Urteil des BVerwG vom 18.11.2010

Zweiter Weltkrieg, Demontage, Begriff, Öffentlich

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 A 1.09
Verkündet
am 18. November 2010
Harnisch
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 18. November 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler, Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert,
Buchheister und Dr. Wysk
für Recht erkannt:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
G r ü n d e :
I
Die Beteiligten streiten um Kosten, die dem klagenden Land für die Beseitigung
von Bodenverunreinigungen am ehemaligen Rüstungsstandort Stadtallendorf
entstanden sind.
Während des Zweiten Weltkriegs betrieb die Dynamit AG (DAG) im hessischen
Ort Allendorf eines der größten Sprengstoffwerke Europas. Ab 1941 wurde dort
Trinitrotoluol (TNT) hergestellt. Die für die Produktion benötigten flüssigen Aus-
gangsstoffe waren in unterirdischen Tanks gelagert. Deren Befüllung und Ent-
leerung sowie die Weiterleitung der Chemikalien an die Produktionsstätten er-
folgte über ein unterirdisches Rohrleitungsnetz. Die Fließrichtung konnte mithilfe
von Absperrschiebern gesteuert werden, die in Schieberschächten eingebaut
waren. Das Tanklager II mit einer Kapazität von 6 000 Tonnen in Einzeltanks
à 100 m³ befand sich im Bereich der heutigen Kinzigstraße von Stadtallendorf.
Die Produktion dort wurde im März 1945, kurz vor der Besetzung des Ortes
durch amerikanische Panzerverbände, eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt waren
im Werk noch umfangreiche Bestände an Munition, Sprengstoffen, Vor- und
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Zwischenprodukten sowie Hilfsstoffen vorhanden. Die Militärregierung Groß-
Hessen erteilte dem Hessischen Wirtschaftsminister unter dem 19. Januar 1946
den Befehl, sofortige Anweisungen zur nachhaltigen Zerstörung des Werkes zu
erlassen. Der Betrieb sei durch Einstellung jeglicher Herstellung völlig
stillzulegen, alle brauchbaren Rohstoffe seien zu entfernen und die nicht
brauchbaren zu vernichten, alle größeren Zu- und Ableitungen trockenzulegen
und zu zerstören. Das Ministerium kam dem Demontagebefehl mit Anordnun-
gen an die Geschäftsleitung des Werks vom 24. Januar 1946 nach. Die De-
montagearbeiten begannen im Juni 1946 und zogen sich bis Ende Januar 1949
hin. Dabei wurden unter anderem die Rohrleitungen entleert und unbrauchbar
gemacht und die Tanklager ausgebaut. Auf dem Gelände wurden später Be-
triebe angesiedelt und Wohnnutzung zugelassen.
Ab 1988 wurden die Verunreinigungen des Bodens durch schädliche Vorpro-
dukte der Sprengstoffherstellung auf dem Gelände des Sprengstoffwerkes sys-
tematisch erkundet. Im Bereich des Schieberschachts des Tanklagers II bis
südlich der Kinzigstraße wurden im Jahr 2003 hohe Konzentrationen von Mono-
Nitrotoluol (MNT) festgestellt. Der Kläger sanierte das Gelände in den Fol-
gejahren im Wesentlichen durch den Austausch von Erdreich. Verhandlungen
des Klägers mit dem Bund über eine Kostenübernahme verliefen erfolglos.
