Urteil des BVerwG vom 02.11.2007

Rechtliches Gehör, Anschlussberufung, Verwaltungsprozess, Landwirtschaft

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 58.07
OVG 3 B 782/05
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. November 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler und Prof. Dr. Rennert
beschlossen:
Das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom
5. März 2007 wird aufgehoben, soweit darin die An-
schlussberufung des Klägers hinsichtlich der Flurstücke
lfd. Nr. ..., ... und ... (... der Gemarkung D.) zurückgewie-
sen worden ist. Die Sache wird insoweit zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung an das Sächsische Ober-
verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerde-ver-
fahren wird auf 25 150,96 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Der Kläger begehrt Fördermittel nach dem „Programm zur Förderung einer
umweltgerechten Landwirtschaft“, Kulturlandschaftsprogramm Teil I (KULAP I),
des beklagten Freistaats für das Förderjahr 1997. Im Förderantrag hat er meh-
rere Flurstücke als Förderfläche benannt, hinsichtlich einiger von ihm gepachte-
ter Flächen jedoch hinzugefügt, dass der Verpächter das Pachtverhältnis fristlos
gekündigt habe und dass über die Berechtigung der Kündigung ein Zivil-
rechtsstreit anhängig sei; die Flächen würden unverändert von ihm bewirtschaf-
tet. Der Beklagte lehnte den Förderantrag ab, weil der Kläger den Nachweis
seiner Nutzungsberechtigung hinsichtlich einiger Flurstücke nicht geführt habe
und deshalb insgesamt keine Förderung beanspruchen könne. Das Verwal-
tungsgericht hat der Klage stattgegeben, soweit der Beklagte die Förderung
auch der nachgewiesenen Flächen abgelehnt hatte, sie im Übrigen aber abge-
wiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung des Beklagten teilweise
stattgegeben; die Anschlussberufung des Klägers hat es zurückgewiesen. Es
hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.
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Mit der Nichtzulassungsbeschwerde greift der Kläger das Berufungsurteil nur
an, soweit seine Anschlussberufung hinsichtlich der Flurstücke lfd. Nr. ..., ... und
... (... der Gemarkung D.) zurückgewiesen worden ist (Seite 5 der Be-
schwerdebegründung). Diese Rechtsmittelbeschränkung ist zulässig, weil der
Streitgegenstand nach Flurstücken teilbar ist.
Die Beschwerde ist begründet; sie führt in dem angegebenen Umfang zur Auf-
hebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das
Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler
(§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), nämlich auf einer Verletzung des Anspruchs des
Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2
VwGO) und auf einer Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 86 Abs. 1
VwGO). Ob das Urteil obendrein auf einer Verletzung des Überzeugungsgrund-
satzes beruht (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), muss offen bleiben; denn darauf
wird die Beschwerde nicht gestützt.
1. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs wird verletzt, wenn ein Ge-
richt tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten, obwohl es für seine Entschei-
dung erheblich ist, nicht zur Kenntnis nimmt oder bei seiner Entscheidung nicht
in Erwägung zieht (stRspr; vgl. Beschluss vom 18. Oktober 2006 - BVerwG 9 B
6.06 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 66 Rn. 24 m.w.N.). Hiernach ist es
auch fehlerhaft, wenn das Gericht tatsächliches Vorbringen zwar zur Kenntnis
nimmt, aber bei seiner Entscheidung aus Gründen unberücksichtigt lässt, die im
Prozessrecht keine Stütze finden. So liegt der Fall hier.
Das Berufungsgericht hat angenommen, der mit der Klage geltend gemachte
Förderanspruch lasse sich nur aus dem rechtlichen Gesichtspunkt einer
Selbstbindung des Beklagten an seine ständige bisherige Förderpraxis herlei-
ten. Es hat den Klaganspruch in dem hier noch streitbefangenen Umfang mit
der Begründung abgewiesen, der Beklagte habe dargetan, dass eine Förderung
im Falle der „Übernutzung“, d.h. der gleichzeitigen Vorlage einander wi-
dersprechender Förderanträge mehrerer Anspruchsteller für dasselbe Flur-
stück, nach seiner ständigen Praxis nur erfolge, wenn die alleinige Nutzungsbe-
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rechtigung und tatsächliche Nutzung durch einen Antragsteller bis zum Bewilli-
gungszeitpunkt des jeweiligen Förderjahres, den es mit dem allgemeinen Aus-
zahlungstermin jeweils am 18. November gleichgesetzt hat, nachgewiesen sei;
ein späterer Nachweis genüge nicht, die Versäumung der Nachweisfrist führe
also zum Anspruchsverlust. Das Bestehen einer derartigen Verwaltungspraxis
konnte das Berufungsgericht nicht schon den einschlägigen Verwaltungsvor-
schriften des Beklagten entnehmen; weder das „Programm zur Förderung einer
umweltgerechten Landwirtschaft in Sachsen“ - Richtlinie für die Förderung von
Maßnahmen der Kulturlandschaft (Kulturlandschaftsprogramm Teil I
- KULAP I) - des Sächsischen Staatsministeriums für Landwirtschaft, Ernährung
und Forsten, in Kraft seit dem 1. Januar 1994, noch die Allgemeinen Ver-
fahrensbestimmungen hierzu (VbUL) oder die Verwaltungsvorschrift zur Kon-
trolle der Einhaltung dieser Richtlinie, die beiden letztgenannten in der Fassung
vom 1. Januar 1997, sehen eine Nachweisfrist und einen Anspruchsverlust bei
nicht fristgerechtem Nachweis vor. Das Berufungsgericht stützt seine Feststel-
lung deshalb allein auf die Darstellungen der Vertreterin des Beklagten in der
mündlichen Verhandlung.
