Urteil des BVerwG vom 16.06.2008

Konzentration, Reduktion, Chirurgie, Anhörung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 10.08
OVG 13 A 1570/07
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. Juni 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Dette und Prof. Dr. Rennert
beschlossen:
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 30. Oktober 2007 wird aufge-
hoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurück-
verwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisions-
verfahren auf 9 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Be-
schlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht
(§ 133 Abs. 6 VwGO). Der angefochtene Beschluss beruht auf Verfahrensfeh-
lern, die von der Klägerin mit der Beschwerde geltend gemacht werden (§ 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
1. Die Vorinstanzen sind übereinstimmend davon ausgegangen, dass die Be-
klagte - sowie das Ministerium als übergeordnete Planungsbehörde - hinsicht-
lich der Frage, mit welchen Betten der festgestellte Bedarf an HNO-Betten in
der Planungsregion des Kreises G. zu befriedigen sei, eine Auswahlentschei-
dung zwischen dem Krankenhaus der Klägerin und dem des Beigeladenen tref-
fen musste und dass sie hierbei § 8 Abs. 2 Satz 2 KHG zu beachten hatte. In-
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sofern hat das Berufungsgericht der Beklagten einen gewissen Entscheidungs-
spielraum zuerkannt. Sie könne die vorhandene Überversorgung sowohl durch
eine Bettenreduktion bis zur jeweiligen Auslastungsquote bei sämtlichen Plan-
krankenhäusern als auch dadurch abbauen, dass ein Krankenhaus gänzlich
aus dem Plan gestrichen und die Versorgung bei einem anderen konzentriert
werde. Voraussetzung sei jeweils, dass die Entscheidung auf sachlich vertret-
baren Erwägungen beruhe.
Das Verwaltungsgericht hatte die angefochtenen Bescheide aufgehoben, weil
die Beklagte weder dem Feststellungsbescheid noch dem Widerspruchsbe-
scheid eine ausreichende formelle Begründung beigefügt habe; außerdem be-
stünden Zweifel, ob die Beklagte materiell ihren Beurteilungsspielraum im
Rahmen ihrer Auswahlentscheidung überhaupt ausgeübt habe.
Das Berufungsgericht hat demgegenüber angenommen, dass das Ministerium
und in dessen Gefolge die Beklagte tatsächlich eine Auswahlentscheidung da-
hin getroffen hätten, dass der festgestellte Bedarf an HNO-Betten allein mit
Betten im Krankenhaus des Beigeladenen zu decken sei. Hierfür seien die fol-
genden Erwägungen maßgebend gewesen: Erstens hätte die HNO-Abteilung
im Krankenhaus der Klägerin höchstens mit 4 Betten aufrechterhalten werden
können, was aber unvorteilhaft wenig sei. Zweitens befinde sich die größere
HNO-Abteilung im Krankenhaus des Beigeladenen am Ort der größten Nach-
frage. Drittens füge sich die Schließung der HNO-Abteilung im Krankenhaus der
Klägerin in ein umfassenderes Konzept, wonach sie kompensiert werde durch
eine Beibehaltung der 89 chirurgischen Betten trotz unzureichender Auslastung.
Diese Erwägungen seien der Klägerin bereits bekannt oder doch ohne weiteres
erkennbar gewesen, so dass die angefochtenen Bescheide insoweit keiner Be-
gründung bedurft hätten (§ 39 Abs. 2 Nr. 2 LVwVfG); jedenfalls aber sei die
Begründung während des Berufungsrechtszuges, nämlich mit der Beru-
fungsbegründung der Beklagten, heilend nachgeholt worden (vgl. § 45 Abs. 2
LVwVfG).
2. Die Feststellung, die Planungsbehörde oder doch die Beklagte hätten ihre
Entscheidung auf die genannten drei Gründe gestützt, hat das Berufungsgericht
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verfahrensfehlerhaft getroffen. Das Berufungsgericht hat über die Berufungen
nicht mündlich verhandelt und auch keine Beweise erhoben; es hat seine
Feststellungen vielmehr allein in Auswertung der ihm vorliegenden Verwal-
tungsakten getroffen. Die in Rede stehende Feststellung findet in den Verwal-
tungsakten indes keine Stütze. Damit hat das Berufungsgericht seine Entschei-
dung insofern nicht auf der Grundlage des vorangegangenen Verfahrens ge-
troffen (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO); zudem bestand für die Klägerin keine
Möglichkeit, sich zu den Grundlagen der Berufungsentscheidung zuvor zu äu-
ßern (§ 108 Abs. 2 VwGO).
