Urteil des BVerwG vom 26.04.2007

Gerichtshof für Menschenrechte, Achtung des Privatlebens, Vergleich, Emrk

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
Verkündet
BVerwG 3 A 7.05
am 26. April 2007
Jesert
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 26. April 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht van Schewick, Dr. Dette,
Liebler und Prof. Dr. Rennert
für Recht erkannt:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
G r ü n d e :
I
Das Land Berlin macht einen Anspruch auf Erstattung restlicher Kosten geltend,
die durch die Vollstreckung von Strafurteilen durch den Generalbundesanwalt in
Justizvollzugsanstalten des Landes entstanden sind.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte zur Zahlung von 21 686,20 € zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie zieht ihre Erstattungspflicht als solche nicht in Zweifel, wendet aber ein, die
Klageforderung sei erloschen. Ihr hätten Gegenforderungen in gleicher Höhe
zugestanden, mit denen sie am 29. November 2004 die Aufrechnung erklärt
habe. In dieser Gesamthöhe habe sie in drei Fällen auf der Grundlage von
Art. 41 EMRK Schadensersatz an Verletzte gezahlt, die Individualbeschwerde
vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhoben hätten. Da die
gerügten Menschenrechtsverletzungen von Organen des Klägers verursacht
worden seien, könne sie vom Kläger Erstattung verlangen.
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Den zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen liegt Folgendes zugrunde:
1. Fall A.
A. wurde am 6. April 1993 von der Berliner Polizei festgenommen. Am selben
Tage wurde gegen ihn Haftbefehl erlassen. Zur Begründung hieß es, A. sei ei-
nes Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz dringend verdächtig; es be-
stehe Verdunkelungsgefahr. Der Einleitung des Strafverfahrens lag vor allem
die Aussage von K. zugrunde. Im Haftprüfungsverfahren wurde der Haftbefehl
durch das Amtsgericht Berlin-Tiergarten, das Landgericht Berlin und das Kam-
mergericht bestätigt. In diesem Verfahren wurde dem Verteidiger des A. die
Ermittlungsakte nur teilweise mitgeteilt; ausgenommen war insbesondere das
Protokoll über die Vernehmung des K. Zur Begründung hieß es, die Mitteilung
würde das laufende Ermittlungsverfahren gefährden. Am 13. September 1993
wurde die Ermittlungsakte freigegeben; der Verteidiger des A. nahm am
17. September 1993 Einsicht. Mit Beschluss vom 27. Oktober 1993 nahm das
Bundesverfassungsgericht eine im August 1993 erhobene Verfassungsbe-
schwerde des A. nicht zur Entscheidung an. A. wurde am 12. Juli 1994 wegen
Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln rechtskräftig zu einer Frei-
heitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die erlittene Untersuchungshaft wurde
angerechnet.
Am 4. Januar 1994 erhob A. Individualbeschwerde bei der Europäischen Kom-
mission für Menschenrechte (Nr. 23541/94). Die Kommission legte die Sache
dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor. Dieser entschied mit
Urteil vom 13. Februar 2001, dass das Recht auf gerichtliche Überprüfung einer
Haft dadurch verletzt worden sei, dass A. im Haftprüfungsverfahren nicht voll-
ständige Akteneinsicht gewährt wurde. Der Gerichtshof sprach A. einen Betrag
von 2 000 DM als Ersatz für seine Kosten und Auslagen zu. Dieser Betrag er-
höht sich durch die Mehrwertsteuer auf 2 320 DM (= 1 186,20 €).
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2. Fall Ax.
Die Verletzten sind die Erben des im Februar 1992 verstorbenen Ax., Mitglieds
des Politbüros des Zentralkomitees der SED der DDR. Dieser beantragte An-
fang Juli 1990 die Umstellung seiner Bankguthaben von ca. 250 000 DDR-Mark
in D-Mark. Das lehnte der bei der Volkskammer der DDR gebildete Sonderaus-
schuss ab und ordnete die Einziehung des Guthabens an, weil Ax. sich durch
Missbrauch seiner Stellung und durch grob sittenwidrige Handlungen zu Lasten
des Staatshaushalts bereichert habe. Die am 19. Oktober 1990 erhobene Klage
wies das Verwaltungsgericht Berlin mit Urteil vom 24. Mai 1993 als unbegründet
ab. Auf die am 26. Juli 1993 eingelegte Berufung hob das Oberverwal-
tungsgericht Berlin den Bescheid des Sonderausschusses mit Urteil vom 1. Juli
1997 auf. Mit Beschluss vom 5. Juni 1998 hob das Bundesverwaltungsgericht
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts mit der Begründung auf, in Sachen
nach dem Umstellungsguthabengesetz seien Rechtsmittel gegen die Urteile des
Verwaltungsgerichts ausgeschlossen. Die Verfassungsbeschwerde nahm das
Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 28. Juli 1999 nicht zur Ent-
scheidung an.
