Urteil des BVerwG vom 02.11.2011

Rücknahme der Klage, Begründung des Urteils, Abweisung, Bindungswirkung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 54.11
VG 3 K 96/10
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. November 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wysk und die Richterin am
Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann
beschlossen:
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Ver-
waltungsgerichts Chemnitz vom 11. März 2011 dahin ge-
ändert, dass die Klage als unzulässig abgewiesen wird.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden gegen-
einander aufgehoben.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Be-
schwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Der Kläger ist politisch Verfolgter nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz.
Er begehrt, den Beklagten zu verpflichten, ihm für die festgestellte Verfolgungs-
zeit die Zugehörigkeit zum Zusatzversorgungssystem der Technischen Intelli-
genz der DDR zu bescheinigen und seine damalige Tätigkeit in die Quali-
fikationsgruppe 1 der Anlage 13 zum Sozialgesetzbuch VI einzugruppieren.
Den im Jahre 2009 erhobenen Widerspruch gegen den Rehabilitierungs-
bescheid des Sächsischen Landesamtes für Familie und Soziales vom
23. November 2000 wies die Rehabilitierungsbehörde wegen Ablaufs der
Widerspruchsfrist als unzulässig zurück. Die Klage hat das Verwaltungsgericht
als zulässig, aber unbegründet abgewiesen und ausgeführt, zum einen sei der
Widerspruch zu Recht als verspätet behandelt worden und Wiedereinsetzung
nicht möglich; zum anderen sei die Zugehörigkeit des Klägers zum Zusatzver-
sorgungssystem bereits im angefochtenen Bescheid bestätigt worden. Der
Qualifikationsgruppe 1 könne der Kläger nicht zugeordnet werden, weil die von
ihm besuchte Ingenieurschule keine Hochschule oder Fachhochschule ge-
wesen sei.
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1. Der Kläger rügt zu Recht einen Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2
Nr. 3 VwGO, auf dem das angegriffene Urteil beruht.
a) Dieser Verfahrensmangel liegt allerdings nicht darin begründet, dass das
Verwaltungsgericht - wie der Kläger meint - mit der Entscheidung in der Sache
über sein Klagebegehren hinausgegangen wäre und damit § 88 VwGO verletzt
hätte. Anders als mit der Beschwerde geltend gemacht wird, ergab sich aus
dem Klagevorbringen keineswegs, dass der Kläger sich nur gegen die Zurück-
weisung des Widerspruchs als unzulässig wenden und dies zum alleinigen Ge-
genstand seiner Klage machen wollte. Vielmehr verdeutlichen sämtliche
Schriftsätze, dass es ihm um eine Korrektur der durch die Verwaltung ge-
troffenen Sachentscheidung durch das Gericht ging. Dagegen spricht auch
nicht der Schriftsatz vom 24. Januar 2011 (Bl. 149 der VG-Akte). Der dort im
Anschluss an ausführlichen Sachvortrag gegebene Hinweis des seinerzeit nicht
anwaltlich vertretenen Klägers,
„nach geltender juristischer Rechtsauffassung wird derzeit
gestritten, ob die Klageerhebung gegen den Wider-
spruchsbescheid vom 8. Jan. 2010 auf meinen Wider-
spruch vom 29. Okt. 2009, zulässig ist"
konnte vor dem Hintergrund der ablehnenden Entscheidungen des Ver-
waltungsgerichts über den Prozesskostenhilfeantrag und die Anhörungsrüge
nur dahin verstanden werden, dass der Erfolg des Begehrens von der vorrangig
zu klärenden Frage der Zulässigkeit der Klage abhängig war, nicht aber als eine
Beschränkung des Klagegegenstandes. Eine solche Beschränkung ergab sich
auch nicht daraus, dass der Kläger seinen Schriftsatz damit schließt, er werde
sich bei Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens zur Rücknahme der Kla-
ge bereit erklären; denn dabei handelt es sich um ein Vergleichsangebot und
nicht um eine Korrektur des anhängigen Begehrens.
