Urteil des BVerwG vom 23.11.2010

Treu Und Glauben, Unterbrechung der Frist, Finanzen, Verwirkung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 26.10
VG 1 A 47/09
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. November 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler und Dr. Wysk
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts
Braunschweig vom 7. Januar 2010 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 191,56 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Klägerin wendet sich gegen die Rückforderung von Hauptentschädigung
nach dem Lastenausgleichsgesetz (LAG), die ihrem Vater für Wegnahmeschä-
den an land- und forstwirtschaftlichem Vermögen und an Grundvermögen ge-
währt worden war. Der Schaden wurde durch Rückübertragung des Vermögens
ausgeglichen. Die vermögensrechtlichen Bescheide von 1994, 1998 und 2001
wurden der Beklagten Ende Januar 2003 vom Amt zur Regelung offener Ver-
mögensfragen Stendal übermittelt. Daraufhin wurde die Hauptentschädigung
mit Bescheid vom 13. März 2007 zurückgefordert. Der Rückforderungsbetrag
wurde auf Beschwerde der Klägerin durch Bescheid vom 8. Februar 2008 re-
duziert. Die Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen und ausgeführt, der
Rückforderungsbescheid sei innerhalb der Vier-Jahres-Frist des § 349 Abs. 5
Satz 4 LAG erlassen worden. Abzustellen sei auf den Erstbescheid von 2007,
der die Frist auch unterbrochen habe, und nicht auf den Bescheid von 2008.
Die Beklagte habe erst Ende Januar 2003 und nicht früher durch die Übermitt-
lung der Bescheide positive Kenntnis vom Schadensausgleich erlangt. Die Kor-
respondenz mit der Berliner Senatsverwaltung für Finanzen im Februar 1997
betreffe nicht den Gegenstand des Schadensausgleichs. Eigene Nachfor-
schungen habe die Beklagte nicht anstellen müssen. Der Rückforderungsan-
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spruch sei auch nicht verwirkt, weil sich die Beklagte nicht dahin geäußert habe,
sie werde von der Rückforderung absehen.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem
Urteil des Verwaltungsgerichts bleibt ohne Erfolg. Weder hat die Rechtssache
grundsätzliche Bedeutung (1.) noch liegt ein Verfahrensmangel vor (2.).
1. Keine der aufgeworfenen Fragen verleiht der Rechtssache grundsätzliche
Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
a) Die Frage,
ob „der Begriff der ‚Kenntnis von dem Schadensausgleich’
in § 349 Abs. 5 LAG so zu verstehen ist, dass sie aus-
schließlich den jeweiligen konkreten Gegenstand des
Schadensausgleichs im konkreten Lastenausgleichsver-
fahren betreffen muss“,
bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren, sie beantwortet sich aus
dem Wortlaut des § 349 Abs. 5 Satz 4 LAG. Danach muss sich die Kenntnis auf
den Schadensausgleich und die Person des Verpflichteten beziehen; uner-
heblich ist, in welchem Verfahren oder Zusammenhang die Behörde ihre positi-
ve Kenntnis erlangt wird. Ob die Beklagte bereits durch das Schreiben der Ber-
liner Senatsverwaltung für Finanzen vom 20. Februar 1997 Kenntnis erlangt
hat, wie die Klägerin behauptet, ist eine Frage der Würdigung des Einzelfalls
und grundsätzlicher Klärung entzogen.
Soweit die Klägerin hieran anschließend geltend macht, die Beklagte habe sich
der Möglichkeit einer früheren Kenntnisnahme bewusst verschlossen und selbst
durch ihr Verhalten Ursachen dafür gesetzt, dass eine frühere Kenntnis nicht
eintreten konnte, wird nicht deutlich, in welcher Hinsicht Klärungsbedarf
bestehen soll. Der Senat hat wiederholt entschieden, dass es für den Fristbe-
ginn ohne Belang ist, ob die Ausgleichsbehörde sich die Kenntnis früher hätte
verschaffen können und ob sie zureichende Bemühungen zur Sachverhaltsklä-
rung unternommen hat (Beschlüsse vom 3. November 2009 - BVerwG 3 B
41.09 - ZOV 2010, 31 und vom 19. August 2008 - BVerwG 3 B 3.08 - Buchholz
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427.3 § 349 LAG Nr. 18). Soweit das Beschwerdevorbringen darauf abzielen
sollte, ob die Frist infolge eines grob fehlerhaften oder gar treuwidrigen Verhal-
tens der Behörde schon vor Erlangung der positiven Kenntnis zu laufen begin-
nen kann, wird jedenfalls keine tatsächliche Grundlage für einen solchen Fall
aufgezeigt.
