Urteil des BVerwG vom 15.01.2014

Verwaltungsverfahren, Rücknahme, Zuwendung, Verfahrensmangel

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 28.13
VG 7 K 509/12
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. Januar 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wysk und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann
beschlossen:
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts
Dresden vom 19. Februar 2013 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Der Kläger begehrt die Gewährung der monatlichen besonderen Zuwendung für
Haftopfer nach § 17a des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes
(StrRehaG). Den Antrag vom 19. Juli 2007 lehnte die Landesdirektion Chemnitz
mit Bescheid vom 28. Juli 2009 unter Hinweis auf eine Entscheidung des OLG
Rostock ab. Gegen die Zurückweisung des Widerspruchs mit Bescheid vom
2. Februar 2010 unternahm der Kläger zunächst nichts. Mit Schreiben vom
2. März 2011 beantragte er bei der Landesdirektion die Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 26. September 2011
abgelehnt, der Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 22. November 2011
zurückgewiesen. Die am 14. Dezember 2011 erhobene Klage mit dem Antrag,
dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sowie den
Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Juli 2009 und des Wider-
spruchsbescheides vom 2. Februar 2010 zu verpflichten, dem Kläger die Zu-
wendung für Haftopfer zu zahlen, hat das Verwaltungsgericht als unzulässig
abgewiesen. Der geltend gemachte Anspruch auf Gewährung der Haftopferzu-
wendung sei durch Bescheid von 2009 bestandskräftig abgelehnt worden. Der
Kläger habe hiergegen nicht innerhalb der einmonatigen Frist des § 74 VwGO
Klage erhoben. Wiedereinsetzung komme nicht in Betracht, weil die Vorausset-
zungen des gemäß § 17a Abs. 6 StrRehaG anwendbaren § 27 des Zehnten
Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht vorlägen. Der Kläger habe nicht
glaubhaft gemacht, ohne Verschulden verhindert gewesen zu sein, die Klage-
frist einzuhalten. Auch lasse sich seinen Darlegungen im Schriftsatz vom
12. März 2012, in dem er erstmals seine persönlichen Umstände geschildert
habe, nicht entnehmen, in welchem Zeitraum ihm die Klageerhebung unmöglich
gewesen sei.
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Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil bleibt
ohne Erfolg. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegt
nicht vor.
1. Der Kläger macht zur Begründung seiner Beschwerde geltend, das Verwal-
tungsgericht habe den Kern des Vortrags verkannt. In erster Linie habe sich die
Klage gegen den Bescheid von 2009 gerichtet. Die Landesdirektion Chemnitz
hätte dieses Ziel erkennen und seinen Antrag auf Wiedereinsetzung als Antrag
auf Rücknahme des Bescheides von 2009 nach § 44 SGB X und auf Leistungs-
gewährung verstehen müssen. Dieser Antrag hätte auch Erfolg haben müssen.
Zum Zeitpunkt der Antragsablehnung habe der BGH mit Beschluss vom 14. Juli
2011 (4 StR 548/10 - NJW 2011, 2981) bereits die Auffassung des OLG
Rostock für falsch erklärt, auf die sich die Landesdirektion bisher gestützt habe.
Mit diesem Vortrag mag ein Fehler des Verfahrens vor der Landesdirektion auf-
gezeigt sein, nicht jedoch ein Mangel des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens.
