Urteil des BVerwG vom 27.05.2015

Neue Tatsache, Neues Beweismittel, Rechtskräftiges Urteil, Widerruf

BVerwGE: nein
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Recht der Anlegung von Schienenwegen und des
Eisenbahnkreuzungsrechts
Rechtsquelle/n:
VwGO § 108 Abs. 2, § 132 Abs. 2 Nr. 1 bis 3, § 133 Abs. 3
Satz 3
VwVfG § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und Nr. 5, § 51, § 72 Abs. 1,
§ 75 Abs. 2
Titelzeile:
Erfolgloses Begehren auf Widerruf bestandskräftiger
Planfeststellungsbeschlüsse
Stichworte:
Projekt Stuttgart 21; Planfeststellungsbeschluss; bestandskräftiger
Planfeststellungsbeschluss; Aufhebung eines bestandskräftigen
Planfeststellungsbeschlusses; Aufhebungsantrag; Planfeststellungsabschnitt;
Widerruf eines Planfeststellungsbeschlusses; Widerrufsgrund;
Widerrufsanspruch; nachträglich eingetretene Tatsachen; neue Tatsachen; neues
Beweismittel; wissenschaftliche Erkenntnisse; nachträgliche Schutzauflagen;
erhöhte Bestandskraft; schwere Nachteile für das Gemeinwohl; Schutz von
Allgemeininteressen; Beeinträchtigung des Eigentums; Leben und Gesundheit;
Antrag im Verwaltungsverfahren; Antrag im Verwaltungsverfahren als
Klagevoraussetzung.
Leitsatz:
Der Widerruf eines Planfeststellungsbeschlusses nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5
VwVfG kommt grundsätzlich nicht schon dann in Betracht, wenn Einzelne in ihren
Eigentumsrechten betroffen sind.
Beschluss des 3. Senats vom 27. Mai 2015 - BVerwG 3 B 5.15
I. VGH Mannheim vom 3. Juli 2014
Az: VGH 5 S 2429/12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 5.15
VGH 5 S 2429/12
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Mai 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wysk und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs
Baden-Württemberg vom 3. Juli 2014 wird zurückgewie-
sen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens
einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigela-
denen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 30 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Aufhebung zweier Planfeststellungs-
beschlüsse für den Umbau des Bahnknotens Stuttgart "Projekt Stuttgart 21"
(Abschnitt 1.1 - Talquerung mit neuem Hauptbahnhof - und Abschnitt
1.2 - Fildertunnel -). Er ist Miteigentümer eines Grundstücks am Übergang der
beiden bestandskräftig planfestgestellten Planfeststellungsabschnitte, das für
das Vorhaben in Anspruch genommen wird. Das auf dem Grundstück stehende
Wohngebäude ist nach einer vorzeitigen Besitzeinweisung der Beigeladenen
bereits abgerissen worden. Gegen den Planfeststellungsbeschluss für den Ab-
schnitt 1.1 hatte der Kläger erfolglos Klage erhoben; den Planfeststellungsbe-
schluss für den Abschnitt 1.2 hatte er nicht angefochten. Seine nunmehr erho-
bene Klage mit dem Antrag, die Beklagte zu verpflichten, die beiden Planfest-
stellungsbeschlüsse aufzuheben, hat der Verwaltungsgerichtshof einschließlich
damit verbundener Hilfsanträge abgewiesen.
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem
Urteil bleibt ohne Erfolg. Es ist weder die gerügte Abweichung von der Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2
VwGO erkennbar (1.) noch weist die Rechtssache die geltend gemachte grund-
sätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auf (2.). Schließ-
lich sind auch die nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügten Verfahrensmängel
nicht erkennbar (3.).
