Urteil des BVerwG vom 15.08.2003

Hauptsache, Offenlegung, Deutsche Bundespost, Verfassungskonforme Auslegung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 20 F 3.03
OVG 13a D 21/02
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts für Entscheidungen nach § 99
Abs. 2 VwGO
am 15. August 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S i l b e r k u h l
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. D a w i n und Dr. K u g e l e
beschlossen:
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-
Westfalen vom 14. Juni 2002 wird aufgehoben. Es wird festgestellt,
dass die Verweigerung der Vorlage der Blätter 88 bis 90 und 99
bis 103 sowie 115 der Verwaltungsvorgänge der Regulierungsbehör-
de für Telekommunikation und Post durch die Beklagte rechtswidrig
ist.
Die Kosten des Zwischenverfahrens tragen die Klägerin und die Be-
klagte je zur Hälfte.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zwischenverfahren auf
4 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I.
Gegenstand des Hauptsacheverfahrens - VG 22 K 8707/00 - vor dem Verwaltungsgericht
Köln, das diesem Zwischenverfahren zugrunde liegt, ist die Klage der Klägerin gegen den
Bescheid der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post vom 15. September
2000 - BK 5b-00/076 -, der die Klägerin verpflichtet, der Beigeladenen den Zugang zu Teil-
leistungen nach § 28 in Verbindung mit § 31 Abs. 2 PostG zu ermöglichen. Im Zwischenver-
fahren nach § 99 VwGO hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts mit dem angefoch-
tenen Beschluss vom 14. Juni 2002 festgestellt, dass die Verweigerung der Vorlage der im
Tenor bezeichneten Aktenbestandteile rechtmäßig sei. Hiergegen richtet sich die Beschwer-
de der Beigeladenen.
II.
1. Die Beiladung des im Antragsverfahren beteiligten Bundesministeriums für Wirtschaft und
Technologie ist mit dem In-Kraft-Treten des Art. 18 Nr. 3 des Post- und Telekommunikati-
onsrechtlichen Bereinigungsgesetzes vom 7. Mai 2002 (BGBl S. 1529) am 11. Mai 2002 ge-
genstandslos geworden (vgl. § 44 Satz 2 PostG in Verbindung mit § 75 a Abs. 2 TKG). Das
Rubrum war daher zu berichtigen.
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2. Die Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie als die seinerzeit für die Entscheidung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO zustän-
dige oberste Aufsichtsbehörde die Vorlage der bezeichneten Aktenstücke verweigert.
Im Verwaltungsstreitverfahren um den Zugang von Teilleistungen nach § 28 PostG, den die
Regulierungsbehörde nach § 31 Abs. 2 PostG anzuordnen hat, kann die für die Entschei-
dung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO zuständige Behörde Urkunden oder Akten, deren Ge-
heimhaltung ein Beteiligter zur Wahrung von Geschäftsgeheimnissen verlangt, offen legen,
wenn diese Unterlagen entscheidungserheblich sind, andere Möglichkeiten der Sachaufklä-
rung nicht bestehen und nach Abwägung aller Umstände das Interesse an der Offenbarung
das Geheimhaltungsinteresse des Betroffenen überwiegt.
Ob Urkunden oder Akten der Vorlage- und Auskunftspflicht der Behörden nach § 99 Abs. 1
Satz 1 VwGO unterliegen, hat das Gericht der Hauptsache zu beurteilen. Dessen materielle
Rechtsauffassung ist maßgebend für den Umfang der ihm verfahrensrechtlich obliegenden
Pflicht zur umfassenden Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 86 Abs. 1
VwGO). Das Gericht der Hauptsache bestimmt grundsätzlich auch, welche Beweismittel zur
Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts geeignet und heranzuziehen sind.