§ 44 Abs. 1 SGB X, der gemäß § 17a Abs. 6 StrRehaG im Verwaltungsverfah-
ren anwendbar ist, verpflichtet Leistungsträger (hier nach § 25 Abs. 2 Satz 2
StrRehaG), auch bei wiederholten Anträgen über die Rücknahme der ent-
gegenstehenden Verwaltungsakte und die Gewährung der beanspruchten So-
zialleistung zu entscheiden. Anders als das allgemeine Verwaltungsverfahrens-
recht folgt das SGB X bei Ansprüchen auf Sozialleistungen dem Grundsatz,
dass der materiellen Gerechtigkeit auch für die Vergangenheit Vorrang vor der
Rechtsbeständigkeit behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen und damit
vor der Rechtssicherheit gebührt. Es kennt keine dem § 51 VwVfG vergleichba-
re Regelung, die es der Behörde erlaubt, ein Wiederaufgreifen abgeschlossener
Verwaltungsverfahren unter Berufung auf die Bindungswirkung früherer Be-
scheide abzulehnen, wenn sich die Sach- und Rechtslage nicht geändert hat
und der Antragsteller keine neuen Beweismittel vorlegen kann (vgl. BSG, Urteil
vom 11. November 2003 - B 2 U 32/02 R - NZS 2004, 660 m.w.N.). Ein solcher
Anspruch auf behördliche Rücknahme der früheren Bescheide mag indes Ge-
genstand des im März 2011 eingeleiteten Verwaltungsverfahrens gewesen
sein; Gegenstand des Klageverfahrens war aber - wie das Verwaltungsgericht
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herausgearbeitet hat und der Kläger in der Beschwerdeschrift bestätigt - eine
Klage nach § 42 Abs. 1 VwGO auf Verpflichtung des Beklagten zur Gewährung
von Haftopferzuwendung, und zwar unter Wiedereinsetzung in die versäumte
Frist des § 74 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 VwGO für die Klage gegen die einer
solchen Verpflichtung entgegenstehenden Bescheide vom 28. Juli 2009 und
2. Februar 2010. Diese Verpflichtungsklage wird nicht berührt, wenn die Lan-
desdirektion den Antrag des Klägers im Verwaltungsverfahren unzutreffend
verstanden hätte oder sachgerecht anders hätte auslegen müssen. Insofern ist
auch weder geltend gemacht noch ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht das
anwaltlich formulierte Klagebegehren verfahrensfehlerhaft ausgelegt hat. Na-
mentlich waren die späteren Bescheide im Verfahren auf „Wiedereinsetzung“
nicht in das Klageverfahren einbezogen.
2. Soweit der Kläger weiter geltend macht, das Verwaltungsgericht sei fälschlich
davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung
nicht vorliegen, und habe die Klage daher zu Unrecht als unzulässig behandelt,
ist ebenfalls kein Verfahrensmangel gegeben. Zwar kann in der Entscheidung
durch Prozessurteil statt durch Sachurteil ein Verfahrensfehler liegen (stRspr,
vgl. Beschluss vom 21. Oktober 2004 - BVerwG 3 B 76.04 - juris Rn. 9; Kuhl-
mann, in: Wysk, VwGO, § 132 Rn. 38 m.w.N.). Das Beschwerdevorbringen er-
gibt aber nicht, dass die Wiedereinsetzung vom Verwaltungsgericht falsch be-
urteilt worden ist. Auch wenn es mit § 27 SGB X eine unzutreffende, weil nur
Fristversäumnisse in sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren betreffende Norm
herangezogen hat, hat es in der Sache doch die mit § 27 SGB X im Wesentli-
chen übereinstimmenden Voraussetzungen des einschlägigen § 60 VwGO ge-
prüft. Dass ihm dabei durchgreifende Fehler unterlaufen sind, zeigt das Be-
schwerdevorbringen nicht auf. Das Verwaltungsgericht hat die Ablehnung der
Wiedereinsetzung nicht nur auf die mangelnde Glaubhaftmachung des depres-
sionsähnlichen Zustands gestützt, der den Kläger an der rechtzeitigen Klage-
erhebung gehindert haben soll. Es hat zusätzlich die zeitlichen Zusammenhän-
ge betrachtet und dem Kläger vorgehalten, insbesondere den Zeitraum nicht
genannt zu haben, in dem er an der Klageerhebung gehindert war. Diesen
Grund für die Nichtgewährung der Wiedereinsetzung hat der Kläger im Be-
schwerdeverfahren nicht entkräftet. Es liegt im Gegenteil auf der Hand, dass er
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jedenfalls die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 VwGO nicht gewahrt hat. Er
hat weder den Wiedereinsetzungsantrag binnen zwei Wochen nach Wegfall des
Hindernisses für die Klageerhebung gestellt und begründet noch die Klage-
erhebung als versäumte Rechtshandlung innerhalb dieser Frist nachgeholt. Der
Kläger hat sich in der Lage gesehen, im März 2011 persönlich einen Antrag auf
„Wiedereinsetzung“ bei der Landesdirektion zu stellen und mit weiteren Schrei-
ben in Reaktion auf Hinweise der Landesdirektion weiterzuverfolgen. In diesem
Zeitpunkt war das Hindernis seiner geltend gemachten psychischen Ausnah-
mesituation offenbar beseitigt. Klage hat er jedoch erst am 14. Dezember 2011,
also rund neun Monate später, erhoben und seinen Wiedereinsetzungsantrag
erst Ende Februar des Folgejahres begründet.
Von einer weiteren Begründung seines Beschlusses sieht der Senat nach § 133
Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO ab.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.
Kley
Dr. Wysk
Dr. Kuhlmann
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