Urteil des BVerwG vom 04.05.2006

Akte, Hauptsache, Kreis, Gefahr

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 20 F 2.05 (20 PKH 3.05)
OVG 95 A 6.05
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts
für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
am 4. Mai 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Bardenhewer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dawin
und Dr. Kugele
beschlossen:
Der Antrag des Klägers, ihm Prozesskostenhilfe zu bewil-
ligen und Rechtsanwalt … beizuordnen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des
vormaligen Oberverwaltungsgerichts für das Land
Brandenburg vom 20. Juni 2005 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Dem Kläger kann die beantragte Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden. Die
beabsichtigte Rechtsverfolgung hat keine Aussicht auf Erfolg (§ 166 VwGO,
§ 114 ZPO).
Die Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das Oberverwaltungsgericht
dem Antrag des Klägers, die Rechtswidrigkeit der Sperrerklärung des Minis-
teriums des Innern des Landes Brandenburg vom 7. Oktober 2003 festzustel-
len, nicht entsprochen. Zwar fehlt es an einer förmlichen Äußerung des Gerichts
der Hauptsache, dass die zurückgehaltene Akte für die Entscheidung des
Rechtsstreits VG Potsdam 3 K 1683/03 rechtlich erheblich ist. Eine derartige
Äußerung ist hier aber - ausnahmsweise - entbehrlich.
Die in § 99 Abs. 1 VwGO vorgeschriebene Vorlage der behördlichen Akten im
Verwaltungsrechtsstreit ermöglicht den Tatsachengerichten die erschöpfende
Aufklärung des Sachverhalts, zu der sie verpflichtet sind (§ 86 Abs. 1, § 125
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Abs. 1 VwGO). Eine erschöpfende Sachverhaltsermittlung mit der Folge, dass
das verwaltungsgerichtliche Urteil auf einer abschließend geklärten Tatsachen-
grundlage basiert, ist vom Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gefordert
und liegt gleichzeitig im individuellen, durch Art. 19 Abs. 4 GG geschützten Inte-
resse der Prozessparteien (stRspr, vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 17. April 1991
- 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 - BVerfGE 84, 34 <49> und vom selben Tage
- 1 BvR 1529/84, 1 BvR 138/87 - BVerfGE 84, 59 <77> jeweils m.w.N.). Indes-
sen führt die Vorlage behördlicher Akten im verwaltungsgerichtlichen Rechts-
streit dazu, dass die Prozessparteien kraft ihres Einsichtsrechts nach § 100
VwGO Einblick in diese Akten nehmen können und ihnen so die Angaben darin
bekannt werden. Eine solche mit der Aktenvorlage verbundene Offenbarung
auch solcher Angaben in den Akten, die geheimhaltungsbedürftig sind, lässt
sich nur rechtfertigen, wenn es für die gerichtliche Entscheidung auf diese An-
gaben ankommt. Die Ermessensentscheidung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO,
ob die behördlichen Akten ungeachtet ihrer Geheimhaltungsbedürftigkeit aus
den genannten überwiegenden anderen Interessen vorgelegt werden sollen,
erfordert, dass Klarheit über die rechtliche Erheblichkeit des Akteninhalts für
den Rechtsstreit der Hauptsache besteht. Ein Beweisbeschluss des Hauptsa-
chegerichts oder eine sonstige formalisierte Äußerung, die diese Klarheit
schafft, ist jedoch ausnahmsweise entbehrlich, wenn die zurückgehaltenen Un-
terlagen zweifelsfrei rechtserheblich sind (Beschluss vom 24. November 2003
- BVerwG 20 F 13.03 - BVerwGE 119, 229). Das ist immer der Fall, wenn die
Pflicht zur Vorlage der Behördenakten - bereits - Streitgegenstand des Verfah-
rens zur Hauptsache ist und die Entscheidung des Verfahrens zur Hauptsache
von der - allein anhand des Inhalts der umstrittenen Akten zu beantwortenden -
Frage abhängt, ob die Akten, wie von der Behörde geltend gemacht, geheim-
haltungsbedürftig sind (so auch Rudisile, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner,
VwGO § 99 Rn. 11 a). So ist es hier. Der Beklagte hat dem Kläger Einblick in
die Akten mit Daten und Angaben über ihn mit der Begründung verweigert, die-
se Angaben seien geheimhaltungsbedürftig. Die Geheimhaltungsbedürftigkeit
des Akteninhalts war auch der Grund, auf den das Ministerium des Innern seine
Weigerung gestützt hatte, diese Akten in dem Rechtsstreit des Klägers wegen
Verweigerung der Auskunft und Einsichtnahme vorzulegen.