Am 15. Dezember 1999 erhoben die Erben des Ax. Individualbeschwerde zum
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, weil die Verwaltungsgerichte
durch die überlange Zeit zwischen Klageerhebung und letztinstanzlicher Ent-
scheidung Art. 6 EMRK verletzt hätten (Nr. 54999/00). Mit Einverständnis des
Klägers schloss die Beklagte mit den Erben des Ax. einen außergerichtlichen
Vergleich, in dem sie sich zur Zahlung von 3 000 € verpflichtete, womit sämtli-
che Ansprüche der Erben des Ax. im Zusammenhang mit ihrer Individualbe-
schwerde abgegolten sein sollten. Daraufhin strich der Gerichtshof das Verfah-
ren aus dem Register.
3. Fall K.
K. wurde bei ihrer Geburt im Jahre 1948 dem männlichen Geschlecht zugeord-
net. 1991 gab das Amtsgericht ihrem Antrag auf Führung eines weiblichen Vor-
namens statt. 1992 erhob K. Klage gegen ihre private Krankenversicherung auf
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Bezahlung einer geschlechtsangleichenden Operation und weiterer Hormonthe-
rapie. Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens wies das Landgericht
Berlin die Klage mit Urteil vom 3. August 1993 ab. Bei K. liege zwar eine Mann-
zu-Frau-Transsexualität vor, die auch als Krankheit anzusehen sei. Eine
geschlechtsangleichende Operation mit weiterer Hormontherapie sei jedoch
medizinisch nicht notwendig; eine erweiterte Psychotherapie erscheine als mil-
deres Mittel. Mit Urteil vom 27. Januar 1995 hat das Kammergericht die Beru-
fung der K. zurückgewiesen. Es teilte die Auffassung des Landgerichts, dass
die Notwendigkeit einer Operation nicht nachgewiesen sei, und führte zusätzlich
an, K. habe ihre Transsexualität durch hormonelle Selbstmedikation selbst
herbeigeführt. Die Verfassungsbeschwerde der K. nahm das Bundesverfas-
sungsgericht nicht zur Entscheidung an.
K. erhob am 6. Mai 1997 Individualbeschwerde (Nr. 35968/97). Mit Urteil vom
12. Juni 2003 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass
die deutschen Gerichte Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt hätten. Zum einen sei ihre
Auslegung des Begriffs der „medizinischen Notwendigkeit“ und ihre Würdigung
des diesbezüglichen Beweismaterials einem fairen Verfahren nicht angemessen
gewesen. Zum anderen habe das Kammergericht angesichts der Ungewissheit,
die in der Fachwissenschaft über das Wesen der Transsexualität herrsche,
seine Würdigung, K. habe ihre Transsexualität selbst herbeigeführt, auf
unzureichender Grundlage getroffen. Der Gerichtshof entschied ferner, die
deutschen Gerichte hätten zugleich auch das in Art. 8 EMRK verankerte Recht
auf Achtung des Privatlebens verletzt. Sie hätten keinen gerechten Ausgleich
zwischen den Interessen der K. und denjenigen der beklagten Krankenversi-
cherung gefunden, indem sie der K. die Beweislast für die Notwendigkeit der
beabsichtigten medizinischen Behandlung auferlegt hätten. Der Gerichtshof
sprach K. einen Betrag von 15 000 € als immateriellen Schadensersatz sowie
weitere 2 500 € für Auslagen und Kosten zu.