1. Der Kläger sieht die gerügte Abweichung darin, dass der Verwaltungsge-
richtshof seinen Verpflichtungsantrag hinsichtlich des Planfeststellungsbe-
schlusses für den Abschnitt 1.2 als unzulässig abgewiesen habe, weil ihm kein
an die Verwaltungsbehörde gerichteter Antrag vorausgegangen sei, während
das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 4. August 1993 - 11 C 15.92 -
(NVwZ 1995, 76) entschieden habe, dass der Grundsatz von der Notwendigkeit
eines vor Einleitung des Gerichtsverfahrens bei der Behörde zu stellenden Vor-
nahmeantrages nicht ausnahmslos gelte.
Die vermeintliche Abweichung existiert nicht. Die Beigeladene weist zu Recht
darauf hin, dass der Verwaltungsgerichtshof ausdrücklich ausgeführt habe,
dass der Zwang, vor der Verpflichtungsklage einen entsprechenden Antrag im
Verwaltungsverfahren zu stellen, "grundsätzlich" gelte, also nach dem üblichen
juristischen Sprachgebrauch gerade nicht ausnahmslos ist. Dies deckt sich aber
mit dem Rechtssatz, der dem vom Kläger herangezogenen Urteil des Bundes-
verwaltungsgerichts vom 4. August 1993 - 11 C 15.92 - zugrunde liegt; denn
dort wird dargelegt, dass eine Ausnahme von der von einzelnen Senaten des
Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten Regel, nach der ein vor Klageerhe-
bung an die Behörde zu stellender Antrag Klagevoraussetzung sei, jedenfalls in
dem dortigen Zusammenhang - ein Folgeantrag auf Ausbildungsförderung,
nachdem die Behörde mit der streitigen Frage bereits bei dem Erstantrag be-
fasst war - gerechtfertigt sei. Ob der Regelannahme der anderen Senate zu
folgen sei, lässt das Urteil ausdrücklich offen, stellt also keinen gegenteiligen
Rechtssatz auf.
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2. a) Die an diesen Sachverhalt hilfsweise anknüpfende Grundsatzrüge des
Klägers, mit der er geklärt wissen will,
ob und unter welchen Voraussetzungen ein vorgehender
Antrag an die zuständige Behörde als ungeschriebene
Klage-, Statthaftigkeits- oder Zulässigkeitsvoraussetzung
für die Erhebung einer Verpflichtungsklage allgemein ent-
behrlich sein kann und/oder insbesondere durch die Gel-
tendmachung im Klageverfahren - vornehmlich in der Kla-
gebegründung - (ggf. gleichsam mit heilender Wirkung)
nachgeholt werden kann,
rechtfertigt ebenfalls nicht die Zulassung der Revision. Dass ein solcher Antrag
grundsätzlich vor Klageerhebung gestellt werden muss, ergibt sich aus der bis-
herigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und ist auch Aus-
gangspunkt der Fragestellung des Klägers. Insoweit ergibt sich auch kein weite-
rer Klärungsbedarf deswegen, weil im Urteil vom 4. August 1993 - 11 C 15.92 -
offengelassen wird, ob diesem Grundsatz gefolgt werden könne; denn Gründe
dafür, diesen Grundsatz aufzugeben, sind weder in jener Entscheidung noch in
den Ausführungen des Klägers dargetan worden. Soweit es darum geht, ob und
unter welchen Voraussetzungen von diesem Grundsatz abgewichen werden
kann, hängt die Beantwortung der Frage von den Umständen des Einzelfalls
und den jeweils maßgeblichen Rechtsnormen des betreffenden Sachgebiets
ab. Der durch den Verwaltungsgerichtshof entschiedene Sachverhalt und das
Beschwerdevorbringen des Klägers bieten jedenfalls keine hinreichenden An-
satzpunkte für eine allgemeingültige Formulierung von Voraussetzungen, unter
denen in solchen Konstellationen Ausnahmen zugelassen werden können. Al-
lein die vom Kläger betonte Tatsache, dass die Behörde seinen den Planfest-
stellungsbeschluss für den Teilabschnitt 1.1 betreffenden Aufhebungsantrag
nicht beschieden hat, reicht für sich gesehen nicht dazu aus, das Absehen von
einem vorherigen Antrag hinsichtlich eines weiteren Teilabschnitts zu rechtferti-
gen; erst recht lässt sich dies nicht dahin generalisieren, dass eine solche den
Teilabschnitt eines Vorhabens betreffende Untätigkeit der Behörde es grund-
sätzlich erlaubt, den Kläger auch bei der gerichtlichen Verfolgung gleichgerich-
teter Begehren hinsichtlich weiterer Planfeststellungsabschnitte von einer vor-
herigen Antragstellung im Verwaltungsverfahren freizustellen. Auch dies hängt
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vielmehr von den jeweiligen Umständen ab und ist einer über den Fall hinaus-
weisenden Klärung nicht zugänglich.
