Urteil des BVerwG vom 24.01.2005

Hauptsache, Verweigerung, Abgabe, Strafprozess

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 20 F 2.04
OVG 10 SO 905/02
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts
für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
am 24. Januar 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. D a w i n und Dr. K u g e l e
beschlossen:
Die Beschwerde des Beklagten gegen den Beschluss des
Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 19. Dezember 2003
wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 4 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist unbegründet. Das Oberverwaltungsgericht hat zu Recht festge-
stellt, dass die Verweigerung der Vorlage der im angefochtenen Beschluss bezeich-
neten Unterlagen durch den Beklagten aufgrund der Sperrerklärung seiner Bevoll-
mächtigten vom 27. November 2002 rechtswidrig ist.
Der Bestätigung der vorinstanzlichen Entscheidung steht nicht, wie der Beklagte
meint, entgegen, dass das Rechtsschutzinteresse des Klägers an seiner Klage im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren zur Hauptsache entfallen ist. Ob der Inhalt der
vom Gericht der Hauptsache angeforderten, nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO aber
zurückgehaltenen Behördenakten nicht mehr entscheidungserheblich ist, weil eine
Sachentscheidungsvoraussetzung für die Klage zur Hauptsache entfallen und diese
Klage deshalb unzulässig geworden ist und die Akten nicht länger der Vorlagepflicht
nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO unterliegen, entscheidet allein das Verwaltungsge-
richt der Hauptsache. Dem Fachgericht ist es, auch unter dem Aspekt einer Prüfung
des Rechtsschutzinteresses für das bei ihm anhängige Verfahren nach § 99 Abs. 2
VwGO, verwehrt, über Zulässigkeit und Begründetheit des Hauptsacheverfahrens zu
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befinden (Beschluss vom 24. November 2003 - BVerwG 20 F 13.03 - BVerwGE 119,
229).
Die Vorenthaltung der Akten ist rechtswidrig, weil es an einer den gesetzlichen An-
forderungen genügenden Sperrerklärung fehlt. Nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann
die oberste Aufsichtsbehörde der nach Satz 1 der Vorschrift zur Aktenvorlage ver-
pflichteten Behörde unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen sich weigern,
die Akten vorzulegen. Da die Staatskanzlei des Beklagten, von der die vom 2. Senat
des Thüringischen Oberverwaltungsgerichts angeforderten Akten amtlich verwahrt
werden und die deshalb vorlagepflichtig wäre, keine Aufsichtsbehörde über sich hat,
ist sie für die Abgabe der Sperrerklärung zuständig. Die Behörde hat jedoch im
Rechtsstreit 2 KO 163/02 des Thüringer Oberverwaltungsgerichts keine Verweige-
rung der Aktenvorlage ausgesprochen. Eine derartige Erklärung haben unter dem
27. November 2002 die Prozessbevollmächtigten des Beklagten "namens und im
Auftrag des Beklagten" abgegeben.
Prozessbevollmächtigte des Trägers der obersten Aufsichtsbehörde können die
Sperrerklärung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht wirksam für die Behörde abge-
ben. Die Sperrerklärung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO stellt - ungeachtet ihrer
Rechtsnatur als prozessrechtliche oder - auch - materiellrechtliche Erklärung - eine
Ermessensentscheidung dar (vgl. dazu Beschluss vom 26. August 2004 - BVerwG
20 F 16.03 - DVBl 2004, S. 1493 = ThürVBl 2004, 278). Ermessensentscheidungen
können nur von einem Träger öffentlicher Verwaltung getroffen werden. Die Vertre-
tungsmacht seiner jeweiligen Organe kann nicht durch gewillkürte Vertretung ver-
drängt oder ergänzt werden. Zudem hat der Gesetzgeber in § 99 Abs. 1 Satz 2
VwGO die wegen ihrer Konsequenzen für die gerichtliche Sachaufklärung und
Wahrheitsfindung schwerwiegende und einschneidende Entscheidung der Verweige-
rung der Aktenvorlage bewusst der obersten Aufsichtsbehörde als der Stelle zuge-
wiesen, die über die umfassendste Kenntnis und das beste Urteilsvermögen verfügt.
Aus alledem folgt, dass sich die oberste Aufsichtsbehörde nicht - wie hier in unmiss-
verständlicher Weise geschehen - bei der Abgabe der Erklärung nach § 99 Abs. 1
Satz 2 VwGO durch einen Privaten vertreten lassen darf.
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Anders als die Beschwerde meint, war, um die vom 2. Senat des Thüringer Ober-
verwaltungsgerichts angeforderten Akten nicht vorlegen zu müssen, die Abgabe ei-
ner Sperrerklärung im Rechtsstreit 2 KO 163/02 nicht entbehrlich. Die Sperrerklärung
nach § 96 StPO, gegen die sich das verwaltungsgerichtliche Verfahren zur Hauptsa-
che richtet, bezieht sich auf die von der Strafkammer erbetene Vorlage der Akten im
Strafprozess. Zur Aktenverweigerung gegenüber dem die Rechtmäßigkeit dieser
strafprozessualen Sperrerklärung überprüfenden Fachsenat des Oberverwaltungsge-
richts bedurfte es nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO einer neuen, für diesen Prozess
geltenden Sperrerklärung. Entscheidungsgegenstand im Verfahren nach § 99 Abs. 2
VwGO vor dem Fachsenat des Thüringer Oberverwaltungsgerichts und des Bundes-
verwaltungsgerichts ist entgegen der Auffassung der Beschwerde nicht die Recht-
mäßigkeit der Sperrerklärung nach § 96 StPO, sondern die Rechtmäßigkeit der Er-
klärung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO; die Festsetzung des Streit-
wertes ergibt sich aus § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG a.F. i.V.m. § 72 Nr. 1 GKG n.F.
Dr. Bardenhewer Prof. Dawin Dr. Kugele