Da sich der Kläger weigerte, bezahlte die Beklagte die genannten Beträge an
die jeweiligen Beschwerdeführer. Sie ist der Auffassung, der Kläger sei ihr zur
Erstattung verpflichtet. Hierzu trägt sie vor: Die Erstattungspflicht ergebe sich
aus Art. 104a Abs. 6 Satz 1 GG und dem in Ausführung hierzu ergangenen
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Lastentragungsgesetz. Diese Regelungen seien zwar erst im Zuge der Födera-
lismusreform 2006 in Kraft getreten, erfassten aber nach Wortlaut, Sinn und
Zweck auch die vorliegenden Altforderungen. Zuvor habe sich die Erstattungs-
pflicht des Klägers aus den Grundsätzen über die Herausgabe einer ungerecht-
fertigten Bereicherung ergeben. Die Voraussetzungen eines bereicherungs-
rechtlichen Erstattungsanspruchs seien gegeben. Sie - die Beklagte - habe an
die verletzten Dritten Zahlungen geleistet, die eigentlich dem Kläger oblegen
hätten, und damit auf fremde Schuld gezahlt, ohne dass hierzu ein Rechtsgrund
bestünde. Es treffe nicht zu, dass sie mit der Zahlung eine eigene Pflicht erfüllt
habe. Völkerrechtlich sei zwar die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet; das
meine aber nicht den Bund, sondern den Bund und Länder umgreifenden
Gesamtstaat. Das Völkerrecht verhalte sich nicht dazu, welche Ebene in-
nerstaatlich verpflichtet sei. Das sei hier aber der Kläger. Er sei gemäß Art. 30,
70, 83, 92 GG im vorliegenden Falle zuständig. Nur er könne daher die Kon-
ventionsverletzung beseitigen (Art. 46 EMRK); nur er sei deshalb auch zum
Schadensersatz verpflichtet (Art. 41 EMRK). Das ergebe sich aus Art. 104a
Abs. 1 GG, wonach die Länder die aus ihrer Aufgabenwahrnehmung entste-
henden Kosten zu tragen hätten. Hiervon habe sie - die Beklagte - den Kläger
freigestellt. Sie sei jedoch weder verpflichtet noch auch nur berechtigt, diese
Kosten aus dem Bundeshaushalt zu bestreiten. Die Urteile des EGMR könnten
einen Rechtsgrund schon deshalb nicht abgeben, weil sie lediglich das völker-
rechtliche Außenverhältnis beträfen, sich aber zur innerstaatlichen Kompetenz-
verteilung nicht verhielten. Außer auf Bereicherungsgrundsätze lasse sich der
Erstattungsanspruch noch auf die Grundsätze der Geschäftsführung ohne Auf-
trag und hilfsweise auch auf eine analoge Anwendung von Art. 104a Abs. 5 GG
stützen, jedenfalls wenn - wie es geboten erscheine - bei Kostenlasten aus der
Verletzung völkerrechtlicher Pflichten auf die Beschränkung der Verwaltungs-
haftung auf eine Verschuldenshaftung verzichtet werde.
Der Kläger entgegnet, das Bundesverwaltungsgericht könne über die zur Auf-
rechnung gestellte Forderung der Beklagten nicht entscheiden, da insoweit eine
verfassungsrechtliche Streitigkeit vorliege. Die Forderung bestehe im Übrigen
nicht. Zu Unrecht nehme die Beklagte an, er - der Kläger - sei im Außenver-
hältnis zum Verletzten unmittelbar selbst verpflichtet. Vertragschließende Partei
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der Menschenrechtskonvention sei allein die Beklagte. Verpflichtungen aus den
Urteilen des EGMR träfen daher ebenfalls nur die Beklagte. Das gelte für die
Pflicht zur Befolgung der Urteile wie zur Leistung von Schadensersatz. Hierfür
sei die innerstaatliche Kompetenzverteilung gleichgültig. Mit ihren Zahlungen
habe die Beklagte daher eine eigene Verpflichtung erfüllt. Das stehe einem Er-
stattungsanspruch nach Bereicherungsrecht oder nach den Grundsätzen der
auftraglosen Geschäftsführung entgegen. Die Beklagte könne die Länder in-
nerstaatlich nur mit den Mitteln in Anspruch nehmen, die das Grundgesetz vor-
sehe. Für einen Rückgriff der Beklagten gegenüber dem jeweiligen Land für
geleistete Schadensersatzzahlungen nach Art. 41 EMRK fehle es aber an einer
Rechtsgrundlage. Die erst am 1. September 2006 in Kraft getretene Neufas-
sung des Art. 104a GG und das erst am 12. September 2006 in Kraft getretene
Lastentragungsgesetz seien auf Altfälle wie den vorliegenden nicht anwendbar.
Das zuvor geltende Recht enthalte eine vergleichbare Bestimmung nicht.