Auch die weiteren vom Kläger als klärungsbedürftig bezeichneten Fragen füh-
ren nicht zur Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO:
b) Die Frage,
ob der Widerruf eines Verwaltungsakts (hier: Planfeststel-
lungsbeschlusses) nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG,
dessen Rechtmäßigkeit durch ein rechtskräftiges Urteil
bindend feststeht, im nachfolgenden Prozess um einen
Anspruch auf Aufhebung nur neu eingetretene Tatsachen
im Sinne des Tatbestands der Widerrufsvorschrift voraus-
setzt oder (zusätzlich) einen "- von der Rechtskraft nicht
erfassten - neuen Sachverhalt",
ist schon deswegen nicht klärungsbedürftig, weil sie an den Ausführungen des
angegriffenen Urteils vorbeigeht. Der Verwaltungsgerichtshof lässt diese Frage
ausdrücklich offen, weil er der Auffassung ist, dass es im vorliegenden Fall be-
reits an nachträglich eingetretenen Tatsachen fehle. Soweit der Kläger geltend
macht, dass der Verwaltungsgerichtshof ungeachtet dessen dennoch darauf
abstelle, ob die betreffenden Tatsachen von der Rechtskraft des vorausgegan-
genen Urteils erfasst würden, unterliegt er einem Missverständnis. Der Verwal-
tungsgerichtshof bejaht nicht das Vorliegen neuer Tatsachen, um diese Aussa-
ge anschließend dadurch zu beschränken, dass diese Tatsachen - obwohl sie
nachträglich eingetreten seien - von der Rechtskraft des Urteils erfasst und da-
her nicht als solche im Sinne des § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG aufzufassen
seien. Vielmehr verneint er die Neuheit der Tatsachen, weil sie Gegenstand des
vorausgegangenen Gerichtsverfahrens gewesen seien und ihrer Berücksichti-
gung deshalb die Rechtskraft des Urteils entgegenstehe.
c) Die weitere Frage,
ob es eine neue Tatsache im Sinne des § 49 Abs. 2
Satz 1 Nr. 3 VwVfG darstellt, wenn sich ergibt, dass eine
aus mehreren sukzessiv ergehenden Teilgenehmigungen
bestehende Vollgenehmigung für ein teilweise genehmig-
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tes, insoweit aber nicht funktionsfähiges Vorhaben nicht
erteilt werden kann, weil feststeht, dass spätere, für die
Funktionsfähigkeit des Vorhabens erforderliche Teilge-
nehmigungen nicht erteilt werden dürfen, auch wenn die
früher ergangenen Teilgenehmigungen rechtskräftig be-
stätigt worden sind und bei isolierter Betrachtung ohne
Rücksicht auf die fehlende Gesamtgenehmigungsfähigkeit
weder zurückgenommen (§ 48 VwVfG) noch - etwa man-
gels neuer Tatsachen - widerrufen (§ 49 VwVfG) werden
könnten,
geht ebenfalls an den Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofs vorbei. Das
Gericht hat gerade nicht festgestellt, dass weitere für die Funktionsfähigkeit des
Vorhabens erforderliche Teilgenehmigungen nicht erteilt werden dürften, es hat
sich im Gegenteil auf den Standpunkt gestellt, dass - obwohl die Planfeststel-
lungsunterlagen zum Abschnitt 1.3 in der vorgelegten Form nach einem Schrei-
ben des Eisenbahn-Bundesamtes nicht genehmigungsfähig seien - dies nicht
bedeute, dass der Plan insoweit nicht endgültig festgestellt werden könne und
dass der Verwirklichung des Gesamtprojekts daher bislang keine unüberwindli-
chen Hindernisse entgegenstünden.