Mit seiner am 24. Dezember 2009 erhobenen Klage verlangt das Land die Er-
stattung eines Teils dieser Sanierungskosten. Es macht eine Einstandspflicht
der Bundesrepublik nach dem Ersten Überleitungsgesetz und aus Art. 120 GG
geltend. Das Schadensbild und die Feststellungen bei der Sanierung zeigten,
dass die massiven Bodenverunreinigungen im Bereich des Tanklagers II nur
durch den Ausbau der Absperrschieber entstanden sein könnten; eine Scha-
densentstehung während der Betriebsphase des Werkes sei praktisch ausge-
schlossen, wie auch ein Gutachten des TÜV Hessen vom 11. Januar 2010 bes-
tätige. Die Sanierungskosten seien Aufwendungen zur Entmilitarisierung im
Sinne des Ersten Überleitungsgesetzes, dessen Fortgeltung der Gesetzgeber
wiederholt bestätigt habe. Das Werk Allendorf sei auf Anordnung der Besat-
zungsmächte abgebaut und zerstört worden. Die dazu erforderlichen Aufwen-
dungen umfassten auch die Beseitigung notwendig auftretender Folgeschäden.
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Um solche habe es sich gehandelt. Die Arbeiten hätten unter hohem Zeitdruck,
mit einfachsten Mitteln und angeworbenen Hilfskräften ausgeführt werden
müssen; Schäden seien unvermeidlich gewesen und von den Besatzungs-
mächten in Kauf genommen worden. Dass bei dem Entfernen der Schieber
Flüssigkeit aus den Rohrleitungen auslaufen würde, sei nicht absehbar gewe-
sen und nicht vorwerfbar. Unabhängig davon ergebe sich der Anspruch unmit-
telbar aus Art. 120 Abs. 1 GG. Die Beklagte habe in der Vergangenheit Auf-
wendungen nicht nur für die Entmilitarisierungsmaßnahmen selbst übernom-
men, sondern auch für die Abwehr der dadurch verursachten Gefahren und
Schäden an den Rechtsgütern Dritter. Die Staatspraxis der Beklagten sei daher
nicht nur durch die Beseitigung reichseigener Munition geprägt gewesen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 2 858 957 € zuzüglich
Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basis-
zinssatz seit dem 24. Dezember 2009 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie betrachtet die tatsächlichen Abläufe als nicht hinreichend geklärt. Das TÜV-
Gutachten beruhe nur auf Angaben des Klägers und auf Vermutungen. Die an-
geführten Umstände und Unterlagen ließen nicht erkennen, dass ein bei der
Entmilitarisierung angeordneter Abbau von Absperrschiebern die Unterbre-
chung des Leitungsnetzes verursacht habe. Auch sei unklar, wer und zu wel-
chem Zeitpunkt Absperrschieber ausgebaut habe und ob zum Zeitpunkt des
Ausbaus die Rohrleitungen noch befüllt gewesen seien. Als Schadensursache
denkbar sei auch etwa eine Leckage während des Betriebs des Werkes. Je-
denfalls aber seien die Aufwendungen nicht bei der Durchführung der Entmilita-
risierung im Sinne des Überleitungsgesetzes entstanden. Eine Entmilitarisie-
rung in diesem Sinne gebe es seit Ende der Besatzungszeit nicht mehr, die
Vorschrift sei obsolet geworden. Im Übrigen würden nur notwendig entstehende
Schäden erfasst. Das Entfernen der Schieber ohne Nachprüfung, ob sich noch
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Flüssigkeit in den Rohrleitungen befunden habe, sei aber nachlässig gewesen.
Die Absicht des Gesetzes gehe nicht dahin, dem Bund eine Einstandspflicht für
Folgeschäden aufzuerlegen, die infolge von Pflichtverstößen eingetreten seien.
Aus Art. 120 GG ergebe sich der Anspruch ebenfalls nicht. Die Vorschrift biete
schon keine Grundlage für unmittelbare Ansprüche. Davon abgesehen handele
es sich um Kosten einer Altlastensanierung, die nach Art. 104a Abs. 1 GG zum
Aufgabenbereich der Länder gehöre. Den Begriff der Kriegsfolgelasten habe
das Bundesverfassungsgericht dahin definiert, dass es sich um die Lasten sol-
cher Kriegsfolgen handeln müsse, deren entscheidende und alleinige Ursache
der Zweite Weltkrieg sei. Die Sanierungsbedürftigkeit beruhe aber auf einem
Fehlverhalten bei der Demilitarisierung. Es sei schon damals bekannt gewesen,
dass die Einleitung hochgiftiger Stoffe in den Boden erhebliche Schäden mit
sich bringen könne. Der Kläger könne sich auch nicht auf eine ihm günstige
Staatspraxis berufen. Sie, die Beklagte, habe bisher nur solche Aufwendungen
getragen, die der Beseitigung ehemals reichseigener Kampfmittel auf nicht
bundeseigenen Grundstücken oder solcher Schäden gedient hätten, die direkt
durch den Ausbau oder den Abtransport von Kampfmitteln entstanden seien.
