Urteil des BVerwG vom 09.11.2009

Überzeugung, Ausreise, Zwangsmittel, Überprüfung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 21.09
VG 8 K 92/07 Me
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. November 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert
und Dr. Wysk
beschlossen:
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts
Meiningen vom 22. Januar 2009 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Der Kläger begehrt die Rehabilitierung nach dem Beruflichen Rehabilitierungs-
gesetz (BerRehaG), weil er als Facharbeiter beim VEB Stadtwirtschaft Jena im
Januar 1982 und in der Folgezeit bis zu seiner Ausreise aus der DDR von Mit-
arbeitern der Stasi und diesen zuarbeitenden Betriebsangehörigen mehrfach
gezwungen worden sei, seine Arbeitsverhältnisse zu kündigen.
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten antragsgemäß verpflichtet, den Klä-
ger für die Zeit der ersten Freisetzung (1. Februar 1982) bis zur Ausreise
(27. März 1984) beruflich zu rehabilitieren. Der Kläger sei Verfolgter im Sinne
des § 1 Abs. 1 Nr. 4 BerRehaG. Es sei zwar nicht belegt, aber glaubhaft, wenn
der Kläger einen wiederholten Zwang zur Kündigung seiner Arbeitsverhältnisse
in der fraglichen Zeit behaupte. Diese Kündigungen seien politisch bedingt ge-
wesen und hätten ihre Ursache im kirchlichen Engagement des Klägers und
seinem Kontakt zur Friedensbewegung gehabt.
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in die-
sem Urteil bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegen nicht vor.
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Der Beklagte meint, das Urteil verstoße gegen den Überzeugungsgrundsatz
und das Verbot der aktenwidrigen Entscheidung, soweit die Behauptung des
Klägers für glaubhaft erachtet worden sei, er sei in der fraglichen Zeit mehrfach
zur Kündigung von Arbeitsverhältnissen gezwungen worden. Die Beschwerde
stellt nicht in Abrede, dass der Überzeugungsbildung des Verwaltungsgerichts
entsprechend dem Gebot aus § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, nach der aus dem
Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden,
ein soweit wie möglich vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde lag. Viel-
mehr geht die Rüge dahin, das Gericht habe gegen die Regeln der Sachver-
halts- und Beweiswürdigung verstoßen. Der streitentscheidenden mündlichen
Behauptung des Klägers hätte nicht geglaubt werden dürfen, weil es sich um
gesteigerten und unsubstantiierten Vortrag handele, der im Widerspruch zum
Akteninhalt und zu vorprozessualem Sachvortrag des Klägers stehe. Indes ist
die Frage, wie das Vorbringen eines Beteiligten innerhalb der Gesamtheit seiner
früheren Äußerungen und der sonstigen Erkenntnisse zu bewerten ist und ob
eine Behauptung für glaubhaft befunden werden kann, regelmäßig dem
sachlichen Recht zuzurechnen. Vom Revisionsgericht ist nur die Einhaltung
allgemein gültiger Würdigungsgrundsätze zu überprüfen, zu denen die allge-
meinen Auslegungsgrundsätze (§§ 133, 157 BGB), die gesetzlichen Beweisre-
geln, die allgemeinen Erfahrungssätze und die Denkgesetze gehören (stRspr,
Beschlüsse vom 20. Mai 2003 - BVerwG 3 B 37.03 - juris Rn. 8 ff. und vom
2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266).
Die Darlegungen der Beschwerde ergeben nicht, dass diese Grundsätze ver-
letzt worden sind.
Ein solcher Verstoß ergibt sich nicht bereits daraus, dass das Gericht dem Vor-
trag eines Beteiligten folgt, unabhängig davon, ob dieser schriftlich oder (erst) in
der mündlichen Verhandlung erfolgt. Entscheidend ist, ob der Vortrag durch
anderweitiges Parteivorbringen oder auf sonstige Weise schlüssig infrage ge-
stellt worden ist (Beschluss vom 18. Juli 1997 - BVerwG 5 B 156.96 - Buch-
holz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 281 S. 27). Dazu genügt nicht schon, dass ein
Widerspruch zu früherem Vortrag oder zu sonstigem Akteninhalt besteht, zumal
wenn die widersprechenden Umstände ihrerseits erkennbar irrtümlich abgege-
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ben wurden, unzutreffend oder auslegungsbedürftig sind. Widersprüche lösen
einen Würdigungsbedarf aus, den das Verwaltungsgericht hier nicht übersehen,
sondern zum Anlass genommen hat, den Kläger persönlich zu hören und
Zeugen zu vernehmen und zur abschließenden Beurteilung aufgrund des Ein-
drucks in der mündlichen Verhandlung zu gelangen. Dieses Vorgehen ent-
sprach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO und kann verfahrensrechtlich nicht damit
infrage gestellt werden, dass die letztlich entscheidungstragenden Ausführun-
gen des Klägers nicht protokolliert worden sind, wogegen sich der Vertreter des
Beklagten entsprechend § 173 VwGO i.V.m. § 160 Abs. 4 Satz 1 ZPO hätte
wenden können.