d) Die daran anschließende Frage,
ob neue Tatsachen im Sinne von § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3
VwVfG nicht auch dann vorliegen (können), wenn - wie in
der zitierten Literatur vertreten wird - die Fakten eine
rechtliche Bewertung im Rahmen eines gesetzlichen Tat-
bestandsmerkmals erfordern,
stellt sich nach den Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofs nicht und ver-
leiht der Rechtssache daher keine grundsätzliche Bedeutung. Der Verwal-
tungsgerichtshof steht zu Recht auf dem Standpunkt, dass seine das Urteil tra-
gende Rechtsansicht der in der vermeintlichen Grundsatzfrage wiedergegebe-
nen Rechtsauffassung nicht entgegensteht. Zutreffend verweist er darauf, dass
diese Rechtsauffassung auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom
14. Oktober 1998 - 1 B 67.95 - (NVwZ-RR 2000, 431) zurückzuführen ist (vgl.
das Zitat bei Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 49 Rn. 60
Fn. 184, sowie bei Gayer, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, 2010, § 49 Rn. 44)
und keineswegs eine Änderung der rechtlichen Bewertung bei gleichbleibender
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Tatsachenlage im Auge hat, sondern eine geänderte Tatsachenlage, die eine
neue Bewertung erfordert. Eine solche geänderte Tatsachenlage hat der Ver-
waltungsgerichtshof gerade verneint.
e) Auch die weitere Frage,
unter welchen Voraussetzungen neue wissenschaftliche
oder wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse, Gutachten
oder sachverständige Stellungnahmen "neuen Tatsachen"
im Sinne von § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG gleichstehen
bzw. als neue Tatsache zu behandeln sind,
wobei nach Auffassung des Klägers auch zu klären ist,
ob insoweit die Auslegung von § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3
VwVfG in Bezug auf Planfeststellungsbeschlüsse ande-
ren, engeren Vorgaben unterliegt,
verleiht der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Der Verwaltungsgerichtshof hat die vom Kläger angeführten Stellungnahmen
des Herrn Dr. E. als ein neues Beweismittel eingeordnet, mit dem der Kläger
die bisherigen Gutachten zu entkräften versuche. Es handele sich nicht um
neue Tatsachen im Sinne des § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG. Dazu genüge
nicht jede neue Erkenntnis eines Wissenschaftlers; vielmehr müsse diese
Grundlage dafür sein, dass eine bestimmte bereits vorhandene Tatsache all-
gemein anders bewertet werde; denn eine neue wissenschaftliche Erkenntnis,
die geeignet sei, einen Widerruf nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG zu be-
gründen, sei abzugrenzen von der bloßen anderen Bewertung einer unverän-
derten Tatsache.
