Urteil des BVerwG vom 27.06.2007

Rechtliches Gehör, Akteneinsicht, Notlage, Freiwilligkeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 130.06
VG 5 A 245/05
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Juni 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht van Schewick und Dr. Dette
beschlossen:
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts
Greifswald vom 13. September 2006 wird zurückgewie-
sen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Der Kläger macht Ansprüche nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz
- BerRehaG - geltend. Der Beklagte hat den Antrag des Klägers durch Bescheid
vom 22. November 2000 mit der Begründung abgelehnt, dass die Gewährung
von Leistungen nach § 4 BerRehaG ausgeschlossen sei. In der mündlichen
Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat der Beklagte den Bescheid vom
22. November 2000 teilweise abgeändert und den Kläger insoweit klaglos ge-
stellt, als dieser für den Zeitraum vom 13. Februar 1967 bis zum 22. Juni 1969
als Verfolgter im Sinne des § 1 Abs. 1 BerRehaG anerkannt wurde. Der Kläger
erstrebt darüber hinaus die Festsetzung der Verfolgungszeit auch für den Zeit-
raum vom 23. Juni 1969 bis 6. November 1974 und die Feststellung, dass in
seiner Person keine Ausschließungsgründe nach § 4 BerRehaG vorliegen. Das
Verwaltungsgericht hat die Klage hinsichtlich der weiteren Verfolgungszeit ab-
gewiesen, da insoweit seine beruflichen Nachteile nicht auf einer politischen
Verfolgung sondern auf seinen eigenen Verfehlungen (Führen eines Schiffes
unter Alkoholeinfluss) beruht hätten. Die Voraussetzungen des § 4 BerRehaG
sah es als gegeben an, da der Kläger, auch nachdem die besondere
Zwangssituation in der Haft geendet hatte, freiwillig Berichte an das MfS ge-
liefert habe.
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Ver-
waltungsgerichts vom 13. September 2006 bleibt ohne Erfolg. Die Rechtssache
weist weder die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung im Sinne des
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§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auf (1.), noch liegt ein Verfahrensfehler im Sinne des
§ 132 Abs. 1 Nr. 3 VwGO vor, auf dem das Urteil beruht (2.).
1. Der Kläger hält für klärungsbedürftig, in welcher psychologischen und psy-
chischen Zwangssituation sich ein Untersuchungshäftling bei der Abgabe der
Bereitschaftserklärung, als inoffizieller Mitarbeiter während der Untersuchungs-
haft oder während der Haft tätig zu sein, befand und inwieweit diese psychische
Zwangslage über die Haftentlassung hinaus fortwirke. Es seien die Erkenntnis-
se über das sog. „Stockholm-Syndrom“, das sich mit der Solidarisierung von
Opfern mit ihren Tätern befasst, zu berücksichtigen. Mit diesem Vortrag wirft
der Kläger keine klärungsbedürftige Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeu-
tung auf, die sich mit der Auslegung des § 4 BerRehaG befasst. Vielmehr stellt
er eine Frage, die dem Bereich der Tatsachenfeststellung zuzuordnen ist. In
dem Urteil vom 8. März 2002 - BVerwG 3 C 23/01 - (BVerwGE 116, 100 =
Buchholz 428.8 § 4 BerRehaG Nr. 1) hat der Senat dazu, unter welchen Vor-
aussetzungen eine Spitzeltätigkeit unfreiwillig aufgenommen wurde, Folgendes
ausgeführt:
„Die Freiwilligkeit ist demnach zu verneinen, wenn die
Spitzeltätigkeit unter Zwang aufgenommen und fortgeführt
wurde. Eine Zwangsanwendung kann auch in der Ausnut-
zung einer psychischen und sozialen Notlage liegen. Dies
muss aber das bei der nachrichtendienstlichen Quellen-
werbung übliche Maß deutlich überschreiten.“
Ob jemand eine Spitzeltätigkeit gemessen an diesen Grundsätzen unter Zwang
- in Ausnutzung einer psychischen Notlage - aufgenommen hat, ist unter Be-
rücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls zu klären. Auch die
Frage, ob ein sog. „Stockholm-Syndrom“ ursächlich für die Aufnahme einer
Spitzeltätigkeit war und die Freiwilligkeit möglicherweise entfallen lässt, kann
nur einzelfallbezogen beantwortet werden. Bezogen auf den Kläger hat das
Verwaltungsgericht Greifswald in nach § 137 Abs. 2 VwGO bindender Weise
festgestellt, dass der Kläger jedenfalls nach Beendigung seiner Haftzeit freiwillig
Berichte an das MfS geliefert habe (vgl. S. 9 des Urteils).