Es hat deshalb zunächst darüber zu befinden, ob Unterlagen, die Betriebs- und Geschäfts-
geheimnisse eines Verfahrensbeteiligten enthalten und deswegen anderen mit ihm wirt-
schaftlich konkurrierenden Beteiligten nicht über das Akteneinsichtsrecht (§ 100 VwGO) be-
kannt werden sollen, entscheidungserheblich sind und zur gebotenen vollständigen Sach-
aufklärung benötigt werden (vgl. Beschlüsse vom 9. November 1962 - BVerwG 7 B 91.62 -
BVerwGE 15, 132 <133 f.> und vom 31. Juli 1992 - BVerwG 3 B 107.92 - Buchholz 310 § 99
VwGO Nr. 21 S. 6 m.w.N.).
Das Verwaltungsgericht Köln hat in dem bei ihm anhängigen Hauptsacheverfahren sowohl
die Entscheidungserheblichkeit als auch die Erforderlichkeit der Verwaltungsakten der Regu-
lierungsbehörde für Telekommunikation und Post als Beweismittel bejaht. Nachdem die Re-
gulierungsbehörde für Telekommunikation und Post unter Bezugnahme auf die Entscheidung
des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie vom 9. Januar 2002 die Offenlegung
der Aktenstücke verweigert hatte, hat das Gericht der Hauptsache die Beteiligten durch
prozessleitende Verfügung des Berichterstatters zu der Erklärung aufgefordert, ob ein Antrag
nach § 99 Abs. 2 VwGO gestellt werde. Damit hat es zum Ausdruck gebracht, dass es die
angefochtene Genehmigung des Zugangs zu Teilleistungen durch die Beigeladene ohne
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Kenntnis der vollständigen Begründung und tatsächlichen Grundlagen dieser Entscheidung
nicht überprüfen könne. Das trifft zu.
Die verfahrensrechtliche Frage, ob der entscheidungserhebliche Sachverhalt durch Erhe-
bung anderer zugänglicher und geeigneter Beweismittel gerichtlich aufgeklärt werden kann,
hat der Fachsenat im Verfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO nachzuprüfen (vgl. Beschluss vom
19. August 1964 - BVerwG 6 B 15.62 - BVerwGE 19, 179 <186 f.>). Sie ist zu verneinen.
Das Gericht der Hauptsache benötigt die streitigen Unterlagen zur Sachaufklärung auch
dann, wenn der Beklagten bei der Festsetzung der Entgelte für den Zugang zu Teilleistungen
eine Beurteilungsermächtigung (Einschätzungsprärogative) zustehen sollte. Eine insoweit
beschränkte gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle erstreckte sich darauf, ob die Behörde
von einem richtigen Sachverhalt ausgegangen ist (vgl. z.B. Urteile vom 19. März 1998
- BVerwG 2 C 5.97 - Buchholz 237.6 § 39 NdsLBG Nr. 9 S. 3 m.w.N. und vom 1. Dezember
1998 - BVerwG 5 C 17.97 - Buchholz 436.0 § 93 BSHG Nr. 4 S. 18).
Eine Beweisführung durch einen neutralen, zur Verschwiegenheit verpflichteten Sachver-
ständigen (Wirtschaftsprüfer) als Beweismittler scheidet aus. Zwar verstößt die Verwertung
mittelbarer Beweismittel nicht gegen die verfassungsrechtlichen Gebote rechtlichen Gehörs,
effektiven Rechtsschutzes und eines fairen Verfahrens (vgl. BVerfGE 57, 250 <274>; 78, 123
<126>; BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. März 1994 -1 BvR 1485/93 - NJW 1994, 2347 f.).