Der Verwaltungsgerichtshof gibt insoweit die von ihm zitierte Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Beschluss vom 16. Juli 1982 - 7 B
190.81 - Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 80; Urteil vom 16. März
2006 - 4 A 1075.04 - BVerwGE 125, 116 Rn. 308) zutreffend wieder, so dass
sich nicht ohne Weiteres erschließt, woraus sich ein weiterer Klärungsbedarf
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ergeben soll. Das gilt auch, soweit der Kläger es für notwendig hält, sich mit der
Anwendbarkeit dieser Grundsätze im Planfeststellungsrecht auseinanderzuset-
zen. Abgesehen davon, dass kein Grund dafür ersichtlich ist, warum die Frage,
wann wissenschaftliche Erkenntnisse als "neue Tatsachen" anzusehen sind, im
Planfeststellungsrecht anders als sonst zu beantworten sein soll, ergibt sich aus
dem das Planfeststellungsrecht betreffenden Urteil vom 16. März 2006 - 4 A
1075.04 - (BVerwGE 125, 116 Rn. 308), auf das sich auch der Kläger in seiner
Beschwerdebegründung beruft, dass dies in der bisherigen Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts nicht anders beurteilt wird. Dort wird mit weite-
ren Nachweisen klargestellt, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse in der
Regel erst dann einer Planungs- oder Zulassungsentscheidung zugrunde zu
legen sind, wenn sie allgemeine Anerkennung gefunden haben. Daraus folgt
sogleich, dass eine Einzelmeinung, die sich in der wissenschaftlichen Diskussi-
on bisher nicht durchgesetzt hat, grundsätzlich keine neue Tatsache sein kann,
die einen Widerruf nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG rechtfertigen kann. Die
vom Kläger mit seinem Hinweis auf die vom Bundesverwaltungsgericht ver-
wendeten Worte "in der Regel" indirekt aufgeworfene Frage, ob davon Aus-
nahmen denkbar sind, stellt sich im vorliegenden Fall nicht; denn Umstände für
eine in dieser Hinsicht aus dem Rahmen fallende Situation lassen sich weder
den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs noch den Ausführungen des
Klägers entnehmen.
f) Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergibt sich schließlich auch
nicht im Hinblick auf die Fragen,
unter welchen Voraussetzungen allgemein die Planrecht-
fertigung im Hinblick auf die Sicherung der dem Plan ur-
sprünglich zugrunde liegenden Finanzierung entfällt bzw.
entfallen kann, beispielsweise wenn eine zugrunde lie-
gende verbindliche Finanzierungsvereinbarung zwischen
dem Vorhabenträger und weiteren an der Finanzierung
maßgeblich beteiligten Gebietskörperschaften (wie hier
Bund, Länder, Kommune) nachträglich in Frage gestellt
wird, vornehmlich nichtig ist oder nicht mehr ausreicht
oder sonst feststeht, dass einzelne Mitfinanzierer ganz
oder teilweise ausfallen,
und
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ob es bei später entstehenden Zweifeln an der Finanzie-
rung ausreicht, dass der private Vorhabenträger bzw. der
in staatlichem Eigentum stehende privatisierte Vorhaben-
träger erklärt, er sei ggf. bereit, die Finanzierung notfalls
teils zusätzlich oder ganz selbst zu übernehmen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat darauf hingewiesen, dass Gegenstand des Ver-
fahrens der Widerrufsanspruch des Klägers nach § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3
VwVfG sei und in diesem Rahmen geprüft werden müsse, ob aufgrund neuer
Tatsachen die Gesamtfinanzierung ausgeschlossen sei und demzufolge keine
Planrechtfertigung mehr vorliege. Dies hat er verneint. Die vom Kläger dazu
aufgeworfenen Fragen betreffen die tatsächliche Bewertung der dieser Beurtei-
lung zugrunde liegenden Einzelumstände und sind daher nicht geeignet, der
Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zu verleihen.
g) Die folgenden vier als grundsätzlich bezeichneten Fragen zu § 49 Abs. 2
Satz 1 Nr. 5 VwVfG, mit denen der Kläger sinngemäß grundlegend geklärt wis-
sen will, unter welchen Voraussetzungen ein schwerer Nachteil im Sinne dieser
Vorschrift bei einem Planfeststellungsbeschluss mit enteignender Vorwirkung
vorliegt, wenn der Gemeinwohlgrund der Enteignung oder Eigentumsbeschrän-
kung nachträglich entfällt, und wozu er zahlreiche Einzelfragen formuliert, von
deren Wiedergabe hier abgesehen wird, führen ebenfalls nicht zum Erfolg des
Rechtsbehelfs.
