Urteil des BVerwG vom 18.04.2012

Rechtliches Gehör, Hauptsache, Offenlegung, Bundesamt

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 20 F 5.11
VGH 5 BV 10.1343
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts
für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
am 18. April 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke
und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt
beschlossen:
Auf den Antrag der Antragstellerin wird festgestellt, dass
die Verweigerung der Aktenvorlage durch den Beigelade-
nen rechtswidrig ist.
G r ü n d e :
I
Die Antragstellerin begehrt mit dem diesem Zwischenverfahren zugrundelie-
genden Verfahren auf der Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes des
Bundes von der Antragsgegnerin, vertreten durch das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge, Zugang zu allen vom Bundesamt geführten, bislang nicht zu-
gänglichen Herkunftsländer-Leitsätzen, die es zum Zwecke einer einheitlichen
Entscheidungspraxis angelegt hat.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage der Antragstellerin mit der Begründung
ab, es liege ein Ausschlussgrund nach § 3 Nr. 4, 2. Alt. IFG vor (Urteil vom
22. Januar 2008 - AN 4 K 07.00903 -). Im Berufungsverfahren forderte der Ver-
waltungsgerichtshof die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 18. Oktober 2010
auf, die begehrten Herkunftsländer-Leitsätze vorzulegen, und wies sie darauf
hin, dass sie im Fall der Vorlageverweigerung eine Sperrerklärung beibringen
und dass dabei eine konkrete Zuordnung der jeweils geltend gemachten Ge-
heimhaltungsgründe zu den jeweiligen Herkunftsländer-Leitsätzen vorgenom-
men werden müsse. Der Beigeladene gab unter dem 6. Juni 2011 eine Sper-
rerklärung ab und begründete das Interesse an der Geheimhaltung mit dem
Vorliegen von Ausschlussgründen gemäß § 3 Nr. 1a, Abs. 4 und 7 IFG. Eine
Offenlegung würde dem Wohl des Bundes Nachteile bereiten. Die Unterlagen
seien ferner ihrem Wesen nach geheim zu halten.
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Auf den Antrag der Antragstellerin hat der Verwaltungsgerichtshof die Sache
dem Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts vorgelegt.
II
Der Antrag, über den gemäß § 99 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2, § 189 VwGO der
Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts zu beschließen hat, ist begründet.
1. Der für eine Sachentscheidung des Fachsenats erforderlichen Bejahung der
Entscheidungserheblichkeit der Unterlagen durch das Gericht der Hauptsache
ist mit dem Beschluss vom 18. Oktober 2010 Genüge getan. Hat das Gericht
der Hauptsache - wie hier - die Entscheidungserheblichkeit in einem Beschluss
geprüft und bejaht, ist der Fachsenat grundsätzlich an dessen Rechtsauffas-
sung gebunden (stRspr vgl. nur Beschluss vom 5. Februar 2009 - BVerwG 20 F
3.08 - juris Rn. 4). Nach Erlass der Sperrerklärung bestand für den Verwal-
tungsgerichtshof kein Anlass, weitere Sachverhaltsaufklärung zu betreiben und
auf eine präzisierende Umschreibung und Zuordnung der Unterlagen hinzuwir-
ken, um danach seine Annahme, es stünden insgesamt materiell-rechtliche In-
formationsverweigerungsgründe im Raum, zu überprüfen (vgl. dazu Beschluss
vom 13. April 2011 - BVerwG 20 F 25.10 - juris Rn. 10). Der Verwaltungsge-
richtshof hat bereits mit Beschluss vom 18. Oktober 2010 unter Bezugnahme
auf die Rechtsprechung des Senats ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die
Sperrerklärung eine konkrete Zuordnung der geltend gemachten Geheimhal-
tungsgründe zu den jeweiligen Herkunftsländer-Leitsätzen enthalten müsse und
damit zum Ausdruck gebracht, dass es zur rechtlichen Beurteilung nicht nur auf
den Inhalt, sondern auch auf eine abstrakt umschriebene Kategorisierung der
Bestandteile der Herkunftsländer-Leitsätze, d.h. den Aufbau sowie Art und Um-
fang der jeweiligen Themen und Quellen, und einer darauf bezogenen nach-
vollziehbaren Begründung des jeweils als einschlägig erachteten Geheimhal-
tungsgrundes bedarf.