Art. 104a Abs. 1 GG begründe keinen Haftungsanspruch, Art. 104a Abs. 5 GG
lediglich einen solchen im Bereich des Verwaltungshandelns, aber nicht im Be-
reich des Justizhandelns.
II
Die Klage betrifft keine verfassungsrechtliche Streitigkeit und ist daher im Ver-
waltungsrechtsweg zulässig (§ 40 Abs. 1 Satz 1, § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO; vgl.
Urteil vom 24. Januar 2007 - BVerwG 3 A 2.05 - m.w.N.). Das Bun-
desverwaltungsgericht ist auch sachlich zuständig; § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist
- selbst bei der gebotenen einschränkenden Auslegung - anwendbar (ebd.
m.w.N.).
Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Klageforderung bestand zwar; sie ist je-
doch im Wege der Aufrechnung erloschen.
1. Das Bundesverwaltungsgericht kann über die zur Aufrechnung gestellten
Gegenforderungen entscheiden. Auch hierbei handelt es sich um eine öffent-
lich-rechtliche Forderung nichtverfassungsrechtlicher Art (§ 40 Abs. 1 Satz 1,
§ 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die Beklagte stützt ihre Gegenforderungen auf das
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Gesetz zur Lastentragung im Bund-Länder-Verhältnis bei Verletzung von sup-
ranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen (Lastentragungsgesetz
- LastG), das als Art. 15 des Föderalismusreform-Begleitgesetzes vom 5. Sep-
tember 2006 (BGBl I S. 2098) verkündet worden ist. Dies ist in formeller Hin-
sicht ein im Rang unter dem Verfassungsrecht stehendes Bundesgesetz und
enthält auch in materieller Hinsicht kein Verfassungsrecht. Wie sogleich zu zei-
gen sein wird, findet das Lastentragungsgesetz auf die zur Aufrechnung gestell-
ten Gegenforderungen auch tatsächlich Anwendung. Damit bedarf keiner Ent-
scheidung, ob die Gegenforderungen vor Erlass dieses Gesetzes verfassungs-
rechtlicher Art waren und welche prozessualen Konsequenzen hieraus zu zie-
hen gewesen wären.
2. Die Gegenforderungen der Beklagten finden in §§ 1, 4 und 5 LastG ihre
rechtliche Grundlage.
a) Das Lastentragungsgesetz ist auf Altfälle wie die vorliegenden anwendbar.
Welchen zeitlichen Geltungsbereich sich ein Gesetz beilegt, ist dem Gesetz
selbst zu entnehmen. Eine ausdrückliche Bestimmung findet sich freilich weder
im Lastentragungsgesetz selbst noch im Föderalismusreform-Begleitgesetz im
Übrigen. Allerdings meint der Kläger, aus der Wahl des Präsens in § 5 Abs. 1
LastG - „Soweit der Bund die Leistungspflichten im Außenverhältnis zu der zwi-
schenstaatlichen Einrichtung erfüllt oder die finanziellen Lasten aus anderen
Gründen unmittelbar beim Bund eintreten ...“ - lasse sich schließen, dass das
Gesetz auf Altfälle keine Anwendung finden solle; andernfalls hätte es heißen
müssen „erfüllt hat“ und „eingetreten sind“. Dem kann nicht gefolgt werden. Die
Wahl des Präsens entspricht dem Charakter der Vorschrift als einer allgemei-
nen Regel. Eine zusätzliche Aussage über den zeitlichen Geltungsbereich des
gesamten Gesetzes kann dem nicht entnommen werden. Das stünde auch
nicht zu erwarten. Aussagen über den zeitlichen Geltungsbereich eines Geset-
zes finden sich üblicherweise als Übergangsbestimmungen am Ende eines Ge-
setzes. Solche Übergangsbestimmungen fehlen hier.
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Allerdings beruht das Lastentragungsgesetz auf Art. 104a Abs. 6 Satz 4 GG in
der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August
2006 (BGBl I S. 2034). Es erfasst Altfälle mithin nur, wenn auch Art. 104a
Abs. 6 GG Altfälle erfasst. Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes trifft
indes für Art. 104a Abs. 6 GG ebenfalls keine Regelung über den zeitlichen
Anwendungsbereich. Übergangsbestimmungen enthält es lediglich in den
Art. 125a ff. und in Art. 143c GG n.F. Diese betreffen jedoch andere Verfas-
sungsänderungen; hieraus lässt sich für den zeitlichen Geltungsbereich des
Art. 104a Abs. 6 GG nichts gewinnen.