Die Vorschrift des § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 VwVfG stellt mit der Verhütung oder
Beseitigung von schweren Nachteilen für das Gemeinwohl besonders strenge
Anforderungen an den Widerrufsgrund, ist jedoch ansonsten voraussetzungs-
los; insbesondere fordert sie keine Veränderung der Sach- oder Rechtslage und
lässt damit ohne Weiteres die Durchbrechung der Bestandskraft zu. Angesichts
dessen liegt es auf der Hand, dass mit schweren Nachteilen für das Gemein-
wohl zwar nicht ausschließlich Allgemeininteressen, sondern auch individuelle
Träger von Rechtsgütern geschützt sein können (vgl. BVerwG, Urteil vom
21. Mai 1997 - 11 C 1.96 - BVerwGE 105, 6 <15>), deren verletztes Recht aber
einen Rang aufweisen muss, der es zum Gemeinwohlbelang erhebt, und des-
sen Verletzung zudem so gravierend sein muss, dass sie auch und gerade im
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Interesse der Allgemeinheit nicht hingenommen werden oder aufrechterhalten
bleiben kann.
Ausgehend davon drängt es sich auf, dass die Beeinträchtigung des Eigentums
Einzelner durch einen Planfeststellungsbeschluss grundsätzlich nicht die stren-
gen Anforderungen des § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 VwVfG erfüllt. Anders als für
das Leben und die Gesundheit individueller Rechtsträger, die das Bundesver-
waltungsgericht als vom Schutz der Norm erfasst sieht, gibt es - worauf der
Verwaltungsgerichtshof zu Recht hinweist - für verlorenes oder beeinträchtigtes
Eigentum die Möglichkeit der Ersatzbeschaffung. Im Übrigen darf nicht aus den
Augen verloren werden, dass Planfeststellungsbeschlüsse mit enteignenden
Vorwirkungen keineswegs Ausnahmeerscheinungen sind. Vielmehr liegt es in
der Natur der Sache, dass planfeststellungsbedürftige Vorhaben, insbesondere
solche der Verkehrsinfrastruktur, oftmals mit der Inanspruchnahme fremden
Eigentums einhergehen. Gäbe man den Betroffenen in all diesen Fällen mit der
Behauptung der untragbaren Nachteile des bestandskräftig vorentschiedenen
Zugriffs auf ihr Eigentum die Möglichkeit einer erneuten Verfahrenseröffnung,
verlöre die Bestandskraft solcher Entscheidungen weitgehend ihre Bedeutung.
Dies widerspräche der Zielrichtung der einschlägigen Bestimmungen des Ver-
waltungsverfahrensgesetzes, die Planfeststellungsbeschlüssen wegen ihrer
gestalterischen Wirkung eine erhöhte Bestandskraft verleihen und daher einen
Anspruch auf Wiederaufgreifen des Planfeststellungsverfahrens ausschließen
(vgl. § 72 Abs. 1 i.V.m. § 51 VwVfG). Der Widerruf eines Planfeststellungsbe-
schlusses kommt daher, wenn nachträgliche Schutzauflagen nach § 75 Abs. 2
VwVfG nicht ausreichen, um Gefahren für grundrechtlich geschützte Rechtsgü-
ter abzuwehren, nur als ultima ratio in Betracht (BVerwG, Urteil vom 21. Mai
1997 - 11 C 1.96 - BVerwGE 105, 6 <13>; Beschlüsse vom 10. Oktober 2003
- 4 B 83.03 - NVwZ 2004, 97 <98>, vom 16. Dezember 2003 - 4 B 75.03 -
NVwZ 2004, 865 <867> und vom 26. Februar 2004 - 4 B 95.03 - NVwZ 2004,
869; Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 72 Rn. 115)
und jedenfalls grundsätzlich nicht schon dann, wenn Einzelne in ihren Eigen-
tumsrechten betroffen sind. Dies ist offenkundig und bedarf zur Klärung nicht
der Durchführung eines Revisionsverfahrens. Nur insoweit ist es angesichts des
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von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalts notwendig, die in diesem Zu-
sammenhang vom Kläger aufgeworfenen zahlreichen Fragen zu beantworten.
