Urteil des BVerwG vom 17.09.2002

Hiv, Aids, Kreis, Sicherheit

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BESCHLUSS
BVerwG 3 B 1.02
OVG 8 A 3944/00
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. September 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. D r i e h a u s sowie die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht van S c h e w i c k und
Dr. B r u n n
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzu-
lassung der Revision in dem Urteil des Oberver-
waltungsgerichts für das Land Nordrhein-
Westfalen vom 28. September 2001 wird zurückge-
wiesen.
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Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdever-
fahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das
Beschwerdeverfahren auf 27 609,76 € festge-
setzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist unbegründet. Das Beschwerdevorbringen er-
gibt nicht das Vorliegen des von der Beschwerde allein geltend
gemachten Revisionszulassungsgrundes der Grundsatzbedeutung
(§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
1. Die Beschwerde macht geltend, revisionsgerichtlich klä-
rungsfähig und -bedürftig sei die Frage, ob die in § 15 Abs. 1
des HIV-Hilfegesetzes vom 24. Juli 1995 (BGBl I, S. 972) ge-
troffene Stichtagsregelung (Infizierung durch Blutprodukte vor
dem 1. Januar 1988) verfassungsgemäß oder wegen Verstoßes ge-
gen Art. 3 GG verfassungswidrig ist. Namentlich müsse berück-
sichtigt werden – was im angefochtenen Urteil nicht oder nur
unzulänglich berücksichtigt worden sei -, "dass das HIV-
Hilfegesetz als Verschleierungsgesetz für die in Wahrheit ge-
wollte Haftungsbegrenzung der Bundesrepublik gegenüber Amts-
haftungsansprüchen HIV-infizierter Personen konzipiert war,
mit der Folge, dass die Stichtagsregelung dem Zweck diente,
die Haftungsbegrenzung durch das HIV-Hilfegesetz da aufhören
zu lassen, wo sich dessen Sinn mangels nennenswerten Umfangs
zu befürchtender Haftungsfälle ohnehin erschöpfte". Insbeson-
dere sei die Frage klärungsbedürftig, "ob sich der Staat durch
die Einführung einer Stichtagsregelung aus der Verpflichtung
zur Zahlung einer Entschädigung an HIV-infizierte Personen be-
freien kann, wenn ihm an der Infektion der Personen eine er-
hebliche Mitverantwortung anzulasten ist". Damit verfehlt die
Beschwerde zum einen sowohl Sinn und Zweck des HIV-Hilfegeset-
zes allgemein als auch speziell der benannten Stichtagsrege-
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lung und zum anderen den Kern der entscheidungstragenden Grün-
de des angefochtenen Urteils:
2. a) Nach übereinstimmender höchstrichterlicher Rechtspre-
chung des Bundesverfassungs- sowie des Bundesverwaltungsge-
richts ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, zur Regelung be-
stimmter Lebenssachverhalte Stichtage einzuführen, auch wenn
dies unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt. Er muss al-
lerdings im Rahmen des ihm zukommenden Gestaltungsspielraumes
die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Tatsa-
chen hinreichend würdigen und prüfen, ob sich die gewählte Lö-
sung im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System
der Gesamtregelung rechtfertigen lässt und nicht willkürlich
erscheint (vgl. stellvertretend für viele: Urteil vom 12. No-
vember 1993 - BVerwG 7 C 7.93 - BVerwGE 94, 279 <286> mit
Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts).
b) In inhaltlicher Übereinstimmung mit diesen abstrakten Maß-
stäben legt das angefochtene Urteil in durchgängig nachvoll-
ziehbarer und überzeugender Weise dar, dass und aus welchen
Gründen der Gesetzgeber mit den in Rede stehenden Vorschriften
den vorgegebenen Rahmen eingehalten hat. Vor diesem Hinter-
grund ist weder in der Beschwerdebegründung dargelegt noch an-
sonsten ersichtlich, inwieweit die Durchführung eines Revisi-
onsverfahrens zu einer Weiterentwicklung der höchstrichterli-
chen Rechtsprechung zur Stichtags-Problematik führen könnte.
aa) Nicht nachvollziehbar ist zunächst die Behauptung der Be-
schwerde, das HIV-Hilfegesetz sei als "Verschleierungsgesetz"
konzipiert für die in Wahrheit gewollte Haftungsbegrenzung der
Bundesrepublik, was zur Folge habe, dass die Stichtagsregelung
bezwecke, die Haftungsbegrenzung durch das HIV-Hilfegesetz "da
aufhören zu lassen", wo sich dessen Sinn ohnehin erschöpfe.