Die Neuregelung der Lastentragung im Bund-Länder-Verhältnis bei Verletzung
von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen nur auf Neufälle zu
beziehen, bislang offene Altfälle von ihrer Geltung hingegen auszunehmen,
widerspräche aber ihrem Sinn und Zweck. Die Regelung des X. Abschnitts des
Grundgesetzes (Art. 104a ff. GG) muss aus zwingenden bundesstaatlichen
Gründen als eine für Bund und Länder abschließende Regelung verstanden
werden (BVerfG, Urteil vom 6. November 1984 - 2 BvL 19/83 u.a. - BVerfGE 67,
256 <286>; vgl. Urteil vom 28. März 2002 - 2 BvG 1, 2/01 - BVerfGE 105, 185
<193 f.>). Dementsprechend soll Art. 104a GG die Finanzierungslast für
Verwaltungs- und für Zweckausgaben aus der Wahrnehmung öffentlicher Auf-
gaben umfassend regeln. Auf diesem Hintergrund ist zwischen Bund und Län-
dern Streit entstanden, ob und in welchem Sinne Art. 104a GG auch die Finan-
zierungslast aus der Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen
Verpflichtungen erfasst. Dieser Streit wurde durch Einfügung des Art. 104a
Abs. 6 GG und durch Erlass des Lastentragungsgesetzes beigelegt. Damit soll-
te Art. 104a GG seiner Funktion, die Verteilung der Finanzierungslasten aus der
Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben zwischen Bund und Ländern grundsätzlich
abschließend zu regeln, wieder - oder deutlicher und besser als bislang -
gerecht werden. Dem widerspräche es jedoch, durch Einschränkungen des
zeitlichen Geltungsbereichs der Neuregelung Regelungslücken zu belassen
oder gar neue zu schaffen.
Es kann auch nicht angenommen werden, dass dies in der Absicht des Ge-
setzgebers gelegen hätte. Das würde voraussetzen, dass der Gesetzgeber der
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Föderalismusreform und des Lastentragungsgesetzes seine eigene Regelung in
Ansehen der Altfälle selbst für nicht sachgemäß erachtet oder sonst einen
sachlichen Grund gesehen hätte, Altfälle von ihr auszunehmen. Dafür fehlt jeg-
licher Anhaltspunkt. Mit Recht weist die Beklagte darauf hin, dass jeder Ge-
setzgeber eine Neuregelung im Zweifel für eine sachgerechte Lösung des je-
weiligen Problems ansehen und ihr eine möglichst umfassende Geltung auch in
zeitlicher Hinsicht zuerkennen will, sofern nicht ausnahmsweise nachvollziehba-
re, d.h. willkürfreie Gründe für eine zeitliche Geltungseinschränkung bestehen.
Für seine gegenteilige Annahme verweist der Kläger auf die Einschätzung im
Entwurf des Föderalismusreform-Begleitgesetzes, dass die Regelungen zur
Lastentragung zwischen Bund und Ländern „keine unmittelbaren haushaltsmä-
ßigen Auswirkungen“ hätten (BTDrucks 16/814 S. 25). Dieser Hinweis ist im
vorliegenden Zusammenhang unergiebig. Eine „unmittelbare haushaltsmäßige
Auswirkung“ konnte die Neuregelung nur entfalten, wenn sie Erstattungsan-
sprüche begründet hätte, die zuvor nicht bestanden hatten. Gerade dies war
aber zwischen Bund und Ländern umstritten, ohne dass der Gesetzgeber zu
den gegensätzlichen Standpunkten zum alten Recht hätte Stellung nehmen
wollen. In diesem Sinne weist die Begründung für den Entwurf des Föderalis-
musreform-Begleitgesetzes mehrfach darauf hin, dass Art. 104a Abs. 6 GG und
das Lastentragungsgesetz die bislang zwischen Bund und Ländern streitige
Frage der Lastentragung klären sollten (BTDrucks 16/814 S. 13, 21); und zur
Begründung für den Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
heißt es, dass die Lastentragung nunmehr „ausdrücklich geregelt“ und dadurch
eine „klarere Zuordnung der Finanzverantwortung“ erreicht werden solle
(BTDrucks 16/813 S. 10). All dies spricht dafür, dass der Gesetzgeber den vor-
herigen Streit umfassend beilegen wollte. Dann verbietet sich aber die Annah-
me, er habe den Streit jedenfalls für Altfälle offen halten wollen.