h) Schließlich ergibt sich auch kein grundsätzlicher Klärungsbedarf hinsichtlich
der Fragen,
unter welchen Voraussetzungen durch den ohne Widerruf
eines Planfeststellungsbeschlusses erfolgenden Bau ei-
nes Planungstorsos (nicht funktionsfähiges Vorhaben) ein
schwerer Nachteil für das Gemeinwohl droht,
und
ob die in diesem Falle ohne rechtfertigenden Gemein-
wohlgrund erfolgenden Eingriffe in die im Planfeststel-
lungsbeschluss berücksichtigten öffentlichen und privaten
Belange (Enteignungen, naturschutzrechtliche Eingriffe)
schwere Nachteile darstellen.
Diese Fragen sind schon deswegen nicht zu beantworten, weil sie Tatsachen
voraussetzen, die vom Verwaltungsgerichtshof so nicht festgestellt worden sind.
3. Es gibt auch keine Verfahrensmängel, die zur Zulassung der Revision nach
§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO führen.
a) Der Kläger rügt insoweit im Anschluss an eine seiner Grundsatzrügen zu-
nächst, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht ohne Beweisaufnahme davon
habe ausgehen dürfen, dass die Stellungnahmen des Dr. E. nicht dem allge-
mein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprächen.
Diese Rüge genügt für sich gesehen nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO an die Darlegung eines Verfahrensmangels, weil sie nicht ver-
deutlicht, weshalb es sich dem Gericht aufdrängen musste, dass seine an den
bisher vorliegenden Gutachten orientierte Einschätzung der Stellungnahmen
einer weiteren Fundierung durch die Einholung zusätzlicher Beweismittel be-
durfte. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Kläger diese Rü-
ge darüber hinaus mit dem Einwand verknüpft, die Beweisanträge Nr. 1 bis 14
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hätten nicht übergangen werden dürfen; denn auch insoweit liegt kein Verfah-
rensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vor.
b) Mit seinen Beweisanträgen Nr. 1, 2, 11 und 12 wollte der Kläger nach seinem
Beschwerdevorbringen belegen, dass der der Planung zugrunde gelegte Ver-
kehrsbedarf fehlerhaft bemessen worden sei. Da der Verwaltungsgerichtshof
die mit den Anträgen zu 1 und 2 zu beweisenden Tatsachen nicht als neu be-
wertet hat, waren sie nach der dem Urteil zugrunde liegenden und daher maß-
geblichen Rechtsauffassung nicht entscheidungserheblich, so dass sich das
Unterlassen der Beweisaufnahme nicht als verfahrensfehlerhaft erweist. Dem
Kläger hilft insoweit auch der Vortrag nicht weiter, erst die Beweisaufnahme
hätte ergeben, dass es sich bei den zu belegenden Tatsachen nicht um bloße
Bewertungen bekannter Tatsachen, sondern um neue wissenschaftliche Er-
kenntnisse handele, die der Entscheidung wie neue Tatsachen hätten zugrunde
gelegt werden müssen. Damit seine Anträge mit dieser Zielrichtung noch als
echte Beweisanträge und nicht als bloße Ausforschungsanträge hätten ver-
standen werden können, hätte er zumindest Umstände vortragen müssen, aus
denen sich ergeben hätte, dass die zu gewinnenden Beweisergebnisse nach
den vom Verwaltungsgerichtshof angelegten Maßstäben notwendigerweise
wissenschaftlich allgemein anerkannt und daher als neue Tatsachen hätten
bewertet werden müssen. Dass dies geschehen ist, macht er mit seiner Be-
schwerde nicht geltend.
Die Beweisanträge zu 11 und 12 zielten bereits ihrem Wortlaut nach auf den
tatsächlichen Zugverkehr im Jahre 2011 und daher von vornherein nicht auf
neue Tatsachen, so dass sie schon deswegen vom Verwaltungsgerichtshof mit
dieser Begründung abgelehnt werden durften.