Ausweislich der Verwaltungsakten hat das Ministerium die Beklagte mit Schrei-
ben vom 31. Mai 2005 (Bl. 262 ff.) angewiesen, Feststellungsbescheide auf der
Grundlage des „Strukturvorschlags“, wie er den beteiligten Krankenhäusern mit
Anhörungsschreiben vom 28. Februar 2005 (Bl. 229 ff.) unterbreitet worden
war, sowie der Stellungnahmen der Krankenhäuser hierzu zu erlassen. Der
„Strukturvorschlag“ führt hinsichtlich des Fachgebiets HNO lediglich die Kon-
zentration beim Krankenhaus des Beigeladenen an, teilt aber sachliche Gründe
dafür nicht mit. Offenbar geht die Entscheidung insofern allein auf die Zustim-
mung der Klägerin zurück, die diese zuvor aber nur bedingt erteilt (Bl. 83, 86;
vgl. Bl. 1) und in dem erwähnten Anhörungsverfahren ausdrücklich widerrufen
hatte (Schreiben vom 22. April 2005, Bl. 37 der Akte des Ministeriums).
Lässt sich den Verwaltungsakten nichts dafür entnehmen, dass die drei vom
Berufungsgericht angegebenen sachlichen Erwägungen tatsächlich die den
Feststellungsbescheid tragende Auffassung der Behörde waren, so geben sie
erst recht nichts dafür her, dass diese Auffassung der Behörde der Klägerin
auch ohne formelle Mitteilung im Feststellungs- oder im Widerspruchsbescheid
bereits bekannt oder doch auch ohne Begründung für die Klägerin ohne weite-
res erkennbar waren (§ 39 Abs. 2 Nr. 2 LVwVfG). Das Berufungsgericht betont
zwar wiederholt, dass die von ihm angeführten sachlichen Erwägungen den
angefochtenen Bescheiden „erkennbar“ zugrunde lägen. Damit meint es offen-
bar - ebenso wie die Beklagte mit ihrer Berufungsbegründung -, dass diese Er-
wägungen den Bescheiden zugrunde gelegt werden könnten, weil sie geeignet
seien, die getroffene Auswahlentscheidung materiell zu begründen. Daraus
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ließe sich aber nicht schließen, dass die Behörde ihren Bescheiden diese Er-
wägungen auch tatsächlich zugrunde gelegt hat.
3. Auch der Hilfserwägung des Berufungsgerichts, die Beklagte habe die in Re-
de stehenden Erwägungen im Zuge ihrer Berufungsbegründung jedenfalls hei-
lend nachgeschoben, liegt ein Verfahrensfehler zugrunde.
Es ist schon zweifelhaft, ob die darin gelegene tatsächliche Feststellung dem
objektiven Erklärungsinhalt der Berufungsbegründung entspricht. Die Beklagte
hat nämlich keineswegs eine getroffene Auswahlentscheidung nachträglich be-
gründet. Im Gegenteil hat sie betont, keine Auswahlentscheidung getroffen zu
haben, weil sie eine solche - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts -
nicht für geboten erachtet habe und weiterhin nicht für geboten erachte; viel-
mehr habe sie lediglich die Planbettenzahl bei beiden betroffenen Krankenhäu-
sern auf die Auslastungsquote reduziert, was beim Krankenhaus der Klägerin
zu einer Reduktion auf null geführt habe. Allerdings hat die Beklagte im Weite-
ren - mit einem einzigen Satz - ihre Auffassung dargelegt, dass die getroffene
Entscheidung sachlich nicht beanstandet werden könne, weil die gebotene bei-
derseitige Bettenreduktion sich zugunsten der größeren Abteilung auswirke, die
sich obendrein am Ort der stärksten Nachfrage befinde. Darin klingen immerhin
die ersten beiden Erwägungen an, mit denen das Berufungsgericht die Aus-
wahlentscheidung rechtfertigen möchte. Die dritte Erwägung - Kompensation in
der Chirurgie - aber lässt sich diesem einen Satz schlechterdings nicht ent-
nehmen. Doch mag dies auf sich beruhen.