b) Das Lastentragungsgesetz gilt nicht nur überhaupt für Altfälle; es gilt für sie
auch rückwirkend. Der Erstattungsanspruch entsteht gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1
LastG im Zeitpunkt der Erfüllung der Leistungspflicht durch den Bund. Das gilt
auch dann, wenn dieser Zeitpunkt vor dem Inkrafttreten des Lastentragungsge-
setzes liegt; das Entstehen des Erstattungsanspruchs ist in Altfällen nicht etwa
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bis zum Inkrafttreten des Lastentragungsgesetzes gehemmt. Insofern werden
auch alle Rechtswirkungen, die an das Entstehen des Anspruchs geknüpft sind,
„rückbewirkt“: So hat die Verjährung bereits zu laufen begonnen, so dass denk-
bar ist, dass Erstattungsansprüche für länger zurückliegende Leistungen des
Bundes bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits verjährt waren. Auch die Erfül-
lungswirkung einer Aufrechnung trat zu dem Zeitpunkt ein, zu dem der Erstat-
tungsanspruch des Bundes und der Gegenanspruch zur Aufrechnung geeignet
einander gegenübergetreten sind (§ 389 BGB); auch insofern ist der Erstat-
tungsanspruch mit der Leistung des Bundes und nicht erst mit dem Inkrafttreten
des Art. 104a Abs. 6 GG oder des Lastentragungsgesetzes entstanden.
Damit setzt sich der Senat nicht in Gegensatz zu dem Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts vom 17. Oktober 2006 - 2 BvG 1/04, 2 BvG 2/04 - (NVwZ 2007,
190). Dort hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Art. 104a
Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 GG in den Fällen der gemeinschaftsrechtlichen Anlas-
tung eine unmittelbar anwendbare Haftungsgrundlage ist. Das Urteil beruht auf
der mündlichen Verhandlung vom 4. Juli 2006 und dem zu diesem Zeitpunkt
geltenden Recht; es konnte Art. 104a Abs. 6 GG n.F., der erst am 1. September
2006, und das Lastentragungsgesetz, das erst am 12. September 2006 in Kraft
getreten ist, noch nicht berücksichtigen. Das Urteil enthält sich auch einer
vorausblickenden Aussage zum - bereits absehbaren - neuen Recht. Es steht
damit einer Auslegung, die dem neuen Recht rückwirkende Geltung zuerkennt,
nicht entgegen. Aus den Grundsätzen der Rechtskraft oder aus der Bindungs-
wirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nach § 31 Abs. 1
BVerfGG ergibt sich nichts anderes. Beide Rechtsinstitute finden ihre Grenze
bei späteren Änderungen des Verfassungs- und des verfassungsgeprägten
Rechts, auch wenn diese sich rückwirkende Kraft beilegen (allg. Meinung; vgl.
Rennert in: Umbach/Clemens , Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG,
1. Aufl. 1992, Rn. 91, 47 ff. zu § 31 BVerfGG m.w.N.).
3. Die Voraussetzungen der §§ 1, 4 und 5 LastG sind hier für alle drei Gegen-
forderungen der Beklagten erfüllt.
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a) Die Bundesrepublik Deutschland war wegen der Verletzung völkerrechtlicher
Verpflichtungen im Bereich der Rechtsprechung zu finanzwirksamen Leistun-
gen, nämlich zu Entschädigungen an die Verletzten auf der Grundlage von
Art. 41 EMRK, verpflichtet (§ 1 Abs. 1 LastG). Der Bund hat die Entschädigun-
gen geleistet; damit sind die finanziellen Lasten unmittelbar bei ihm eingetreten
(§ 5 Abs. 1 Alt. 2 LastG). Darum kann er vom Kläger Erstattung verlangen, so-
weit die lastenbegründende Pflichtverletzung in dessen innerstaatlichem
Zuständigkeits- und Aufgabenbereich erfolgt ist (§ 5 Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1
LastG).