Die streitigen Bodenverunreinigungen seien aber durch Vorprodukte der TNT-
Herstellung verursacht worden, die sich noch im Eigentum der DAG befunden
hätten.
II
1. Die Klage ist zulässig. Das Bundesverwaltungsgericht ist nach § 50 Abs. 1
Nr. 1 VwGO in erster und letzter Instanz zuständig. Der Rechtsstreit betrifft eine
öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art. Maßgeblich ist
die Rechtsnatur des geltend gemachten Erstattungsanspruchs, den der Kläger
aus öffentlich-rechtlichen Normen herleitet, indem er sich auf das Erste Überlei-
tungsgesetz und auf Art. 120 Abs. 1 GG beruft. Dieser Erstattungsanspruch ist
dem Verwaltungsrecht zuzurechnen (vgl. Urteil vom 19. Februar 2004
- BVerwG 3 A 2.03 - Buchholz 11 Art. 120 GG Nr. 7 S. 5 = NVwZ 2004, 1125
m.w.N.).
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2. Die Klage ist nicht begründet.
a) Das Erste Gesetz zur Überleitung von Lasten und Deckungsmitteln auf den
Bund (Erstes Überleitungsgesetz) vom 28. November 1950, zuletzt geändert
durch Art. 2 Nr. 13 des Gesetzes vom 20. Dezember 1991 (BGBl I S. 2317;
bereinigte Fassung in BGBl III, Gliederungsnummer 603-3), rechtfertigt den
Erstattungsanspruch nicht. Gemäß § 1 Nr. 2 dieses Gesetzes trägt der Bund
die in § 6 bezeichneten Aufwendungen. Zu diesen zählen nach § 6 Abs. 1 Nr. 2
Aufwendungen „zur Durchführung der Entmilitarisierung“. Diese gehen aller-
dings nach § 6 Abs. 2 nur insoweit auf den Bund über, als sie durch Anordnun-
gen der Besatzungsmacht verursacht sind. Die Schäden, deren Beseitigung die
Sanierung des Geländes an der Kinzigstraße diente, sind zwar auf die Entmili-
tarisierung des Werkes in Allendorf zurückzuführen; sie sind jedoch keine der
Besatzungsmacht zurechenbare Folge der Entmilitarisierungsmaßnahmen.
