer-
den dürfen?“,
ist bereits keine konkrete Rechtsfrage herausgearbeitet, die sich in allgemein-
verbindlicher Weise klären ließe. Ob und inwieweit es sich bei den Leitlinien
und Empfehlungen der Sache nach um Sachverständigenäußerungen handelt
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und diese in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren ausreichende Grundla-
ge für die richterliche Überzeugung sein können, ist primär eine Frage tatrich-
terlicher Bewertung und richtet sich nach den jeweiligen Umständen des Einzel-
falls.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestset-
zung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 und 3, § 39 Abs. 1 GKG.
Kley
Dr. Wysk
Rothfuß
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