2. Die Verweigerung der Vorlage der Herkunftsländer-Leitsätze ist rechtswidrig.
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Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind Behörden zur Vorlage von Urkunden oder
Akten und zu Auskünften an das Gericht verpflichtet. Wenn das Bekanntwerden
des Inhalts dieser Urkunden, Akten oder Auskünfte dem Wohl des Bundes oder
eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde oder wenn die Vorgänge
nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach geheim gehalten werden müssen,
kann die zuständige oberste Aufsichtsbehörde die Vorlage der Urkunden oder
Akten oder die Erteilung der Auskünfte verweigern (§ 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO).
Ob die vom Verwaltungsgerichtshof angeforderten Unterlagen wegen eines
Nachteils für das Wohl des Bundes oder ihrem Wesen nach geheimhaltungs-
bedürftig sind und ihre Vorlage deshalb nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO ganz
oder zumindest teilweise verweigert werden darf, kann der Senat auf der
Grundlage der abgegebenen Sperrerklärung nicht nachvollziehen. Die Sperrer-
klärung genügt nicht den Anforderungen, die an die Darlegung eines Weige-
rungsgrunds zu stellen sind. Bereits die Sperrerklärung muss hinreichend deut-
lich erkennen lassen, dass die in Anspruch genommenen Weigerungsgründe
vorliegen. Insoweit muss die oberste Aufsichtsbehörde die Akten und Unterla-
gen aufbereiten und je nach Inhalt der Schriftstücke den behaupteten Weige-
rungsgrund nachvollziehbar darlegen. Erst dann ist eine effektive gerichtliche
Überprüfung durch den Fachsenat möglich (Beschlüsse vom 8. März 2010
- BVerwG 20 F 11.09 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 56, vom 6. April 2011
- BVerwG 20 F 20.10 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 63 Rn. 9, vom 19. April
2010 - BVerwG 20 F 13.09 - BVerwGE 136, 345 = Buchholz 310 § 99 VwGO
Nr. 58 Rn. 15 und vom 5. Oktober 2011 - BVerwG 20 F 24.10 - juris Rn. 10).
Der Beigeladene hat es versäumt, Geheimhaltungsgründe i.S.d. § 99 Abs. 1
Satz 2 VwGO hinreichend zu belegen und nachvollziehbar zuzuordnen. Das gilt
auch unter Berücksichtigung seiner ergänzenden Ausführungen mit Schriftsatz
vom 6. Oktober 2011. Der Beigeladene verweist in der Sperrerklärung vom
6. Juni 2011 zwar in den einleitenden Bemerkungen auf Geheimhaltungsgründe
i.S.d. § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO und benennt in einer Liste die Herkunftsländer-
Leitsätze, die hiervon erfasst sein sollen. Die Begründung enthält aber keine
Zuordnung dieser Geheimhaltungsgründe zu den einzelnen Bestandteilen der
(jeweiligen) Herkunftsländer-Leitsätze. Vielmehr beschränkt sich der Beigela-
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dene zur Begründung des Interesses an der Geheimhaltung - unter II. - darauf,
für alle in der Liste genannten Herkunftsländer-Leitsätze auf die aus seiner
Sicht einschlägigen fachgesetzlichen Ausschlussgründe zu verweisen. Gerade
wenn - wie der Beigeladene mit Schriftsatz vom 26. Januar 2012 vorgetragen
hat - jeder Leitsatz inzwischen auf bis zu 12 bis 15 Seiten angewachsen ist,
hätte es einer differenzierenden Aufbereitung der Unterlagen bedurft, um auf
dieser Grundlage bei der Sperrerklärung - unter Angabe von Blattzahlen, gege-
benenfalls auch der Bezifferung von Absätzen oder der Gliederungspunkte ei-
nes Dokuments - je nach Inhalt der Unterlage bzw. Passage den jeweiligen Ge-
heimhaltungsgrund darzutun. Soweit der Beigeladene Nachteile für das Wohl
des Bundes darin sieht, dass die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben des
Bundesamtes gefährdet wäre, wenn die Leitsätze bekannt würden und auf-
grund ihrer Kenntnis die Entscheidungen des Bundesamtes manipuliert werden
könnten (vgl. hierzu auch Urteil vom 29. Oktober 2009 - BVerwG 7 C 21.08 -
Buchholz 400 IFG Nr. 2 Rn. 30), gilt im Ergebnis nichts anderes. Ob das Be-
kanntwerden der Leitsätze geeignet ist, die von dem Beigeladenen heraufbe-
schworene Gefahr herbeizuführen, und ihre Vorlage aus diesem Grund insge-
samt uneingeschränkt verweigert werden darf, hängt von der bisher nicht dar-
gelegten abstrakten Kategorisierung ihrer Bestandteile, also ihrem Aufbau so-
wie Art und Umfang der jeweiligen Themen und Quellen ab.