b) Ungeachtet dessen beanstandet der Kläger im Ergebnis zu Recht als ver-
fahrensfehlerhaft, dass das Verwaltungsgericht in der Sache entschieden hat;
denn es hätte nur zur Zulässigkeit des Widerspruchs Stellung nehmen und die
- mit dem Klageantrag verbundenen - materiellen Rechtsfragen zur Ein-
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beziehung des Klägers in das Zusatzversorgungssystem der DDR und zur
richtigen Qualifikationsgruppe unentschieden lassen müssen. In den Aus-
führungen zur Begründetheit liegt für den Kläger eine Beschwer.
aa) Verfahrensfehlerhaft ist zunächst, dass das Verwaltungsgericht die Klage
als „zulässig, aber unbegründet“ abgewiesen hat und zur Begründung unter
anderem auf einen Umstand abgestellt hat, der zur Abweisung als unzulässig
hätte führen müssen. Ein solches Prozessurteil war wegen der vom Ver-
waltungsgericht bejahten Versäumung der Frist für die Einlegung des Wider-
spruchs (§ 70 VwGO) geboten. Die Einhaltung der Widerspruchsfrist ist hier
Sachurteilsvoraussetzung. Wird die Frist versäumt, so ist die nach Zurück-
weisung des Widerspruchs als unzulässig erhobene Klage gegen den
Ausgangsbescheid unzulässig; dem Gericht ist eine Sachentscheidung
verwehrt (vgl. Rennert, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl., § 70 Rn. 7 m.w.N.).
Hiergegen hat das Verwaltungsgericht - ausgehend von seiner
Rechtsauffassung - mit der Abweisung der Klage durch Sachurteil objektiv
verstoßen. Dass seine Feststellung, die Klage sei unbegründet, nicht in der
Urteilsformel, sondern in den Entscheidungsgründen enthalten ist, ändert daran
nichts. Besonders bei klageabweisenden Urteilen sind die weiteren Elemente
des Urteils heranzuziehen, um den Umfang der Rechtskraft durch Auslegung zu
bestimmen (vgl. Rennert, a.a.O. § 121 Rn. 22 m.w.N.).
bb) Verfahrensfehlerhaft ist in der Konsequenz auch die vom Kläger be-
anstandete sachlich-rechtliche Überprüfung des Klagebegehrens. Wegen der
Verschiedenheit der Rechtskraftwirkung einer Prozess- und einer Sach-
abweisung darf eine Klage grundsätzlich nicht zugleich aus prozessrechtlichen
und aus sachlich-rechtlichen Gründen abgewiesen werden (Urteil vom 12. Juli
2000 - BVerwG 7 C 3.00 - BVerwGE 111, 306 <312> = Buchholz 310 § 43
VwGO Nr. 133; ebenso BGH, Urteile vom 10. Dezember 1953 - IV ZR 48/53 -
BGHZ 11, 222 <223 f.> und vom 27. November 1957 - IV ZR 121/57 - NJW
1958, 384). Jedoch können auch in einem solchen Fall die sachlich-rechtlichen
Ausführungen zur Begründetheit eine Bindungswirkung entfalten, die in nach-
folgenden Verfahren zu beachten ist, was die Beschwerde zu Recht als
potenzielle Beschwer betrachtet. Die Bindungswirkung greift auch, wenn das
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Gericht - wie hier - eine Doppelbegründung offensichtlich in rechtsirriger Zu-
ordnung der prozessrechtlichen Gründe zum materiellen Recht vornimmt; denn
unzweifelhaft erwächst eine Sachabweisung in Rechtskraft, wenn das Gericht
Zulässigkeitsvoraussetzungen übersehen hat, die Zulässigkeit offen lässt oder
sie grob fehlerhaft bejaht (BGH, Urteil vom 16. Januar 2008 - XII ZR 216/05 -
NJW 2008, 1227 Rn. 9, 17). Eine Auslegung des Urteils dahin, die Aus-
führungen zur Sache seien lediglich nicht entscheidungstragende ergänzende
Hinweise an die Beteiligten, die nicht geeignet sind, an der Rechtskraft des
Urteils teilzunehmen und bei der Bestimmung des maßgeblichen Urteilsinhalts
als nicht geschrieben zu behandeln sind (vgl. Urteil vom 12. Juli 2000 a.a.O.