Wirksamer Geheimnisschutz eines Beteiligten - hier der Klägerin - ließe sich aber durch
einen "Wirtschaftsprüfervorbehalt" im Hauptsacheverfahren nur erreichen, wenn die dem
Sachverständigengutachten zugrunde liegenden Tatsachen weder den anderen Beteiligten
noch - wegen ihres Akteneinsichtsrechts (§ 100 VwGO) - dem Gericht der Hauptsache zur
Kenntnis gebracht würden. Das ist verfassungsrechtlich und prozessrechtlich ausge-
schlossen. Ein gerichtliches Sachverständigengutachten ist als Beweismittel unverwertbar,
wenn es auf Geschäftsunterlagen beruht, die eine der Parteien nur dem Sachverständigen,
nicht dem Gericht und der Gegenpartei zur Verfügung gestellt hat und die im Verfahren auch
nicht offen gelegt werden (vgl. BGH, Urteil vom 12. November 1991 - KZR 18/90 - BGHZ
116, 47 <58>). Die gerichtliche Verwertung eines solchen Sachverständigengutachtens ver-
sagt nicht nur den Beteiligten, die die geheim gehaltenen Tatsachen nicht kennen, das recht-
liche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO). Das Gericht verletzt auch seine
Pflicht, ein von ihm eingeholtes Sachverständigengutachten sorgfältig und kritisch zu würdi-
gen, insbesondere auch daraufhin zu überprüfen, ob es von zutreffenden tatsächlichen Vo-r-
aussetzungen ausgeht (stRspr; vgl. u.a. Urteil vom 6. Februar 1985 - BVerwG 8 C 15.84 -
BVerwGE 71, 38 <45>). Dieser Pflicht und dem Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs
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kann das Gericht nur genügen, wenn der Sachverständige die wesentlichen tatsächlichen
Grundlagen seines Gutachtens offen legt (vgl. BHG, Urteil vom 12. November 1991, a.a.O.).
Ein "in-camera"-Verfahren vor dem Gericht der Hauptsache schließt das geltende Recht aus.
Der Gesetzgeber hat durch den neu gefassten § 99 Abs. 2 VwGO die gerichtlichen Befug-
nisse zur Überprüfung der behördlichen Entscheidung über die Aktenvorlage auf die Fach-
senate beschränkt. Diese entscheiden im Zwischenverfahren abschließend darüber, ob Ak-
ten oder Urkunden, die Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse enthalten, im Hauptsachever-
fahren vorgelegt und verwertet werden dürfen. Für eine Entscheidung über die Rechtmäßig-
keit einer Aktenvorlage oder Auskunftserteilung in einem "in-camera"-Verfahren vor dem
Gericht der Hauptsache fehlt eine Rechtsgrundlage. Eine verfassungskonforme Auslegung in
dieser Richtung ist unmöglich. Nur der Gesetzgeber könnte ein "in-camera-Verfahren vor
dem Gericht der Hauptsache zur Verwertung geheimhaltungsbedürftiger Tatsachen für die
Sachentscheidung einführen und ausgestalten.
Die Verweigerung der Vorlage der bezeichneten Aktenstücke ist rechtswidrig. Sie beruht auf
einer unzutreffenden Ermessensentscheidung. Das Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie (heute: Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit) hat als die für die Ent-
scheidung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO zuständige Behörde die unter Abwägung der wi-
derstreitenden Interessen an der Vorlage der Unterlagen und an deren Geheimhaltung vor-
zunehmende Interessenabwägung (vgl. Beschluss vom 29. Juli 2002 - BVerwG 2 AV 1.02 -
BVerwGE 117, 8 <9 f.>) mit unzutreffender Gewichtung vorgenommen. Notwendigkeit und
Bedeutung einer lückenlosen Sachverhaltsaufklärung im Rechtsstreit, das schutzwürdige
Interesse der Beteiligten und das öffentliche Interesse daran sind gegen das Interesse der
Klägerin an der Geheimhaltung ihrer verfassungsrechtlich geschützten Betriebs- und Ge-
schäftsgeheimnisse unter Würdigung der besonderen Umstände des Einzelfalls angemessen
abzuwägen. Die behördliche Ermessensentscheidung kann der Fachsenat auch daraufhin
nachprüfen, ob überwiegende Interessen an der vollständigen Aufklärung des entschei-
dungserheblichen Sachverhalts in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwal-
tungsstreitverfahren die Vorlage der Unterlagen trotz der in ihnen enthaltenen Geschäftsge-
heimnisse der Klägerin gebieten (vgl. Beschluss vom 19. August 1964 - BVerwG 6 B 15.62 -
a.a.O.). So verhält es sich hier.