Soweit der Beigeladene im Parallelverfahren - BVerwG 20 F 7.11 - vorträgt, er
habe jeden Leitsatz einer Bewertung unterzogen und jede Aussage nach Über-
prüfung, ob sie einen Ausschlussgrund trage, entsprechend farblich markiert, so
dass sich verlässlich klären lasse, ob ein Geheimhaltungsgrund vorliege, und
dem Senat anbietet, ihm diese konkrete Zuordnung auch zur Verfügung zu stel-
len, verkennt er nicht nur die Besonderheit einer Sperrerklärung i.S.d. § 99
Abs. 1 Satz 2 VwGO, sondern auch die Reichweite des Anspruchs auf rechtli-
ches Gehör.
Die Sperrerklärung ist eine Prozesserklärung. Sie ergeht nach förmlicher Ver-
lautbarung über die Entscheidungserheblichkeit durch das Gericht der Haupt-
sache. Dabei kann sich das Gericht der Hauptsache (zunächst) nur an den An-
gaben orientieren, die die aktenverweigernde Stelle bei Ablehnung des Antrags
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und im Prozessverlauf gemacht hat. Zunächst muss die aktenverweigernde
Stelle nachvollziehbar und differenziert mit Blick auf die konkreten Unterlagen
darlegen, auf welchen fachgesetzlichen Geheimhaltungsgrund sie sich stützt.
Erst auf dieser Grundlage ist das Gericht der Hauptsache überhaupt in der La-
ge, zu erkennen, ob es in tatsächlicher Hinsicht über hinreichende Angaben
verfügt, und daher in Anlegung seines Rechtsmaßstabs den Einzelfall - ohne
Vorlage der Akten - entscheiden kann (Beschluss vom 25. Juni 2010 - BVerwG
20 F 1.10 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 59 Rn. 11). Sind Maßnahmen der
Sachverhaltsaufklärung erschöpft oder erscheinen sie dem Hauptsachegericht
je nach Fallkonstellation als offensichtlich fruchtlos, so darf sich das Gericht
- wie hier - darauf beschränken, auf die Notwendigkeit einer differenzierenden
Darlegung im Rahmen der Sperrerklärung hinzuweisen.
Eine Sperrerklärung kann zwar im Verfahren vor dem Hauptsachegericht - nach
erneuter Aufforderung durch das Gericht, wenn es Maßnahmen der weiteren
Sachverhaltsaufklärung für erforderlich hält - ergänzt werden. Nach Abgabe der
Sache an den Fachsenat, der nur die Rechtmäßigkeit der Sperrerklärung und
den dort geltend gemachten Geheimhaltungsbedarf zu überprüfen hat, verbie-
ten sich jedoch Ergänzungen, die sich nicht lediglich auf Klarstellungen be-
schränken. Denn in einem solchen Fall würde das Recht und die Pflicht des
Gerichts der Hauptsache verkürzt, das im Lichte der „neuen“ Angaben überprü-
fen muss, ob es an seiner ursprünglich geäußerten Auffassung zur Entschei-
dungserheblichkeit der Vorlage festhält oder ob es sich nunmehr - aufgrund der
(differenzierenden) Darlegungen - auch ohne Vorlage der Akten in der Lage
sieht, über das Vorliegen der fachgesetzlichen Ausschlussgründe zu entschei-
den.