m.w.N.), kommt hier nicht in Betracht. Die Abweisung als unbegründet und die
Art der Aneinanderreihung der Gründe zeigen klar, dass sie als selbstständig
tragend gemeint sind.
2. Der Senat nimmt den Verfahrensfehler zum Anlass, das Urteil in ent-
sprechender Anwendung des § 133 Abs. 6 VwGO in ein Prozessurteil umzu-
wandeln. Da die Begründung des Urteils einer rechtlichen Prüfung nicht
standhält, die Klage im Ergebnis aber zu Recht abgewiesen worden ist, käme
nach § 144 Abs. 4 VwGO in einem Revisionsverfahren die Aufhebung des
angegriffenen Urteils nicht in Betracht. Das schließt es auch im
Beschwerdeverfahren aus, eine solche Aufhebung anzuordnen. Vielmehr ist
§ 133 Abs. 6 VwGO zur gebotenen Korrektur des Urteils heranzuziehen; denn
es entspricht gefestigter Rechtsprechung, dass das Bundesverwaltungsgericht
in unmittelbarer oder entsprechender Anwendung des § 133 Abs. 6 VwGO
ermächtigt ist, ein prozessrechtlich zwingendes Verfahrensergebnis im
Interesse der Verfahrensökonomie im Beschwerdeverfahren selbst herzustellen
(vgl. Beschlüsse vom 2. April 1996 - BVerwG 7 B 48.96 - Buchholz 310 § 133
VwGO Nr. 22, vom 19. November 1997 - BVerwG 7 B 265.97 - a.a.O.
Nr. 28, vom 7. Oktober 1998 - BVerwG 3 B 68.97 - a.a.O. Nr. 33, vom 13. März
2002 - BVerwG 3 B 19.02 - a.a.O. Nr. 65 und vom 26. März 2004 - BVerwG 1 B
79.03 - a.a.O. Nr. 71).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO. Für das
Klageverfahren bleibt es bei der Kostenentscheidung des angefochtenen Ur-
teils. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3
i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.
Kley
Dr. Wysk
Dr. Kuhlmann
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Recht zur Bereinigung von SED-Unrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
BerRehaG
§ 7 ff.
VwGO
§ 70, § 133 Abs. 6
Stichworte:
Berufliche Rehabilitierung; Widerspruch; Versäumung der Widerspruchsfrist;
Unzulässigkeit der Klage; Abweisung der Klage als unbegründet; Prozessurteil;
Sachurteil; prozessrechtliche Erwägungen; sachlich-rechtliche Erwägungen;
Nichtzulassung der Revision; Beschwerdeverfahren; Änderung des Urteils im
Beschwerdeverfahren.
Leitsatz:
Hat das Verwaltungsgericht eine unzulässige Klage durch Sachurteil als un-
begründet abgewiesen und dies zugleich auf prozessrechtliche und sachlich-
rechtliche Gründe gestützt, kann im Verfahren über die Beschwerde gegen die
Nichtzulassung der Revision das vorinstanzliche Urteil durch Beschluss nach
§ 133 Abs. 6 VwGO in ein Prozessurteil umgewandelt werden.
Beschluss des 3. Senats vom 2. November 2011 - BVerwG 3 B 54.11
I. VG Chemnitz vom 11.03.2011 - Az.: VG 3 K 96/10 -