In die Abwägung des Interesses an der Offenlegung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnis-
se gegen das Geheimhaltungsinteresse ist einzubeziehen, wie sich die Geheimhaltung der
entscheidungserheblichen Tatsachen auf den Ausgang des Rechtsstreits auswirkt. Die Ge-
währleistung effektiven Rechtsschutzes (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) schließt ein, dass das Ge-
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richt das Rechtsschutzbegehren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend prüfen
kann und genügend Entscheidungsbefugnisse besitzt, um eine Rechtsverletzung abzuwen-
den oder erfolgte Rechtsverletzungen zu beheben (vgl. BVerfGE 101, 106 <122 f.> m.w.N.;
stRspr). Es muss die dazu notwendigen tatsächlichen Grundlagen selbst ermitteln und un-
abhängig von der angegriffenen Entscheidung der Verwaltung ohne Bindung an deren Fest-
stellungen und Wertungen beurteilen können. Verwaltungsvorgänge müssen dem Gericht zur
Verfügung stehen, soweit sie für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der behördlichen
Entscheidung bedeutsam sein können (vgl. BVerfGE 101, 106 <122 ff.> m.w.N.). Die verfas-
sungsrechtliche Garantie umfassenden Rechtsschutzes durch staatliche Gerichte lässt es
grundsätzlich nicht zu, den Nutzern von Postdienstleistungen die im Verwaltungsstreitverfah-
ren begehrte Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit der von ihnen zu entrichtenden, der
staatlichen Regulierung unterliegenden und durch Verwaltungsakt festgesetzten Entgelte zu
versagen (vgl. Urteil vom 10. Oktober 2002 - BVerwG 6 C 8.01 - BVerwGE 117, 93 <104 f.>
m.w.N.).
Die verfassungsrechtlich gebotene Effektivität des Rechtsschutzes wird eingeschränkt, wenn
die Geheimhaltung entscheidungserheblicher Tatsachen sich nachteilig für den Rechts-
schutzsuchenden auswirkt (vgl. BVerfGE 101, 106 <130>). Das ist der Fall, wenn mangels
Verwertbarkeit geheimhaltungsbedürftiger Tatsachen über die Hauptsache nach Beweislast-
grundsätzen zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden entscheiden werden muss. Die ma-
teriellrechtliche Frage, zu Lasten welches Beteiligten aus Gründen der materiellen Beweislast
zu entscheiden ist, hat allerdings das Gericht der Hauptsache zu beurteilen. Wie diese Frage
für den Fall der Unverwertbarkeit geheimhaltungsbedürftiger Tatsachen letztlich
höchstrichterlich zu beantworten sein wird, ist derzeit offen, kann jedoch im vorliegenden
Zwischenverfahren dahinstehen. Darauf kommt es für die Interessenabwägung nicht an.
Trägt die Partei, die entscheidungserhebliche geheime Unterlagen nicht kennt, die Beweis-
last, wenn die nicht beweisbelastete Partei sich erfolgreich auf den Geheimschutz beruft,
führt dies zu einem mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbaren Rechtsschutzdefizit. Aber auch bei
einer umgekehrten Beweislastverteilung verfehlt eine mangels Offenlegung entscheidungs-
erheblicher Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse getroffene Beweislastentscheidung das
eigentliche Rechtsschutzziel, weil die zwischen den Beteiligten streitigen Fragen zur Ausle-
gung und Anwendung der Vorschriften über die Regulierung der Entgelte für den Netzzugang
ungeklärt bleiben. Ob die Beklagte die Entgelte für den Zugang zu Teilleistungen zutreffend
festgesetzt hat, ist sowohl im Interesse aller Beteiligten als auch im öffentlichen Interesse
gerichtlich zu überprüfen. Die gerichtliche Klärung, wie die zulässigen Entgelte für diesen
Zugang zu ermitteln sind, dient der ordnungsgemäßen Erfüllung der verfassungsmäßigen
Aufgaben der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (vgl. Art. 87 f GG). Sie
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dient zugleich den schutzwürdigen Belangen der Beteiligten, die ohne gerichtliche Sach-
entscheidung nicht wissen, welche Beträge von Rechts wegen zu entrichten sind. Das beein-
trächtigt vornehmlich die mit der Klägerin in Wettbewerb stehenden Unternehmen in ihren
Dispositionen. Ihnen eine gerichtliche Sachentscheidung wegen Geheimnisschutzes der
Klägerin vorzuenthalten, liefe im Ergebnis auf eine Verweigerung effektiven Rechtsschutzes
hinaus. Das fällt im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung ausschlaggebend ins Ge-
wicht und zwingt zur Annahme eines überwiegenden Interesses an der Offenlegung der ent-
scheidungserheblichen Unterlagen.