Dabei hat das Berufungsgericht das Vorbringen des Klägers, der die Richtigkeit
der Darstellungen der Vertreterin des Beklagten bestritten hatte, aus Gründen
übergangen, die im Prozessrecht keine Stütze finden. Das Berufungsgericht hat
das Bestreiten des Klägers zwar zur Kenntnis genommen, jedoch unberück-
sichtigt gelassen, weil es lediglich „pauschal“ und „mit Nichtwissen“ erfolgt sei.
Das war nicht prozessordnungsgemäß. Zwar ergibt sich dies entgegen der An-
sicht des Klägers nicht bereits aus § 138 Abs. 4 ZPO, wonach eine Erklärung
mit Nichtwissen nur - aber immerhin - über Tatsachen zulässig ist, die weder
eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung
gewesen sind. § 138 Abs. 4 ZPO findet im Verwaltungsprozess wegen der ge-
richtlichen Amtsermittlungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO keine Anwendung
(Urteil vom 2. August 2001 - BVerwG 7 C 2.01 - Buchholz 428 § 6 VermG
Nr. 45 S. 58; Beschluss vom 6. März 2003 - BVerwG 6 BN 9.02 - GewArch
2003, 262). Dies bedeutet aber nicht, dass das Bestreiten einer gegnerischen
Behauptung „mit Nichtwissen“ im Verwaltungsprozess unbeachtlich oder nur
dann beachtlich wäre, wenn es mit einem Beweisantrag für das Gegenteil ver-
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bunden wird. Gerade wenn tatsächliche Umstände aus dem Bereich des Geg-
ners in Rede stehen, kann ein Beteiligter auch im Verwaltungsprozess verlan-
gen, dass das Gericht seine Entscheidung nicht ohne eigene Überprüfung auf
die Darstellung des gegnerischen Prozessvertreters im Termin stützt. In sol-
chen Fällen ist dem Beteiligten mangels eigener Kenntnis die bestimmte Be-
hauptung des Gegenteils oder ein Beweisantritt für das Gegenteil gar nicht
möglich. Allerdings kann das Gericht verlangen, dass der Kläger sein Bestreiten
substantiiert, also Gründe für seine Zweifel anführt. Das ist hier aber gesche-
hen. Der Kläger hatte dargelegt, dass der Beklagte in seinem eigenen Verwal-
tungsverfahren offenbar anders als nunmehr behauptet verfahren war. Er hatte
als Beleg das Schreiben des Beklagten vom 2. März 1998 vorgelegt, in wel-
chem dieser ihm eine erneute Prüfung seines Förderantrags nach der endgülti-
gen Entscheidung eines Zivilrechtsstreits mit einem Dritten, in welchem über die
Nutzungsberechtigung gestritten wurde, in Aussicht gestellt hatte. Dieses
Schreiben war in Antwort auf eine Anfrage des Klägers ergangen, die zweifels-
frei das laufende Förderjahr 1997 betraf. Angesichts dessen hat der Kläger sein
Bestreiten so weit substantiiert, wie es ihm überhaupt möglich war. Dann aber
durfte das Berufungsgericht sein Vorbringen nicht als unsubstantiiert ansehen
und übergehen.
2. Das Berufungsgericht hat zugleich seine Pflicht verletzt, den entscheidungs-
erheblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 86 Abs. 1 VwGO).
Sind keine Beweisanträge gestellt, so bestimmt das Gericht den Umfang seiner
Aufklärung zwar nach seinem pflichtgemäßen Ermessen. Es überschreitet die
Grenzen dieses Ermessens jedoch, wenn es eine Ermittlung unterlässt, die sich
nach den Umständen des Falles - auch nach dem Vorbringen der Beteiligten -
aufdrängen musste (stRspr; vgl. Beschluss vom 23. Juli 2003 - BVerwG 8 B
57.03 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 330 m.w.N.). Im vorliegenden Falle
musste sich dem Berufungsgericht aufdrängen, die Darstellung der Prozess-
vertreterin des Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung - auch auf
mögliche Missverständnisse hin - zu überprüfen. Denn es bestanden erhebliche
Zweifel, ob diese Darstellung zutreffend war und ob das Gericht sie richtig ver-
standen hatte.