Bei Verletzungen völkerrechtlicher Verpflichtungen durch die Gerichte geht § 4
LastG davon aus, dass die Verpflichtung zur Entschädigung durch eine Verur-
teilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erfolgt. Die
Vorschrift ist aber entsprechend anwendbar, wenn eine Verurteilung durch ei-
nen Vergleich abgewendet wird, der in dem Verfahren oder während des Ver-
fahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geschlossen
wird. Auch eine durch Vergleich begründete Pflicht zum Ersatz von Schäden
und zum Ausgleich von Kosten beruht auf Art. 41 EMRK und stellt eine Ver-
pflichtung zu finanzwirksamen Leistungen wegen der Verletzung völkerrechtli-
cher Verpflichtungen im Sinne von Art. 104a Abs. 6 Satz 1 GG und § 1 Abs. 1
LastG dar. Wollte man sie aus dem Anwendungsbereich von § 4 LastG he-
rausnehmen, so entstünde eine ersichtlich ungewollte Regelungslücke; zudem
würde die Vergleichsbereitschaft des Bundes als Verfahrensvertreter ge-
schwächt.
Worin die lastenbegründende Pflichtverletzung zu sehen ist, richtet sich bei ei-
ner Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allein
nach dem in der Entscheidung festgestellten Sachverhalt; abweichende
Feststellungen im Erstattungsverfahren verbieten sich (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 1
LastG; BTDrucks 16/814 S. 22). Auch wenn die vom Bund geleistete Zahlung
auf einem Vergleich beruht, ist grundsätzlich allein der dem menschenrechtsge-
richtlichen Verfahren zugrundeliegende Sachverhalt maßgebend. Zwar fehlt hier
die Feststellung in einem Urteil des Gerichtshofs. Vielfach wird dem Vergleich
aber ein Beschluss des Gerichtshofs über die Zulässigkeit einzelner Rügen
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vorangehen, der genügende Feststellungen enthält. Im Übrigen sind die den
Vergleich tragenden übereinstimmenden Vorstellungen des Beschwerdeführers
und des Bundes als des Verfahrensführers der Bundesrepublik Deutschland
maßgeblich.
b) Bei Mitverursachungsanteilen von Bundesgerichten richtet sich die Lasten-
verteilung nach § 4 LastG, der im Sinne von § 1 Abs. 2 LastG konkretisiert und
gegebenenfalls insofern „etwas anderes bestimmt“.
aa) Bei den Fällen A. und K. ist die Verurteilung durch den EGMR wegen einer
Verletzung von Verpflichtungen durch die Gerichte des Klägers erfolgt (§ 4
Abs. 1 Satz 1 LastG). Deshalb haftet der Kläger in diesen beiden Fällen in vol-
lem Umfang. Eine Teilung der Lasten zwischen Bund und Land gemäß § 4
Abs. 1 Satz 2 LastG scheidet aus. Nach dieser Vorschrift tragen der Bund und
das betroffene Land die Lasten je zur Hälfte, wenn ein Gericht des Bundes die
Entscheidung des Gerichts eines Landes bestätigt hat. Eine Bestätigung in die-
sem Sinne liegt nur vor bei einer sachlichen Überprüfung der Entscheidung des
Landesgerichts etwa in einem Revisionsverfahren oder in einem Verfassungs-
beschwerdeverfahren, wenn die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung
angenommen wurde. An einer sachlichen Prüfung fehlt es hingegen, wenn das
Bundesgericht einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des Landesgerichts
als unzulässig verwirft. Ebenso liegt es, wenn eine Revision nicht zugelassen
oder eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird.
Selbst wenn dies durch einen näher begründeten Beschluss des Bundesge-
richts erfolgt, so geschieht dies doch in einem Zwischen- oder Vorprüfungsver-
fahren und dient allein der Prüfung, ob die verfahrensrechtlichen Vorausset-
zungen für die Zulassung der Revision oder für die Annahme der Verfassungs-
beschwerde vorliegen, und nicht der sachlichen Überprüfung der Entscheidung
des Landesgerichts. In den Fällen A. und K. hat keine Vollprüfung der Sache
durch ein Bundesgericht stattgefunden. Dass das Bundesverfassungsgericht
jeweils Verfassungsbeschwerden gegen die letztinstanzlichen Entscheidungen
der Berliner Landesgerichte nicht zur Entscheidung angenommen hat, führt
nach dem Vorstehenden nicht zur Lastenbeteiligung des Bundes.