Der grundrechtlich (Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 GG) geschützte Anspruch der Klägerin auf
Schutz ihrer Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse muss demgegenüber zurücktreten. Diese
ist zwar wegen ihrer ausschließlich privatwirtschaftlichen Tätigkeit und Aufgabenstellung
(Art. 87 f Abs. 2 GG) grundrechtsfähig, obwohl sie aus dem öffentlich-rechtlichen Sonder-
vermögen Deutsche Bundespost Postdienst hervorgegangen ist und bis heute trotz der Ver-
äußerung von Aktien an private Investoren mehrheitlich im Eigentum der Beklagten steht. Die
Klägerin erbringt Postdienstleistungen im Sinne von § 4 Nr. 1 PostG, unter anderem die
Beförderung von Briefsendungen. Sie hält Lizenzen für Postdienstleistungen nach § 5 Abs. 1
PostG sowie eine gesetzliche Exklusivlizenz, die nach § 51 Satz 1 PostG bis zum 31. De-
zember 2005 befristet ist. Diese Rechte sind der Klägerin vor der Privatisierung der Deut-
schen Bundespost jedoch unter dem Schutz eines staatlichen Monopols und unter Verwen-
dung öffentlicher Mittel entstanden. Damit weisen sie einen intensiven sozialen Bezug auf
(Art. 14 Abs. 2 GG), sodass die Klägerin grundrechtlich geschützte vermögenswerte Positio-
nen von vornherein nur mit einer Pflichtenbelastung erworben hat, die der Herkunft der Li-
zenzen entspricht (zum insoweit vergleichbaren Telekommunikationsbereich vgl. Urteil vom
25. April 2001 - BVerwG 6 C 6.00 - BVerwGE 114, 160 <193>).
Die Verfassung selbst gibt das Ziel vor, die aus der Deutschen Bundespost hervorgegange-
nen Unternehmen Postdienst und Telekom zu privatisieren (Art. 143 b GG) und gleichwohl
auch für die Zukunft im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation flächendeckend
für angemessene und ausreichende Dienstleistungen zu sorgen (Art. 87 f Abs. 1 GG). Diese
Dienstleistungen sollen neben den früheren Staatsunternehmen auch durch andere private
Anbieter erbracht werden (Art. 87 f Abs. 2 GG). Art. 87 f Abs. 2 Satz 1 GG fordert die
Erbringung solcher Dienstleistungen unter Wettbewerbsbedingungen (vgl. BTDrucks 12/7269
S. 5 und 9). Dem entspricht die Zielsetzung des Postgesetzes, in einem monopolistisch
strukturierten Markt chancengleichen und funktionsfähigen Wettbewerb herzustellen und eine
missbräuchliche Ausübung wirtschaftlicher Machtstellungen zu verhindern (vgl. § 2 Abs. 2
Nr. 2 PostG). Das Postgesetz verfolgt damit auch die in der Zuständigkeitsregelung des
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Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG zum Ausdruck kommende Entscheidung des Verfassungsgebers für
die Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellungen. Diese Zielsetzung zählt zu
den Belangen des Allgemeinwohls, die geeignet sind, Einschränkungen der Be-
rufsausübungsfreiheit auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung unter Beachtung des
Verhältnismäßigkeitsgebots zu rechtfertigen (vgl. BVerfGE 99, 202 <211> m.w.N.; stRspr).