Will die oberste Aufsichtsbehörde ihre Sperrerklärung im Zwischenstreit vor
dem Fachsenat klarstellend ergänzen, so ist diese Erklärung allen Beteiligten
zugänglich zu machen. Ein Beteiligter hat unter dem Gesichtspunkt des rechtli-
chen Gehörs auch im Zwischenverfahren einen Anspruch darauf, sich zu jeder
dem Gericht zur Entscheidung unterbreiteten schriftlichen Stellungnahme der
Gegenseite zu äußern. Dieses Recht steht nicht zur Disposition der Behörde
(Beschluss vom 5. Februar 2009 - BVerwG 20 F 24.08 - juris Rn. 16). Eine Er-
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klärung, die unter den Vorbehalt gestellt wäre, dass sie nur dem Fachsenat zur
Verfügung gestellt werde, wäre unverwertbar und müsste der Behörde zurück-
gegeben werden (Beschluss vom 17. November 2003 - BVerwG 20 F 16.03 -
Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 37). Der Beigeladene konnte sich daher im Paral-
lelverfahren - BVerwG 20 F 7.11 - nicht darauf beschränken, nur dem Senat die
offensichtlich behördenintern geleistete, aber im gerichtlichen Verfahren nicht
vorgelegte konkrete Zuordnung der Geheimhaltungsgründe anzubieten.
3. Darüber hinaus ist die Sperrerklärung wegen mangelnder Ermessensaus-
übung rechtswidrig. Die Ermächtigung der obersten Aufsichtsbehörde zur Er-
messensentscheidung besteht nach dem eindeutigen Wortlaut des § 99 Abs. 1
Satz 2 Halbs. 2 VwGO, wenn der Inhalt der Schriftstücke oder der Auskunft ge-
heimhaltungsbedürftig i.S.d. § 99 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 VwGO ist, also auch
dann, wenn der Vorgang nach einem Gesetz geheim gehalten werden muss
(Beschluss vom 18. Juni 2008 - BVerwG 20 F 44.07 - Buchholz 310 § 99 VwGO
Nr. 49 Rn. 8).
Der Beigeladene hat nicht, wie in § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO vorgesehen, eine
auf den laufenden Rechtsstreit bezogene und auf einer Abwägung der wider-
streitenden Interessen der Beteiligten im Prozess beruhende Ermessensent-
scheidung über die Aktenvorlage getroffen. Die Erwägungen, die der Beigela-
dene anstellt, lassen - ungeachtet des Hinweises, die Vorlageverweigerung sei
„nach pflichtgemäßer Ausübung seines Ermessens“ ergangen - eine ordnungs-
gemäße Ermessensbetätigung nicht erkennen. Das zeigt sich auch daran, dass
der Beigeladene keine Erwägungen zur Möglichkeit einer teilweisen Offenle-
gung angestellt hat, sondern nur - nach Subsumtion unter die nach seiner Auf-
fassung einschlägigen fachgesetzlichen Ausschlussgründe - darauf verweist,
dass die Offenlegung zu schwerwiegenden Nachteilen für das Wohl des Bun-
des und zu einer unverantwortbaren Beeinträchtigung der Aufgabenerfüllung
des Bundesamtes führen würde, ohne dies dadurch zu belegen, dass die Be-
standteile der Leitsätze substantiiert beschrieben werden.
4. Die Feststellung des Senats, dass die Sperrerklärung rechtswidrig ist, hindert
den Beigeladenen nicht, eine neue Sperrerklärung abzugeben und dabei die
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Gefahr für die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung des Bundesamtes näher zu
substantiieren sowie dann bei der Einstufung als geheimhaltungsbedürftig oder
bei der Ermessensausübung nach den hinreichend gekennzeichneten Passa-
gen der jeweiligen Herkunftsländer-Leitsätze zu differenzieren. Auf der Grund-
lage einer solchen Erklärung wird das Gericht der Hauptsache seinerseits er-
neut - unter Berücksichtigung der einschlägigen fachgerichtlichen Rechtspre-
chung - die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage zu beurteilen haben.
5. Einer eigenständigen Kostenentscheidung bedarf es im Verfahren vor dem
Fachsenat nach § 99 Abs. 2 VwGO nicht (vgl. dazu Beschluss vom 16. Dezem-
ber 2010 - BVerwG 20 F 15.10 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 62 Rn. 11). Eine
Streitwertfestsetzung ist entbehrlich, da Gerichtsgebühren mangels Gebühren-
tatbestand im Verfahren vor dem Fachsenat nicht anfallen.
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