b) Die weitere Frage,
ob „der Begriff der ‚Verwirkung’ so zu verstehen ist, dass
sie neben dem Zeitfaktor immer eine zusätzliche Äuße-
rung des Anspruchsinhabers etwa dahingehend [voraus-
setzt], dass er von der Geltendmachung eines Anspruchs
absehe“,
lässt sich auf der Grundlage der vorliegenden Rechtsprechung ohne Weiteres
beantworten. Die Verwirkung als Hauptanwendungsfall des Verbots wider-
sprüchlichen Verhaltens bedeutet, dass ein Recht nicht mehr ausgeübt werden
darf, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist
und besondere Umstände hinzutreten, welche die verspätete Geltendmachung
als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Das ist insbesondere
dann der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des
Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit
nicht mehr geltend machen würde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete fer-
ner tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt würde
(Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und
Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung
des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr, vgl. Urteil vom
27. Januar 2010 - BVerwG 7 A 8.09 - juris Rn. 26 m.w.N.). Nach diesen Grund-
sätzen versteht es sich von selbst, dass auch andere Umstände als eine Erklä-
rung des Berechtigten (hier der Beklagten) eine Vertrauensgrundlage schaffen
können. Die Klägerin zeigt nicht auf, dass ihr Fall Anlass zu einer weitergehen-
den Klärung geben könnte. Wie die von ihr geltend gemachten Umstände den
Voraussetzungen der Verwirkung zuordnen sind, ist wiederum eine Frage der
Einzelfallwürdigung.
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c) Nicht klärungsbedürftig ist schließlich die Frage,
ob „ein zunächst erlassener und später durch einen so
genannten Zweitbescheid ersetzter Erstbescheid immer
zur Unterbrechung der 4-Jahres-Frist nach § 349 Abs. 5
LAG“ führt.
Diese Frage ist nach der maßgeblichen materiellrechtlichen Sicht des Verwal-
tungsgerichts nicht entscheidungserheblich. Das Verwaltungsgericht hat die
Unterbrechung der Frist gemäß § 349 Abs. 5 Satz 5 LAG durch den - von ihm
so genannten - Erstbescheid aus dem Jahr 2007 nur beiläufig als zusätzlichen
Gesichtspunkt angeführt. Entscheidungstragend ist die durch Rügen nicht ent-
kräftete Annahme, bereits der Rückforderungs- und Leistungsbescheid von
2007 sei fristwahrend erlassen worden. Dann aber kommt es nicht darauf an,
ob sich die zu beachtende Frist wegen einer Unterbrechung verlängert hat. Ab-
gesehen davon beruht die Frage der Klägerin auf der Annahme, der Bescheid
aus 2008 sei ein Zweitbescheid; diese Bewertung ist vom Verwaltungsgericht
indes ausdrücklich zurückgewiesen worden (UA S. 6).
2. Der geltend gemacht Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO liegt nicht vor. Die Klägerin rügt, das Verwaltungsgericht habe den Inhalt
des Schreibens der Berliner Senatsverwaltung für Finanzen vom 20. Februar
1997 nicht zur Kenntnis genommen und sich der Bedeutung des dazu gefertig-
ten Vermerks des Sachbearbeiters verschlossen. Das trifft ersichtlich nicht zu.
Das Verwaltungsgericht hat die Vorgänge von Anfang 1997 ausdrücklich ge-
würdigt (UA S. 5), ihnen jedoch eine von der Rechtsauffassung der Klägerin
abweichende Deutung gegeben. Dadurch wird der Anspruch der Klägerin auf
Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) nicht
verletzt. Nach diesem Grundsatz können die Verfahrensbeteiligten beanspru-
chen, dass das Gericht ihre tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen zur
Kenntnis nimmt und in Erwägung zieht, nicht aber auch, dass es ihrer Argu-
mentation, Bewertung oder den gezogenen Schlüssen folgt. Dass das Verwal-
tungsgericht mit dem Vermerk des Sachbearbeiters einen entscheidungserheb-
lichen Umstand vollständig übersehen hätte, ist nicht ersichtlich.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestset-
zung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 3 GKG.
Kley
Liebler
Dr. Wysk
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