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bb) Im Fall Ax. hatten die Beschwerdeführer die Dauer eines Verfahrens gerügt,
das sowohl bei Gerichten des Klägers als auch bei Gerichten des Bundes
anhängig war. Damit findet § 4 Abs. 2 LastG Anwendung. Hiernach werden bei
Verurteilungen wegen überlanger Verfahrensdauer und Anhängigkeit sowohl
bei Gerichten des Bundes als auch eines Landes die Lasten im Verhältnis der
Anteile der beteiligten Gerichte an der Verfahrensdauer getragen. Die Vorschrift
hat sich für eine schematische Aufteilung allein nach Zeitanteilen entschieden.
Auch insofern soll das Erstattungsverfahren von der Last eigenständiger Fest-
stellungen zu dem Menschenrechtsverstoß freigehalten werden. Damit ist für
§ 4 Abs. 2 LastG unerheblich, mit welchem Maß an Pflichtwidrigkeit das eine
oder das andere Gericht durch seine Verfahrensweise zu einer insgesamt über-
langen Verfahrensdauer beigetragen hat. Etwas anderes gilt nur, wenn sich aus
der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte oder,
wenn eine solche durch Vergleich abgewendet wurde, aus dem diesem zu-
grundegelegten Sachverhalt ergibt, dass die Pflichtverletzung nur einem oder
einzelnen der Gerichte, bei denen die Sache anhängig war, angelastet wird;
dann beschränkt sich die Anwendung von § 4 Abs. 2 LastG auf die Träger die-
ser Gerichte. Das folgt aus dem in § 1 Abs. 2 LastG niedergelegten allgemeinen
Grundsatz, der die Pflicht zur Lastentragung grundsätzlich an die Feststellung
einer Pflichtverletzung knüpft.
Im Fall Ax. wurde das Verfahren vor dem EGMR durch einen Vergleich been-
det, in dem sich der Bund zur Zahlung von 3 000 € verpflichtet hat. Dem lag die
übereinstimmende Auffassung der Vergleichsparteien und des Landes zugrun-
de, dass „Zweifel an der Angemessenheit der Verfahrensdauer ... allein im Hin-
blick auf das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht und dem Oberverwal-
tungsgericht“ bestehen. Angesichts dessen scheidet eine Lastenteilung aus, so
dass der Erstattungsanspruch des Bundes auch im Fall Ax. in vollem Umfang
besteht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Kley
van Schewick
Dr. Dette
Liebler
Prof. Dr. Rennert
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Sachgebiet:
BVerwGE
nein
Verteilung von Finanzierungslasten zwischen
Fachpresse nein
Bund und Ländern
Rechtsquellen:
GG
Art. 104a Abs. 6
LastG §§ 1, 4, 5
EMRK Art. 41
Stichworte:
Finanzverfassung; Lastentragung; Lastentragungsgesetz; Altfälle; Rückwirkung;
Pflichtverletzung; Menschenrechtskonvention; Konventionsverstoß; EGMR;
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte; Völkerrecht; Verletzung völker-
rechtlicher Verpflichtungen; überlange Verfahrensdauer; Erstattung; Mitverur-
sachung; Vergleich.
Leitsatz:
Das Lastentragungsgesetz wirkt zeitlich unbegrenzt zurück.
Bei Verletzungen völkerrechtlicher Verpflichtungen durch Gerichte ist § 4 LastG
auch dann anzuwenden, wenn die Entschädigung an den Verletzten nicht auf-
grund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, son-
dern aufgrund eines Vergleichs gezahlt wurde, durch den ein solches Urteil ab-
gewendet werden sollte.
Worin die lastenbegründende Pflichtverletzung zu sehen ist, richtet sich allein
nach dem in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs festgestellten
oder, wenn eine solche durch Vergleich abgewendet wurde, nach dem diesem
Vergleich zugrundegelegten Sachverhalt.
Ein Bundesgericht hat die Entscheidung des Gerichts eines Landes nur dann im
Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 LastG „bestätigt“, wenn es die Entscheidung in
einem Rechtsbehelfsverfahren sachlich geprüft und gebilligt, nicht dagegen,
wenn es das Rechtsmittel als unzulässig verworfen oder nicht zugelassen oder
einen Rechtsbehelf nicht zur Entscheidung genommen hat.
Lasten aus Verurteilungen Deutschlands wegen überlanger Verfahrensdauer
bei Landes- wie bei Bundesgerichten sind grundsätzlich schematisch nach
Zeitanteilen aufzuteilen.
Urteil des 3. Senats vom 26. April 2007 - BVerwG 3 A 7.05