Als ehemaliger Monopolist hat die Klägerin nach wie vor eine die Befürchtung der Miss-
brauchsgefahr begründende marktbeherrschende Stellung inne. Dies folgt schon daraus,
dass die gesetzliche Exklusivlizenz des § 51 Abs. 1 Satz 1 PostG noch bis zum 31. Dezem-
ber 2005 befristet ist. Der Zugang zu Teilleistungen, hier der Beförderung von Briefsendun-
gen in eine Zustellniederlassung der Klägerin, die die Sendungen an den Endadressaten
weiterbefördern soll, hat für andere Lizenznehmer, wie die Beigeladene, zentrale Bedeutung
für die Chance auf Zutritt zu dem bestehenden, bislang noch von der Klägerin beherrschten
Markt. Dieser Zutritt ist unter den Voraussetzungen der §§ 28 ff. PostG zu gewähren, ohne
dass das marktbeherrschende Unternehmen seine Stellung missbräuchlich nutzt (vgl. § 32
Abs. 1 PostG). Damit soll die Klägerin daran gehindert werden, ihren noch bestehenden
Wettbewerbsvorsprung auf Dauer zu halten, um das von Verfassung und Gesetz vorgege-
bene Ziel zu erreichen, einen chancengleichen und funktionsfähigen Wettbewerb herzustel-
len. Das verlangt zur Sicherung des Wettbewerbs einen effektiven Rechtsschutz der mit ihr
konkurrierenden Unternehmen.
Im Kartellbeschwerdeverfahren kann das Gericht die Offenlegung von Tatsachen und Be-
weismitteln, deren Geheimhaltung zur Wahrung von Geschäftsgeheimnissen verlangt wird,
durch Beschluss anordnen, wenn es für die Entscheidung auf diese Tatsachen und Beweis-
mittel ankommt, andere Möglichkeiten der Sachaufklärung nicht bestehen und nach Abwä-
gung aller Umstände die Bedeutung der Sache für die Sicherung des Wettbewerbs das Inte-
resse des Betroffenen an der Geheimhaltung überwiegt (§ 72 Abs. 2 Satz 4 GWB). Unter
diesen Voraussetzungen ist die Einschränkung der Berufsausübungsfreiheit nicht unverhält-
nismäßig, wenn und soweit die Preisgabe der Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse keine
nachhaltigen oder gar existenziellen Nachteile besorgen lässt. Entsprechendes muss für den
Postdienstleistungsmarkt erst recht gelten. Das gesetzgeberische Konzept der Regulierung
ist vorrangig die Auflösung des Monopols. Der Gesetzgeber hielt die Regelungen des Geset-
zes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (vgl. § 2 Abs. 3 PostG) allein nicht für ausreichend,
um auf dem ursprünglich staatsmonopolistisch organisierten Postdienstleistungsmarkt funk-
tionsfähigen Wettbewerb herzustellen. Denn die Regelungen des Gesetzes gegen Wettbe-
werbsbeschränkungen unterstellen grundsätzlich die Existenz eines funktionsfähigen Wett-
bewerbs (vgl. Urteil vom 25. April 2001, a.a.O. S . 180). Die gesetzlich ausgeformte wettbe-
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werbsrechtliche Konfliktlösung in § 72 Abs. 2 Satz 4 GWB zu Gunsten eines grundsätzlich
bereits vorhandenen und funktionsfähigen Wettbewerbs ist jedoch auch bei der hier vorzu-
nehmenden Abwägung und Gewichtung der widerstreitenden Interessen zu Gunsten eines
noch im Aufbau befindlichen Wettbewerbs auf dem traditionell monopolistisch geprägten
Postdienstleistungsmarkt heranzuziehen.
