Urteil des BVerwG vom 23.11.2009

Rechtliches Gehör, Arglistige Täuschung, Rücknahme, DDR

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 32.09
VG 8 K 555/06 Me
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. November 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert und
Dr. Wysk
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beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts
Meiningen vom 26. Februar 2009 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Der Kläger wendet sich gegen die auf § 48 ThürVwVfG gestützte Rücknahme
der ihm erteilten Rehabilitierungsbescheinigung nach dem Beruflichen Rehabili-
tierungsgesetz (BerRehaG), soweit darin festgestellt worden ist, dass Aus-
schließungsgründe nach § 4 BerRehaG nicht vorlägen, und deshalb Leistungen
gewährt worden sind. Das Verwaltungsgericht hat die Rechtmäßigkeit der
Rücknahme bestätigt und die Klage abgewiesen, weil sich der Kläger die Re-
habilitierungsbescheinigung durch Verschweigen seiner Zusammenarbeit mit
dem Arbeitsgebiet 1 der Kriminalpolizei (K 1) verschafft habe und durch den
Verrat des Fluchtplanes eines potenziellen Republikflüchtlings im Jahre 1972
zumindest in einem Fall gegen die Grundsätze der Menschlichkeit im Sinne des
§ 4 BerRehaG verstoßen habe.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem
Urteil des Verwaltungsgerichts bleibt ohne Erfolg. Der Kläger kann sich weder
auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO berufen (1.) noch liegt einer der gerügten Verfahrensmängel nach
§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vor (2.).
1. Die Grundsatzrügen greifen nicht durch. Die beiden aufgeworfenen Fragen:
(a) Liegt ein Verstoß gegen die Grundsätze der Mensch-
lichkeit oder Rechtsstaatlichkeit im Sinne des § 4 Ber-
RehaG vor, wenn der Betroffene eine gegen ihn selbst
gerichtete Straftat bei der Polizei zur Anzeige gebracht
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hat, welche zur Vorbereitung der Republikflucht gedient
haben soll?
(b) Stellt es einen Verstoß gegen die Grundsätze der
Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit dar, wenn der
Hinweis auf eine beabsichtigte Republikflucht auf einer
vom MfS selbst gestreuten Legende beruht?
sind nicht klärungsbedürftig, weil sie sich ohne Weiteres beantworten lassen
oder aber - besonders auch mit den dazu gegebenen Begründungen - Tatsa-
chen einbeziehen, die vom Verwaltungsgericht nicht festgestellt worden sind.
Es liegt auf der Hand, dass es im Sinne der Frage zu (a) nicht gegen die
Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen hat, eine Straftat der in Rede ste-
henden Art, nämlich mit allgemeinem kriminellen Gehalt (hier: Diebstahl bzw.
Unterschlagung) anzuzeigen. Das gilt fraglos auch dann, wenn die angezeigte
Tat der Vorbereitung der Republikflucht des Täters gedient hat. Darauf hat das
Verwaltungsgericht seine Bewertung aber nicht gestützt; es hat tragend her-
ausgestellt, dass der Kläger außer der Diebstahlsanzeige „durch den Verrat
eines Fluchtplanes“ gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen habe
(UA S. 10). Das geht über die in der Frage zu (a) zugrunde gelegten Tatsachen
hinaus, und führt auf den entscheidungserheblichen Kern des Rechtsstreits.
Dieser ist in der vom Verwaltungsgericht angeführten und ausgewerteten
Rechtsprechung des Senats geklärt: Eine freiwillige Spitzeltätigkeit für das Mi-
nisterium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR unter Inkaufnahme einer
Drittschädigung begründet im Regelfall einen Verstoß gegen die Grundsätze
der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit (Beschluss vom 16. Mai 2006
- BVerwG 3 PKH 15.05 - juris, und schon Urteil vom 8. März 2002 - BVerwG
3 C 23.01 - BVerwGE 116, 100 = Buchholz 428.8 § 4 BerRehaG Nr. 1). Die
Frage, ob diese Regelannahme zu Lasten des Klägers berechtigt ist, hängt
demgegenüber von der Würdigung der Umstände des Einzelfalls ab und ist
daher nicht geeignet, der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zu verleihen.
Anlass zu weitergehenden Klärungen zeigt der Kläger auch mit seiner zweiten
Frage nicht auf, mit der er wohl der Sache nach eine generell geltende Aus-
nahme von dem genannten Grundsatz geklärt wissen will. Eine solche Aus-
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nahme kommt auf der Grundlage der in diesem Zusammenhang behaupteten
Tatsachen indes nicht in Betracht. In der Rechtsprechung des Senats wird kein
Nachweis verlangt, dass die Spitzeltätigkeit bestimmte Verfolgungsmaßnahmen
gegenüber Dritten zur Folge hatte; vielmehr reicht es aus, dass die konkreten
Handlungen des Betroffenen geeignet waren, Dritte einer solchen Verfolgung
auszusetzen (Urteil vom 19. Januar 2006 - BVerwG 3 C 11.05 - Buchholz 428.7
§ 16 StrRehaG Nr. 2). Damit ist zugleich für unerheblich erklärt, ob die Spitzel-
tätigkeit im Einzelfall ins Leere geht, etwa weil der Spitzel einer „vom MfS ge-
streuten Legende“ aufsitzt. Die subjektive Fehlvorstellung ändert nichts daran,
dass sich der Informant in das Repressionssystem der DDR verstrickt und des-
halb Informationen weitergegeben hat, die generell und nach seiner Vorstellung
auch im Einzelfall zur Verfolgung führen konnten. Die weiteren Deutungen und
Schlussfolgerungen des Klägers in diesem Zusammenhang führen auf keine
Frage revisiblen Rechts, sondern betreffen wiederum die Anwendung der ent-
wickelten Grundsätze auf den Fall.