Aufwendungen zur Durchführung der Entmilitarisierung schließen die Beseiti-
gung von Folgeschäden wie Bodenverunreinigungen ein, wenn diese mit einer
von der Entmilitarisierungsanordnung umfassten Maßnahme zwangsläufig oder
typischerweise verbunden sind. Das trifft etwa auf Schäden zu, die Dritten in-
folge nicht zu kontrollierender Wirkungen einer angeordneten Sprengung von
Militäranlagen entstehen. Deshalb hat der Senat die Erstattungspflicht für not-
wendige Vor- und Nacharbeiten der Kampfmittelbeseitigung bejaht (Urteil vom
14. Juni 2006 - BVerwG 3 A 6.05 - Buchholz 11 Art. 120 GG Nr. 8 Rn. 16). Der
damit vorausgesetzte Zurechnungszusammenhang wird jedoch unterbrochen,
wenn ein Folgeschaden durch ein Verhalten herbeigeführt wird, das von der
Entmilitarisierungsanordnung nicht mehr gedeckt ist. Das ergibt sich aus § 6
Abs. 2 des Ersten Überleitungsgesetzes, der dem Bund die Aufwendungen für
die Entmilitarisierung nur in dem Umfang zuordnet, in dem sie durch Anordnun-
gen der Besatzungsmacht verursacht worden sind. Damit ist keine schlichte
Ursächlichkeit im Sinne einer „conditio sine qua non“ gemeint; ebenso wenig
reicht es aus, dass die Schäden adäquate, also nicht außerhalb der Lebenser-
fahrung liegende Folgen der Anordnungen waren. Vielmehr will die Vorschrift
dem Bund nur solche Aufwendungen aufbürden, deren entscheidende - und in
diesem Sinne alleinige - Ursache der zweite Weltkrieg ist. Dieses Normver-
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ständnis legt der in derselben Weise auszulegende Begriff der Kriegsfolgelasten
im Sinne des Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG nahe (vgl. BVerfG, Beschluss vom
16. Juni 1959 - 2 BvF 5/56 - BVerfGE 9, 305 <323>), zu dessen Konkretisierung
das Erste Überleitungsgesetz ergangen ist (vgl. Sturm, DVBl 1965, 719).
Dementsprechend scheiden solche Aufwendungen aus, die durch eine grob un-
sachgemäße, in dieser Art von der Besatzungsmacht nicht vorgegebene
Durchführung einer Entmilitarisierungsanordnung verursacht worden sind. In
solchen Fällen wird der für eine Verpflichtung des Bundes notwendige Zurech-
nungszusammenhang zur Besatzungsmacht durch eine selbständige, ihr nicht
anzulastende Zwischenursache unterbrochen.
So verhält es sich hier; denn auch und gerade unter Berücksichtigung des Kla-
gevorbringens liegt eine grob unsachgemäße Ausführung der Demontage im
Bereich des Schieberschachtes vor. Das Gutachten des TÜV Hessen, dessen
Inhalt sich der Kläger zu eigen gemacht hat, bestätigt seine Behauptung, dass
die Bodenverunreinigungen durch den Abbau der Schieber und das dadurch
ermöglichte Leerlaufen der Leitungen verursacht worden sind. Zwar beschränkt
sich der Sachverständige darauf darzulegen, dass aus seiner Sicht eine große
Wahrscheinlichkeit für diesen Schadensverlauf spreche; er schließt jedoch an-
dere Kontaminationswege insbesondere wegen des Ortes und des Umfangs
der Verunreinigungen praktisch aus.
Diese Art der Beseitigung von im Tank- und Rohrleitungssystem noch befindli-
chen Betriebsstoffen war in fachlicher Hinsicht grob fehlerhaft und darüber hin-
aus offensichtlich rechtswidrig. Dass sich ein Versickernlassen hochgradig
wassergefährdender Stoffe wie Toluol oder MNT prinzipiell verbot, verstand
sich - ungeachtet der von den Chemikalien ausgehenden Explosionsgefahr -
auch seinerzeit von selbst. Das Einbringen oder Einleiten solcher das Grund-
wasser verunreinigender Stoffe in den Boden war daher auch durch § 202
Abs. 1 des Preußischen Wassergesetzes vom 7. April 1913 (GS S. 53) unter-
sagt. Dementsprechend wurden auch, wie sich aus den Ausführungen des
Sachverständigen ergibt, während des Betriebs der Anlage offenbar Vorkeh-
rungen gegen Stoffaustritte getroffen. Umso mehr musste es der Geschäftslei-
tung des Werkes, der die Ausführung der Demontage vom Ministerium aufge-
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geben worden war, ebenso wie den Überwachungsbevollmächtigten des Minis-
teriums klar sein, dass die Tanks und die Leitungen vollständig entleert worden
sein mussten, bevor die Schieber entfernt werden durften.