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2. a) Soweit der Kläger rügt, er habe keine Einsicht in die vom Verwaltungsge-
richt beigezogenen Akten nehmen können, rechtfertigt dies nicht die Revisions-
zulassung wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Der An-
spruch auf rechtliches Gehör nach § 108 Abs. 2 VwGO ist gewahrt, wenn das
Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt wird, zu denen die Be-
teiligten sich äußern konnten. Das ist vorliegend der Fall. Der Gerichtsakte ist
zu entnehmen, dass der Kläger am 4. Dezember 2003 in der Zeit von 9.00 Uhr
bis 11.00 Uhr (noch beim Verwaltungsgericht Schwerin) Einsicht in die seiner-
zeit dort vorhandenen Akten genommen hat. Soweit das Verwaltungsgericht
Greifswald im Jahre 2006 ergänzend die beim Bundesbeauftragten für die Un-
terlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokrati-
schen Republik - BStU - geführten Akten beigezogen hat, ist nicht ersichtlich,
dass der Kläger keine Möglichkeit gehabt hätte, Einsicht in diese Akten zu
nehmen und sich dazu zu äußern. So ist in der Gerichtsakte dokumentiert, dass
eine Abschrift des Schreibens des BStU vom 10. Februar 2006, mit dem die
dortigen Akten an das Gericht versandt wurden, am 15. Februar 2006 an den
Kläger weitergeleitet wurde. Der Kläger hatte also seit Februar 2006 Kenntnis
davon, dass die Akten des BStU beim Verwaltungsgericht vorhanden waren. Es
ist weder vom Kläger vorgetragen worden noch ansonsten ersichtlich, dass er
daran gehindert gewesen wäre, Akteneinsicht zu nehmen. Dies gilt insbesonde-
re vor dem Hintergrund, dass der Kläger am 20. Juni 2006 bei Gericht anrief
und um einen nahen Verhandlungstermin bat. Des Weiteren kommt hinzu, dass
der Kläger selbst vorträgt, ihm seien in der mündlichen Verhandlung einzelne
Schriftstücke aus den Akten vorgehalten worden. Er hätte sogar zu diesem
Zeitpunkt noch um eine Unterbrechung der mündlichen Verhandlung und die
Gewährung von Akteneinsicht bitten können.
b) Eine andere Einschätzung rechtfertigt auch nicht der Umstand, dass der Klä-
ger erst am 22. September 2006 - also erst nach Zustellung des Urteils - telefo-
nisch auf die Möglichkeit, Prozesskostenhilfe und die Beiordnung eines
Rechtsanwalts zu beantragen, hingewiesen wurde. Dem hierzu durch den Be-
richterstatter angefertigten Telefonvermerk ist zu entnehmen, dass der Bericht-
erstatter den Kläger auf die Möglichkeit verwies, gegen das Urteil Rechtsmittel
einzulegen, wenn er damit nicht einverstanden sei. Vor dem Hintergrund, dass
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für ein Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht nach § 67 Abs. 1 Satz 1
VwGO Vertretungszwang besteht, war diese dem Kläger erteilte Auskunft
sachgerecht.