2. Ein Verfahrensmangel liegt ebenfalls nicht vor.
Der Kläger meint zu Unrecht, die Überzeugungsbildung des Verwaltungsge-
richts (§ 108 Abs. 1 VwGO) kranke daran, dass im Urteil entscheidungserhebli-
che Umstände widersprüchlich bewertet worden seien. Es ist nur vordergründig
widersprüchlich, wenn das Verwaltungsgericht die streitige Frage, ob der Kläger
Inhaber eines Treffquartiers für das Kommissariat 1 der Abteilung Kriminalpoli-
zei gewesen ist, im Zusammenhang mit der Rücknehmbarkeit der Rehabilitie-
rungsbescheinigung bejaht (UA S. 6), bei der Bewertung, ob ein Ausschluss-
grund nach § 4 BerRehaG vorgelegen hat, hingegen unentschieden lässt (UA
S. 9). Zwar hängt die Fristwahrung nach § 48 Abs. 4 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 2
Satz 3 Nr. 1 ThürVwVfG davon ab, ob der Kläger die Rehabilitierungsbeschei-
nung im zurückgenommenen Umfang durch arglistige Täuschung über diesen
Umstand „erwirkt“ hat, was nicht der Fall gewesen wäre, wenn die verschwie-
gene Inhaberschaft eines Treffquartiers als solche - wie vom Verwaltungsge-
richt später angenommen - materiell nicht die Verweigerung der Rehabilitie-
rungsbescheinigung gerechtfertigt hätte. So ist die Argumentation des Verwal-
tungsgerichts jedoch nicht zu verstehen. Gemeint ist offensichtlich, dass die
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Täuschung des Klägers die im Urteilstatbestand dargestellten späteren Ermitt-
lungen verzögert hat, die zur Aufdeckung des entscheidungserheblichen - zur
Verweigerung der Bescheinigung wie zu ihrer teilweisen Rücknahme berechti-
genden - Sachverhalts geführt haben. Damit weist das Verwaltungsgericht ein
und derselben Tatsache lediglich die ihr in verschiedenen rechtlichen Zusam-
menhängen jeweils beizumessende Tragweite zu.
Die weiteren Ausführungen der Beschwerde, vertiefend im Schriftsatz vom
6. Juli 2009, führen ebenfalls nicht auf eine fehlerhafte Überzeugungsbildung.
Mit diesem Vortrag bestreitet der Kläger die verwaltungsgerichtlichen Tatsa-
chenfeststellungen oder will Umstände anders bewertet wissen. Jedoch wären
die damit geltend gemachten Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung,
wenn sie denn vorlägen, revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfah-
rensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzurechnen. Vom Revisionsgericht
kann nur die Einhaltung allgemein gültiger Würdigungsgrundsätze überprüft
werden (stRspr, Beschlüsse vom 20. Mai 2003 - BVerwG 3 B 37.03 - juris
Rn. 8 ff. und vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310
§ 108 VwGO Nr. 266). Dass diese Grundsätze verletzt worden sind, ergeben
die Darlegungen der Beschwerde nicht.
Schließlich hat das Verwaltungsgericht nicht den Anspruch des Klägers auf
rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO verletzt,
soweit es abgelehnt hat, ungeschwärzte Unterlagen des Bundesbeauftragten
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR - BStU -
beizuziehen und vermeintliche, aus Sicht des Klägers lediglich „legendierte“
Opfer als Zeugen zu laden. Der Anspruch der Prozessbeteiligten auf rechtliches
Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten nicht
nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch in Erwägung zu ziehen (Beschluss
vom 4. Juli 2008 - BVerwG 3 B 18.08 - juris Rn. 10 m.w.N.). Dies hat das
Verwaltungsgericht im betreffenden Punkt aber getan; es hat die Beweis-
anregungen in den Entscheidungsgründen (UA S. 10 f.) aufgegriffen, eingehend
behandelt und das Vorbringen damit vollständig verarbeitet. Dass die Beweis-
erhebung auf dieser Grundlage abgelehnt worden ist, kann daher allenfalls
unter dem - sinngemäß wohl mit gemeinten - Gesichtspunkt unterlassener
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Sachaufklärung zu beanstanden sein. Ein solcher Verfahrensfehler liegt aber
ersichtlich nicht vor, weil die streitige Tatsache als wahr unterstellt, also für nicht
entscheidungserheblich erklärt worden ist, ohne dass der Kläger dies durchgrei-
fend infrage gestellt hat. Wie oben gesagt, könnte es der Annahme eines
Ausschließungsgrundes im Sinne des § 4 BerRehaG nicht entgegenstehen,
wenn objektiv keine Fluchtabsicht gegeben gewesen wäre, die der Kläger hätte
verraten können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des
Streitwerts auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Kley Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert Dr. Wysk
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