Soweit der Kläger neben den Beweisanträgen zu 1, 2, 11 und 12 generell das
Übergehen der Beweisanträge zu 1 bis 14 beanstandet hat, fehlt seiner Rüge
die nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderliche Substanz.
c) In der Sache nicht berechtigt ist schließlich die Verfahrensrüge, die die Be-
weisanträge zu 18 und 19 betrifft. Mit diesen Anträgen wollte der Kläger durch
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zwei Zeugenaussagen im Wesentlichen die fehlende Bereitschaft und Fähigkeit
der Deutschen Bahn AG und ihres Aufsichtsrates, das Vorhaben angesichts der
Kostensteigerungen zu finanzieren, und deren Absicht belegen, den Bau des
Projekts einzustellen oder zu stoppen, wenn der Finanzierungsvertrag vom
2. April 2009 verfassungswidrig sei, die darin vorgesehenen Finanzierungsbei-
träge des Landes Baden-Württemberg nicht gezahlt werden könnten und ggf.
geleistete Zahlungen zurückgezahlt werden müssten.
Der Verwaltungsgerichtshof hat die Anträge mit der Begründung abgelehnt,
dass die Beweisthemen keine dem Beweis zugänglichen Tatsachen enthielten,
weil sie Hypothesen und künftige Entscheidungen zum Gegenstand hätten, die
darüber hinaus von bestimmten Bedingungen abhingen. Diese Begründung
lässt keinen Verfahrensmangel erkennen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die
Planrechtfertigung nur dann als fehlend angesehen, wenn im Falle der Nichtig-
keit der Finanzierungsvereinbarung zugleich feststünde, dass eine andere Auf-
teilung der Kosten von vornherein ausscheide, so dass nach den Vorstellungen
aller Finanzierungbeteiligten das Projekt nicht zu verwirklichen wäre (vgl. UA
S. 17). Dass diese Voraussetzungen vorliegen, konnte der Verwaltungsge-
richtshof nicht erkennen und stützt sich dabei unter anderem auf den Prozess-
vortrag der Beigeladenen, wonach sie nicht gehindert sei, höhere Kosten zu
tragen.
Zu dieser Einschätzung des künftigen Verhaltens der Beigeladenen sollten die
Zeugen ausweislich des Beweisthemas keine konkreten Tatsachen beitra-
gen - solche werden in den Beweisanträgen nicht benannt -, sondern ihre eige-
ne Einschätzung dazu, wie sich die Deutsche Bahn AG und die Beigeladene
verhalten würden, wenn die beschriebenen Finanzierungsprobleme aufträten.
Solche Mutmaßungen sind keine Tatsachen, die dem Beweis zugänglich sind.
Dazu hätte der Kläger schon bestimmte tatsächliche Umstände in das Wissen
der Zeugen stellen müssen, aus denen sich auf die vermutlichen Absichten der
Deutschen Bahn AG und der Beigeladenen hätte schließen lassen.
Die in diesem Zusammenhang erhobene Gehörsrüge ist ebenso wenig berech-
tigt. Der Verwaltungsgerichtshof hat nicht nur in den Tatbestand seines Urteils
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den Vortrag des Klägers zur entstehenden Finanzierungslücke und der fehlen-
den Bereitschaft der Vorhabenträgerin und des Bundes, für diese Lücke einzu-
stehen, aufgenommen (UA S. 5 oben), er ist auch in den Entscheidungsgrün-
den (UA S. 17 f.) hierauf eingegangen, wenn auch nicht mit dem vom Kläger
erwünschten Ergebnis. Eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtli-
chen Gehörs nach § 108 Abs. 2 VwGO und Art. 103 Abs. 1 GG ergibt sich hie-
raus nicht.
Von einer weiteren Begründung seines Beschlusses sieht der Senat gemäß
§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO ab.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO; die
Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52
Abs. 1 GKG.
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