Dagegen hatte das Gericht nach Maßgabe des § 86 Abs. 3 VwGO nicht die
Pflicht, den Kläger zur Wahrung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen
Gehörs nach § 108 Abs. 2 VwGO während des Verfahrens auf die Möglichkeit
hinzuweisen, sich durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen und einen An-
trag auf Prozesskostenhilfe zu stellen. Eine grundsätzliche Hinweispflicht be-
stand schon allein deshalb nicht, weil für das Verfahren vor dem Verwaltungs-
gericht kein gesetzlicher Vertretungszwang besteht.
Auch wurde das Recht des Klägers, sich in jeder Lage des Verfahrens durch
einen Bevollmächtigten vertreten zu lassen (vgl. § 67 Abs. 2 Satz 2 VwGO)
nicht verletzt. Dies ist nur dann der Fall, wenn ein Beteiligter durch das Gericht
gehindert wird, sich vor einer gerichtlichen Entscheidung anwaltlicher Beratung
zu bedienen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. November 1991 - BVerwG 6 B
14.91 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 240). Voraussetzung hierfür ist jedoch,
dass ein Beteiligter, der sein Recht aus § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO auf Inan-
spruchnahme anwaltlicher Hilfe wahrnehmen will, dies gegenüber dem zur Ent-
scheidung berufenen Gericht eindeutig äußert und zum Ausdruck bringt, dass
ihm eine sachgerechte Prozessführung ohne Inanspruchnahme anwaltlicher
Hilfe nicht möglich ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. August 1992 - BVerwG
5 B 159.91 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 252 = NJW 1993, 80; Beschluss
vom 1. November 1991 - BVerwG 6 B 14.91 - a.a.O.; Urteil vom 10. Mai 1984
- BVerwG 2 C 41.82 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 149; Urteil vom 18. Juni
1970 - BVerwG 5 C 128.69 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 48). Daran fehlt es
hier. Zwar hat der Kläger in seinem an das Gericht gerichteten Schreiben vom
20. Dezember 2000 erwähnt, dass er sich einen Rechtsanwalt nicht leisten
könne. Damit hat er aber nicht zum Ausdruck gebracht, zur Wahrnehmung sei-
ner Rechte in dem Verfahren auf den Beistand eines Rechtsanwalts angewie-
sen zu sein. Vielmehr durfte das Gericht diese Bemerkung bei verständiger
Würdigung dahingehend verstehen, dass der Kläger die Beiziehung eines
Rechtsanwalts zwar für wünschenswert, aber nicht für finanzierbar hielt. Auch
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gab der weitere Verlauf des Verfahrens dem Gericht keine Veranlassung, da-
von auszugehen, dass die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts zur Wahrung der
Rechte des Klägers erforderlich gewesen wäre. So war der Kläger erkennbar
zur Selbstvertretung in der Lage. Er reiste selbst zur Akteneinsicht an und nahm
persönlich sowohl an dem Erörterungstermin als auch an der mündlichen
Verhandlung teil. In dem Erörterungstermin wurde er umfassend befragt und
beantwortete sachgerecht die ihm gestellten Fragen. Des Weiteren äußerte er
sich auch mehrfach schriftlich.
c) Soweit der Kläger die Verletzung der Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1
VwGO rügt, weil das Gericht sich trotz des klägerseitigen Hinweises auf die
damalige Zwangssituation mit dem sog. „Stockholm-Syndrom“ nicht befasst ha-
be, rechtfertigt dies nicht die Annahme eines Verfahrensfehlers. Das Gericht hat
in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils die Situation, in der
sich der Kläger seinerzeit befand, ausführlich behandelt. Es gibt keinen An-
haltspunkt dafür, dass sich dem Gericht hätte aufdrängen müssen, sich mit dem
sog. „Stockholm-Syndrom“ zu befassen.
Von einer weiteren Begründung seines Beschlusses sieht der Senat nach § 133
Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO ab.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO; die Festsetzung des
Streitwertes folgt aus § 47 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.
Kley van Schewick Dr. Dette
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