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Das Ministerium des Innern hat die behördliche Akte, deren Vorlage es verwei-
gert, zu Recht als geheimhaltungsbedürftig angesehen. Die Akte enthält Anga-
ben, Berichte und sonstige Informationen über die frühere Betätigung des Klä-
gers in der rechtsextremistischen Szene und über seine Anwesenheit bei Tref-
fen rechtsextremer Gruppen in Berlin und Brandenburg. Diese schriftlichen Be-
richte sind so angelegt, dass derjenige, der sie verfasst hat, wegen der wenigen
Personen, die von diesen Aktivitäten wissen können oder an den Treffen teil-
genommen haben, unschwer identifiziert werden könnte, wenn Einblick in die
Akte genommen würde. Würde das geschehen, wäre es den Verfassungs-
schutzbehörden des Beklagten erschwert, die für eine effektive Bekämpfung
des Rechtsextremismus erforderlichen Informationen über rechtsradikale Grup-
pen zu erhalten. Die dafür notwendige Zusammenarbeit der Verfassungs-
schutzbehörden mit den Informanten innerhalb dieser Gruppen, die auf zugesi-
cherte Vertraulichkeit gegründet ist, wäre gefährdet. Die Informanten könnten
ihre Tätigkeit für den Beklagten einstellen und hätten u.U. Übergriffe aus dem
Kreis derer zu befürchten, über die sie berichtet haben. Die Gefahr derartiger
Racheakte entfällt nicht, wie der Kläger vorträgt, bereits deshalb, weil derjenige,
der die behördlichen Akten einsehen kann, nicht gewalttätig ist.
Das Ministerium des Innern hat seine Ermessensentscheidung auf der Grund-
lage der - zutreffenden - Annahme getroffen, die zurückgehaltene Akte sei für
den Rechtsstreit VG Potsdam 3 K 1683/03 erheblich. Es hat in der Sperrerklä-
rung vom 7. Oktober 2003 und in der Ergänzung der dortigen Ermessenserwä-
gungen (vgl. § 114 Satz 2 VwGO) im Schriftsatz vom 8. Dezember 2005 dem
öffentlichen Interesse an der Vermeidung der drohenden Beeinträchtigungen
der Arbeit des Verfassungsschutzes gegenüber der umfassenden Aufklärung
des Sachverhalts in diesem Rechtsstreit das größere Gewicht beigemessen.
Dabei hat es die Bedeutung, die diese gegeneinander abzuwägenden Interes-
sen in der Rechtsordnung haben, zutreffend erkannt. Weiter hat es den Grad
ihrer jeweiligen Gefährdung durch Offenlegung bzw. Zurückhaltung der Akten
sowie die daraus resultierenden weiteren Folgen ermittelt und unter Berück-
sichtigung aller relevanten Aspekte einschließlich der Aktualität der in den Akten
enthaltenen Angaben gegeneinander abgewogen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO; die Festsetzung des
Streitwerts für dieses Zwischenverfahren ergibt sich aus § 52 Abs. 2 GKG.
Dr. Bardenhewer Prof. Dawin Dr. Kugele
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