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Das Berufungsgericht hat der Darlegung der Prozessvertreterin des Beklagten
die Behauptung einer Verwaltungspraxis entnommen, derzufolge einem An-
tragsteller eine bestimmte Nachweisfrist gesetzt sei, verbunden mit einem An-
spruchsverlust bei Fristversäumnis, also einer sog. materiellen Präklusion. Die-
ses Verständnis begegnet jedoch Bedenken, schon weil eine derart einschnei-
dende Wirkung der Versäumung einer Verfahrensfrist - zumal aus Gründen, auf
die der Antragsteller wie hier keinen Einfluss hat - kaum zu rechtfertigen sein
dürfte. Näher hätte gelegen, der Darlegung der Beklagtenvertreterin lediglich zu
entnehmen, dass bei Nichtvorlage der geforderten Nachweise bis zu dem vor-
gesehenen Entscheidungstermin nicht weiter zugewartet, sondern der Antrag
abgelehnt werde, dass aber ein nachträglicher Nachweis in einem Rechtsbe-
helfsverfahren unbenommen sei, also eine sog. formelle Präklusion. Das Beru-
fungsgericht hätte deshalb nur nach sorgsamer Prüfung annehmen dürfen,
dass der Beklagte in seiner Verwaltungspraxis von der Geltung einer materiel-
len Präklusion ausgeht.
Zweifel hieran mussten sich dem Berufungsgericht umso mehr aufdrängen, als
der Beklagte jedenfalls im Verwaltungsverfahren des Klägers selbst keine ma-
terielle Präklusion behauptet hatte. Wie erwähnt, war der Beklagte vielmehr im
Schreiben vom 2. März 1998 von der Möglichkeit einer nachträglichen Bewilli-
gung bei nachträglichem Nachweis ausgegangen. Auch in seinem Wider-
spruchsbescheid vom 16. November 1999 hatte er nicht darauf abgestellt, dass
der Kläger seine Nutzungsberechtigung hinsichtlich der hier in Rede stehenden
Grundstücke nicht fristgerecht nachgewiesen habe; das blieb vielmehr offen.
Schließlich und vor allem mussten sich Zweifel vor allem deshalb aufdrängen,
weil sich für eine materielle Präklusion keinerlei Stütze in den einschlägigen
Verwaltungsvorschriften findet.
3. Das angefochtene Urteil beruht in dem hier noch umstrittenen Teil auf dem
Verfahrensfehler. Hätte sich die behauptete Verwaltungspraxis nicht erweisen
lassen, so kam ein Erfolg der Anschlussberufung in Betracht. Dies liegt schon
deshalb nahe, weil der Beklagte dem Kläger für die hier in Rede stehenden
Flurstücke im nachfolgenden Förderjahr die erneut begehrte Förderung bewilligt
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hat, nachdem dieser seinen Zivilrechtsstreit mit dem Verpächter zwischen-
zeitlich gewonnen hatte.
Die Kostenentscheidung ist der Schlussentscheidung vorzubehalten. Die Fest-
setzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG und
geht von einer Antragsfläche von 86,3 ha (Berufungsurteil S. 14 oben) und ei-
nem Fördersatz von 570 DM aus.
Kley
Liebler
Prof. Dr. Rennert
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Sachgebiet:
BVerwGE
nein
Verwaltungsprozessrecht
Fachpresse ja
Rechtsquellen:
VwGO § 86 Abs. 1, § 108 Abs. 2
Stichworte:
Rechtliches Gehör; Bestreiten mit Nichtwissen; Amtsermittlungspflicht; materiel-
le Präklusion.
Leitsatz:
Behauptet die Behörde eine dem Prozessgegner nachteilige Verwaltungspraxis,
die nicht Gegenstand dessen eigener Wahrnehmung gewesen ist, darf das
Verwaltungsgericht diese Behauptung jedenfalls dann nicht ungeprüft zur
Grundlage seiner Entscheidung machen, wenn der Prozessgegner die Verwal-
tungspraxis anzweifelt und dafür nachvollziehbare Gründe benennt.
Beschluss des 3. Senats vom 2. November 2007 - BVerwG 3 B 58.07
I. VG Dresden vom 04.09.2003 - Az.: VG 1 K 3761/99 -
II. OVG Bautzen vom 05.03.2007 - Az.: OVG 3 B 782/05 -