Die Bodenverunreinigungen fallen damit in die Verantwortung des Landes, das
die Entmilitarisierung weisungsgemäß durchzuführen hatte. Der Demontagebe-
fehl der Militärregierung forderte derart unfachgemäße Abbaumaßnahmen we-
der ausdrücklich noch mittelbar. Insbesondere konnte die Anweisung, größere
Zu- und Ableitungen trockenzulegen, nicht ernstlich dahin verstanden werden,
die Schadstoffe ungehindert in den Untergrund laufen zu lassen. Jedenfalls hat
der Kläger nicht einmal im Ansatz nachvollziehbar dargetan, dass die vorgege-
benen Bedingungen der Demontage solche Pflichtverletzungen und die dadurch
eintretenden Schäden faktisch erzwungen haben. Der dafür geltend gemachte
Zeitdruck rechtfertigt diese Annahme nicht. Zwar sah der Demontagebefehl vor,
dass der Abbau des Werkes bis zum 15. März 1946, also innerhalb von knapp
zwei Monaten, vollendet sein musste. Tatsächlich aber begannen die Arbeiten
auch nach dem eigenen Vortrag des Klägers erst im Juni und zogen sich über
mehr als zwei Jahre hin. Es spricht nichts dafür, dass in dieser Zeit oder aus
sonstigen Gründen eine fachgerechte Beseitigung der Betriebsstoffe aus den
Leitungen nicht möglich gewesen wäre.
b) Auch aus Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG kann der Kläger keine Erstattung ver-
langen.
Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, dass diese Vorschrift in be-
stimmten Fällen unmittelbar Grundlage für Erstattungsansprüche eines Bun-
deslandes gegen den Bund sein kann (vgl. Urteile vom 14. Juni 2006 a.a.O.
Rn. 9 und vom 20. Februar 1997 - BVerwG 3 A 2.95 - Buchholz 11 Art. 120 GG
Nr. 5). Die Kritik der Beklagten hieran überzeugt nicht. Die Möglichkeit verfas-
sungsunmittelbarer Ansprüche folgt aus dem Umstand, dass dem Gesetzgeber
die Befugnis zu einer Legaldefinition der vom Bund zu tragenden Kriegs-
folgelasten nicht zusteht. Der Begriff ist vielmehr unmittelbar anhand der Ver-
fassung auszulegen, und er ist hinreichend bestimmt, um Maßstäbe für die Ent-
scheidung zu geben, ob bestimmte Aufwendungen zu erstatten sind. Dass der
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Bund nach Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG die Aufwendungen für Kriegsfolgelasten
„nach näherer Bestimmung eines Bundesgesetzes“ trägt, besagt nur, dass der
Bundesgesetzgeber die Auswirkungen eines schon in der Verfassung enthalte-
nen Rechtssatzes im Einzelnen festlegen, das Verfahren zum Vollzug der Ver-
fassungsnorm ordnen und Zweifelsfragen bei der Abgrenzung der Kriegs-
folgelasten entscheiden soll (BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 1959 a.a.O.
S. 325). Fehlt jedoch ein solches Gesetz oder erweist es sich gemessen an
Art. 120 GG als lückenhaft, so ist auf die von der Verfassung vorgegebene Las-
tenverteilung zurückzugreifen. Darin ist die Befugnis der Fachgerichte einge-
schlossen, unzureichend ausgestaltete Ansprüche entsprechend den verfas-
sungsrechtlichen Vorgaben unmittelbar aus Art. 120 Abs. 1 GG zuzusprechen.
Wenn das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 24. Juli 1962 - 2 BvL 15,
16/61 - (BVerfGE 14, 221 <233>) ausführt, aus Art. 120 Abs. 1 GG könnten
Ansprüche gegen die öffentliche Hand wegen Schäden nicht hergeleitet wer-
den, die durch den Krieg oder durch Kriegsfolgen verursacht wurden, zielt das
lediglich auf die in jenem Verfahren betrachteten Ansprüche Dritter, betrifft aber
nicht die in Art. 120 Abs. 1 GG geregelte finanzwirtschaftliche Verteilung der
Kriegsfolgelasten zwischen dem Bund und den Ländern.