Es verstößt nicht gegen Denkgesetze, wenn das Verwaltungsgericht seine
Überzeugung ergänzend auf die Erwägung stützt, „zudem“ sei nicht ausge-
schlossen, dass nicht alle den Kläger betreffenden Stasi-Unterlagen auffindbar
seien. Damit bringt es zum Ausdruck, das Fehlen aussagekräftiger Belege in
diesen Unterlagen hindere nicht daran, auf anderen Wegen die Überzeugung
von der Glaubhaftigkeit des Vortrags zu gewinnen. Dieser Schluss ist ohne
Weiteres nachvollziehbar und verletzt keine Denkgesetze. Diese werden nur
dann missachtet, wenn ein Schluss aus Gründen der Logik schlechthin ausge-
schlossen ist, nicht aber schon dann, wenn das Gericht andere Schlüsse gezo-
gen hat, als sie nach Auffassung eines der Verfahrensbeteiligten hätten gezo-
gen werden müssen. Das gilt selbst dann, wenn der von dem Beteiligten favori-
sierte Schluss möglicherweise näher liegt als der vom Gericht gezogene
(stRspr, Beschluss vom 24. September 2009 - BVerwG 2 B 65.09 - juris Rn. 5).
Ebenso wenig verletzt es Denkgesetze oder andere Würdigungsgrundsätze,
wenn das Verwaltungsgericht einen äußeren Zwang zur Kündigung bejaht hat,
ohne detaillierte Kenntnisse über die von Stasi-Mitarbeitern angewendeten
Zwangsmittel vermittelt bekommen zu haben. Die Beweiswürdigung des Ge-
richts könnte nur dann erfolgreich angegriffen werden, wenn ohne solche
Kenntnisse objektiv keine Grundlage für eine Überzeugungsbildung vorhanden
gewesen wäre, diese deshalb als offensichtlich sachwidrig und damit willkürlich
betrachtet werden müsste. Davon kann hier keine Rede sein, weil sich das Ver-
waltungsgericht auf die - von der Beschwerde nicht infrage gestellten - ge-
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richtsbekannten Verhältnisse im Jena der 1980er Jahre und auf bestätigende
Schilderungen der vernommenen Zeugen gestützt hat.
Wenn die Beschwerde beanstandet, dass die Zeugenaussagen keinen vollen
Beweis der streitentscheidenden Tatsache erbracht haben, verkennt sie den
Argumentationsweg des angefochtenen Urteils. Das Verwaltungsgericht hat
sich angesichts des erkannten Fehlens von Beweisen damit begnügt festzustel-
len, dass die Zeugenaussagen zur streitentscheidenden Behauptung des Klä-
gers und den weiteren Erkenntnissen „passen“. Das entspricht der Vorgabe in
§ 25 Abs. 2 Satz 1 BerRehaG, wonach Angaben des Antragstellers zur Verfolg-
teneigenschaft (§ 1 Abs. 1 BerRehaG) zugrunde gelegt werden können, wenn
sie glaubhaft erscheinen. Von daher hat das Verwaltungsgericht verfahrensfeh-
lerfrei nur geprüft, ob die Behauptung des Klägers durch die Aussagen der
Zeugen gestützt oder erschüttert wird. Wie die Gesamtumstände auf dieser
Grundlage zu bewerten sind, bleibt der revisionsgerichtlichen Überprüfung ent-
zogen.
Der Antrag des Klägers vom 25. August 2009, ihm in Ergänzung des Beschlus-
ses des Senats über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe Rechtsanwältin S.
beizuordnen (§ 166 VwGO i.V.m. § 121 ZPO), hat sich mit dem vorliegenden
Beschluss erledigt und bedarf keiner Bescheidung mehr.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des
Streitwerts auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Kley
Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert
Dr. Wysk
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