Jedenfalls musste die Würdigung dieser Passage der Berufungsbegründung
sowohl als heilende Nachholung der formellen Begründung der angefochtenen
Bescheide (§ 45 Abs. 2 LVwVfG) als auch als Ergänzung der materiellen Aus-
wahlgründe (§ 114 Satz 2 VwGO) die Klägerin überraschen (§ 108 Abs. 2
VwGO). Das Berufungsgericht hat die Klägerin auf diese Würdigung vor seiner
Berufungsentscheidung nicht hingewiesen; weder hat es über die Berufung
mündlich verhandelt, noch findet sich ein dahingehender Hinweis in der Anhö-
rung zur beabsichtigten Verfahrensweise nach § 130a VwGO. Ohne einen sol-
chen Hinweis brauchte die Klägerin mit dieser Würdigung aber nicht zu rech-
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nen. Wenn die Beklagte - wie erwähnt - selbst hervorgehoben hat, keine Aus-
wahlentscheidung getroffen zu haben, lag die Annahme fern, das Gericht könne
in dem einzigen nachfolgenden Satz gleichwohl die Begründung für eine solche
Auswahlentscheidung erblicken.
4. Die angefochtene Entscheidung beruht auch auf den aufgezeigten Verfah-
rensfehlern. Dass das Berufungsurteil ohne die aktenwidrigen Feststellungen
nicht damit hätte begründet werden können, die Beklagte - sowie das Ministeri-
um als übergeordnete Planungsbehörde - habe eine auf die erwähnten drei Er-
wägungen gestützte Auswahlentscheidung getroffen, liegt auf der Hand. Dann
aber hing die Berufungsentscheidung davon ab, ob der Vortrag der Beklagten
zur Berufungsbegründung geeignet war, die Auswahlentscheidung
nachzuholen. Hätte das Berufungsgericht die Klägerin zuvor hierzu angehört,
so hätte diese darauf hingewiesen, dass die Beklagte eine formelle Begründung
nicht geben wollte und dass § 114 Satz 2 VwGO lediglich erlaube, defizitäre
Ermessenserwägungen zu ergänzen, nicht aber Ermessenserwägungen
erstmals anzustellen.
Vor allem aber wären die drei vom Berufungsgericht angeführten Erwägungen
dann unter den Beteiligten erörtert worden. Es erscheint als höchst zweifelhaft,
ob die Berufungsentscheidung dann ebenso ausgefallen wäre; denn diese Er-
wägungen dürften kaum geeignet sein, die Auswahlentscheidung materiell zu
begründen. Das gilt für alle drei Erwägungen. Dass eine HNO-Abteilung mit nur
4 Betten „unvorteilhaft klein“ sei, mag einer gleichmäßigen Reduktion aller vor-
handenen Abteilungen bis zur gegenwärtigen Auslastungsquote entgegenste-
hen und deshalb für die Konzentration der erforderlichen 10 Betten bei nur ei-
nem der Krankenhäuser sprechen; es gibt aber nichts für die Frage her, ob die-
se Konzentration im Krankenhaus der Klägerin oder dem des Beigeladenen
erfolgen soll. Dass die HNO-Abteilung des Beigeladenen am Ort der größten
Nachfrage bestehe, lässt außer Acht, dass die Entscheidung, an welcher Be-
triebsstätte des Beigeladenen die HNO-Abteilung eingerichtet werden soll, aus-
drücklich vorbehalten wurde; eine Verlagerung der Abteilung vom Stammhaus
in G. an die Betriebsstätte in R., wie sie nach der Behauptung der Klägerin be-
absichtigt ist, würde das Argument entkräften. Dass schließlich die Zahl der
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chirurgischen Planbetten für die Auswahl der bedarfsgerechten HNOAbteilung
unerheblich ist, scheint das Berufungsgericht selbst zu sehen; zudem berück-
sichtigt die Annahme einer unzureichenden Auslastung der Abteilung Chirurgie
noch nicht die Schließung des evangelischen Krankenhauses R.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Fest-
setzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52
Abs. 1 GKG.
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