Eines unmittelbaren Rückgriffs auf Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG bedarf es aber
nicht, wenn die durch ihn begründeten Ansprüche im einfachen Gesetzesrecht
verfassungskonform ausgestaltet sind. Das ist für Aufwendungen, die einem
Land infolge einer Anordnung der Besatzungsmächte zur Entmilitarisierung
entstanden sind, in § 1 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 des Ers-
ten Überleitungsgesetzes in der gebotenen Weise geschehen.
c) Auch die von Art. 120 Abs. 1 Satz 3 GG in Bezug genommene Staatspraxis
(dazu Urteil vom 14. Juni 2006 a.a.O. Rn. 10) ergibt keinen Anspruch des Klä-
gers. Eine Übung des Bundes, auch Aufwendungen zu tragen, die durch ein
dem jeweiligen Land zuzurechnendes Fehlverhalten verursacht worden sind,
behauptet auch der Kläger nicht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Kley
Liebler
Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert
Buchheister
Dr. Wysk
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Allgemeines Kriegsfolgenrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
Erstes Überleitungsgesetz
§ 1 Nr. 2; § 6 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2
GG
Art. 120 Abs. 1
Potsdamer Abkommen
III A Nr. 3
Preuß. WasserG
§ 202 Abs. 1
VwGO
§ 50 Abs. 1 Nr. 1
Stichworte:
Bund-Länder-Streit; Entmilitarisierungsmaßnahmen; Zusammenhang mit der
Entmilitarisierung; Entmilitarisierung; Demilitarisierung; Kriegsfolgelasten; Auf-
wendungen zur Entmilitarisierung; Sanierungskosten; Demontage; Demonta-
gebefehl; Absperrschieber; Schieberschächte; Anordnungen der Besatzungs-
mächte; Besatzungsmächte; schädliche Bodenveränderungen; Bodenverunrei-
nigung; Dynamit AG (DAG); ehemaliger Rüstungsstandort; Erstattungsan-
spruch; Folgeschäden; Zurechnungszusammenhang; Kausalität; Trinitrotoluol
(TNT); Toluol; Mono-Nitrotoluol (MNT); öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtver-
fassungsrechtlicher Art; Rohrleitungsnetz; Tanklager; Sprengstoffwerk Allen-
dorf; Staatspraxis; Zweiter Weltkrieg; Zwischenursache.
Leitsatz:
Die vom Bund zu tragenden Aufwendungen zur Durchführung einer von den
Besatzungsmächten angeordneten Entmilitarisierung (hier einer ehemaligen
Sprengstofffabrik) schließen die Beseitigung von Folgeschäden ein, wenn diese
mit der Entmilitarisierung zwangsläufig oder typischerweise verbunden sind.
Der Zurechnungszusammenhang wird unterbrochen, wenn ein Folgeschaden
durch ein Verhalten herbeigeführt wird, das von der Entmilitarisierungsanord-
nung nicht mehr umfasst ist. Das ist bei Folgeschäden anzunehmen, die durch
eine grob unsachgemäße Ausführung einer angeordneten Maßnahme eingetre-
ten sind.
Art. 120 Abs. 1 Satz 1 GG bietet eine unmittelbare Grundlage für Erstattungs-
ansprüche eines Landes gegen den Bund, wenn die in der Vorschrift vorgege-
bene Lastenverteilung im einfachen Gesetzesrecht nicht verfassungskonform
ausgestaltet ist (Fortführung der Rechtsprechung in den Urteilen vom 14. Juni
2006 - BVerwG 3 A 6.05 - Buchholz 11 Art. 120 GG Nr. 8 und vom 20. Februar
1997 - BVerwG 3 A 2.95 - Buchholz 11 Art. 120 GG Nr. 5).
Urteil des 3. Senats vom 18. November 2010 - BVerwG 3 A 1.09