Soweit damit zum Ausdruck gebracht werden sollte, etwa die Er-
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löschensregelung in § 20 Abs. 1 Satz 1 HIV-Hilfegesetz führe
zu einer unzulässigen Verlagerung der Verantwortung, könnte
hiervon der Kläger nicht betroffen sein, da ihm Leistungen
nach dem 2. Abschnitt des Gesetzes, die er für sich bean-
sprucht, gerade nicht gewährt werden, so dass es ihm unverän-
dert freisteht, die von ihm für verantwortlich Gehaltenen in
Anspruch zu nehmen, wie das angefochtene Urteil im Einzelnen
darlegt.
bb) Soweit - wovon nach der objektiven Interessenlage des Klä-
gers auszugehen ist - mit der vorstehend wiedergegebenen Be-
gründung eine Pflicht des Gesetzgebers angesprochen sein soll-
te, von einer Stichtagsregelung überhaupt abzusehen bzw. den
Stichtag so zu bestimmen, dass auch der Kläger in den Genuss
der Leistungen nach dem HIV-Hilfegesetz gelangen kann, macht
sich der beschließende Senat die Erwägungen zu eigen, die das
Oberverwaltungsgericht nach den Urteilsgründen zur Überzeugung
geführt haben, weder die Einführung einer Stichtagsregelung
überhaupt noch dessen konkrete Festlegung sei von Verfassungs
wegen zu beanstanden.
Dabei steht auch für den beschließenden Senat im Vordergrund,
dass das HIV-Hilfegesetz den nicht zu beanstandenden Versuch
darstellt, dem "großen Leid" zu begegnen, das in den achtziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts durch Blutprodukte infizierten
Personen und deren Angehörigen zugefügt worden ist (vgl.
BTDrucks 13/1298 S. 8, Begründung des Allgemeinen Teils).
"Weil anders eine Vielzahl der Betroffenen keine angemessene
finanzielle Absicherung gegen die Folgen des erlittenen
Schicksals erlangen" könne, sei "eine humanitäre und sozial-
staatliche Regelung erforderlich", für die spreche, "dass vie-
len Betroffenen aus verschiedenen Gründen die gerichtliche
Durchsetzung von Ansprüchen verwehrt ist", da "ein großer Teil
der Betroffenen infiziert war, ehe die für entsprechende Si-
cherheitsmaßnahmen notwendigen Erkenntnisse über den Erreger
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von AIDS und die Virussicherheit von Blutprodukten vorhanden
waren" (a.a.O.). Hieraus sowie aus der Begründung für die
Stichtagsregelung (a.a.O. S. 10) erhellt, dass das Gesetz eine
Unterscheidung trifft zwischen Infizierten, denen der Gesetz-
geber mit guten Gründen von vornherein eine realistische Mög-
lichkeit abspricht, Entschädigungsleistungen auf herkömmliche
Weise zu erlangen, und solchen, bei denen entsprechende Mög-
lichkeiten bestehen, wie das Oberverwaltungsgericht in seinen
Urteilsgründen überzeugend darlegt. Die Stichtagsregelung soll
nämlich den Kreis der Anspruchsberechtigten nach dem HIV-
Hilfegesetz auf diejenigen Personen beschränken, "die aufgrund
der nicht vorhandenen oder unsicheren Erkenntnislage über HIV
und AIDS sowie die Sicherheit der Blutprodukte Ende der sieb-
ziger und insbesondere in der ersten Hälfte der achtziger Jah-
re auf tragische Weise infiziert worden sind", weil der Ge-
setzgeber angenommen hat, dass "die Auswirkungen dieser Unsi-
cherheiten bei der Anwendung von Blutprodukten ... etwa in das
Jahr 1987" reichten, wohingegen "danach durch Blutprodukte
HIV-infizierte Personen ... aufgrund der heutigen Erkenntnis-
lage andere Voraussetzungen zur Durchsetzung von Schadenser-
satzansprüchen" vorfänden (a.a.O).
Es liegt auf der Hand und bedarf keiner vertieften Begründung,
dass die hiernach der Stichtagsregelung zugrunde liegende Un-
terscheidung zwischen früher und später Infizierten unter der
Voraussetzung sachangemessen und willkürfrei ist, dass beleg-
bare tatsächliche Gegebenheiten ermittelt worden bzw. ermit-
telbar sind, die die vorbezeichnete unterschiedliche Unsi-
cherheits-Lage tragen. Die Beschwerde legt nicht dar, dass die
in den Urteilsgründen unter Heranziehung namentlich einschlä-
gigen Schrifttums dargestellten Entwicklungen und erzielten
Erkenntnisse im Zusammenhang mit HIV-Infizierungen durch Blut-
produkte auch nur ansatzweise neben der Sache liegen könnten.
Eindrucksvoll belegen die Urteilsgründe vielmehr, dass der Ge-
setzgeber mit guten Gründen eine kleinere Gruppe von nach dem
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1. Januar 1988 Infizierten unbeschadet deren tragischen
Schicksals auf eine herkömmliche Geltendmachung von Ersatzan-
sprüchen verweisen durfte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, bei der
Streitwertfestsetzung folgt der beschließende Senat der beru-
fungsgerichtlichen Festsetzung.
Prof. Dr. Driehaus van Schewick Dr. Brunn