Nachhaltige oder gar Existenz bedrohende Nachteile für die Klägerin sind bei einer Offenle-
gung ihrer hier in Rede stehenden Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse nicht zu besorgen.
Diese enthalten Kalkulationen zum Thema "Teilleistung BZA-Brief", die Beschreibung der bei
der Erbringung des Vollprodukts erforderlichen Prozessschritte, den Bearbeitungsablauf für
die Produktion des BZA-Briefs, einen Kostenvergleich für den BZA-Brief und den BZE-Brief
sowie eine Übersicht des Projektstatus "Gangfolgesortierung" auf dem Gebiet der Beklagten.
Sämtliche Angaben beschränkten sich auf einen so kleinen Bereich der von der Klägerin er-
brachten Postdienstleistungen, dass die Offenlegung dieser Geschäftsgeheimnisse keine
wirtschaftliche Gefährdung besorgen lässt.
Das selbständige Zwischenverfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO hat einen eigenen Streitge-
genstand und erfordert eine Kostenentscheidung. Diese folgt aus § 154 Abs. 1, § 159 Satz 1
VwGO, § 100 ZPO. Da die Regulierungsbehörde an die Stelle des ursprünglich für die Ent-
scheidung nach § 99 Abs. 1 VwGO zuständigen Bundesministeriums für Wirtschaft und
Technologie getreten ist, das mit Schriftsatz vom 12. November 2002 den Antrag gestellt hat,
die Beschwerde zurückzuweisen, kommt es zu keinem Kostenausspruch nach § 154 Abs. 3
VwGO. Die Streitwertfestsetzung für das Zwischenverfahren beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 2
GKG.
Dr. Silberkuhl Prof. Dawin Dr. Kugele
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Verfassungsrecht
Fachpresse:
ja
Verwaltungsprozessrecht
Postrecht
Rechtsquellen:
GG
Art. 12 Abs. 1, Art. 14, Art. 19 Abs. 4, Art. 87 f, Art. 103 Abs. 1
VwGO
§§ 99, 108 Abs. 2
PostG
§ 2 Abs. 3, § 28, § 31 Abs. 2
Stichworte:
"in-camera"-Verfahren; Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen im Verwal-
tungsprozess; Interessenabwägung; Gewährung effektiven Rechtsschutzes; Herstellung
eines chancengleichen Wettbewerbs im Postdienstleistungsmarkt.
Leitsätze:
1. Ob und in welchem Umfang Urkunden oder Akten der Vorlage und Auskunftspflicht der
Behörden nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO unterliegen, beurteilt das Hauptsachegericht nach
seiner materiellen Rechtsauffassung.
2. Die verfahrensrechtliche Frage, ob der entscheidungserhebliche Sachverhalt durch Erhe-
bung anderer zugänglicher und geeigneter Beweismittel gerichtlich aufgeklärt werden kann,
hat der Fachsenat im Verfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO nachzuprüfen.
3. Ein "in-camera"-Verfahren" vor dem Gericht der Hauptsache ist nach dem geltenden
Recht unzulässig.
4. In die Abwägung des Interesses an der Offenlegung der Betriebs- und Geschäftsgeheim-
nisse gegen das Geheimhaltungsinteresse ist einzubeziehen, wie sich die Geheimhaltung
entscheidungserheblicher Tatsachen auf den Ausgang des Rechtsstreites auswirkt.
5. Die Einschränkung der Berufsausübungsfreiheit, die in der gerichtlichen Verpflichtung zur
Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen liegt, ist im Postdienstleistungsbe-
reich zulässig, wenn und soweit die Preisgabe der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse kei-
ne nachhaltigen oder gar existenziellen Nachteile besorgen lässt.
Beschluss des Fachsenats für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO vom
15. August 2003 - BVerwG 20 F 3.03
I. OVG Münster, Fachsenat für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO vom 14.06.2002
- Az.: OVG 13a D 21/02 -