Urteil des BVerwG vom 12.01.2006

Erheblichkeit, Offenlegung, Hauptsache, Telekommunikation

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 20 F 12.04
OVG 13a D 14/04
In der Verwaltungsstreitsache
- 2 -
hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts
für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
am 12. Januar 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. D a w i n und Dr. K u g e l e
beschlossen:
Der Beschluss des Fachsenats für Entscheidungen nach § 99
Abs. 2 VwGO des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nord-
rhein-Westfalen vom 13.
Oktober 2004 wird insoweit aufgeho-
ben, als in ihm festgestellt ist, dass die nach dem Beschluss der
Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (jetzt:
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation,
Post und Eisenbahnen) vom 6. Januar 2004 vorgesehene Of-
fenlegung der Seiten 18 - 39, 40, 41, 78, 88, 92 - 94, 96, 109,
117, 124, 146, 148, 169, 184, 188, 192, 193, 204, 205,
207 - 210, 299, 300, 306, 361, 487, 613, 615 - 617, 681, 695,
700 und 1 013 der einschlägigen Akten der Regulierungsbe-
hörde rechtswidrig ist. Im Übrigen werden die Beschwerden zu-
rückgewiesen.
Von den Gerichtskosten dieses Zwischenverfahrens tragen die
Klägerin und die Beklagte je 4/9 und die Beigeladene 1/9. Von
den außergerichtlichen Kosten dieses Zwischenverfahrens tra-
gen die Klägerin und die Beklagte diejenigen der Beigeladenen
zu je 4/9 und die Beigeladene diejenigen der Klägerin und der
Beklagten zu je 1/9. Im Übrigen tragen die Beteiligten ihre Kos-
ten selbst.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zwischenverfah-
ren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerden sind nur zu einem geringen Teil begründet. Fehlerhaft
ist die Entscheidung des Fachsenats des Oberverwaltungsgerichts, soweit in ihr die
Rechtswidrigkeit der Offenlegung auch der im Tenor dieses Beschlusses genannten
- 3 -
Seiten aus den einschlägigen Behördenakten festgestellt wird, auf die sich der Fest-
stellungsantrag der Beigeladenen ausdrücklich nicht bezieht.
Im Übrigen haben die Beschwerden keinen Erfolg.
Zu Recht hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts über den An-
trag auf Feststellung, dass die Offenlegungsentscheidung der Antragsgegnerin zu
einem wesentlichen Teil rechtswidrig ist, in der Sache entschieden. Denn dieser An-
trag der Beigeladenen war statthaft. Nach § 99 Abs. 2 VwGO kann die gerichtliche
Feststellung der Rechtswidrigkeit der Offenlegungsentscheidung beantragt werden
(Beschluss des Fachsenats beim Bundesverwaltungsgericht für Entscheidungen
nach § 99 Abs. 2 VwGO vom 14. August 2003 - BVerwG 20 F 1.03 - BVerwGE 118,
350).
Der Antrag der Beigeladenen ist auch begründet. Die Regulierungsbe-
hörde für Post und Telekommunikation (jetzt: Bundesnetzagentur für Elektrizität,
Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen) hätte am 6. Januar 2004 nicht be-
schließen dürfen, die im Antrag der Beigeladenen aufgeführten Seiten aus den be-
hördlichen Verwaltungsakten uneingeschränkt offen zu legen.
Die Pflicht der Behörde nach § 99 Abs. 1 VwGO, ihre Verwaltungsakten
in einem verwaltungsgerichtlichen Rechtsstreit vorzulegen, dient der erschöpfenden
Aufklärung des Sachverhalts im Rechtsstreit, die den Verwaltungsgerichten erster
und zweiter Instanz obliegt (§ 86 Abs. 1, § 125 Abs. 1 VwGO). Eine erschöpfende
Sachverhaltsaufklärung mit der Folge, dass das verwaltungsgerichtliche Urteil auf
einen zutreffend erkannten Sachverhalt gegründet ist, ist vom Rechtsstaatsprinzip
(Art. 20 Abs. 3 GG) gefordert und liegt gleichzeitig im individuellen, durch Art. 19
Abs. 4 GG geschützten Interesse der Prozessparteien (stRspr, vgl. BVerfGE 84, 34
<49> m.w.N.). Die Aktenvorlage führt allerdings dazu, dass die Prozessparteien kraft
ihres Einsichtsrechts (§ 100 Abs. 1 VwGO) Einblick in die Akten nehmen können und
ihnen so deren Inhalt bekannt wird. Enthalten die Behördenakten Geschäfts- oder
Betriebsgeheimnisse, führt die Akteneinsicht zur Offenlegung dieser Geheimnisse
und kann damit eine Verletzung des Betriebs- oder Geschäftsinhabers in seinen
- 4 -
durch Art. 12 Abs. 1 und § 14 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich geschützten Rechten
bewirken.
Die Akten, welche die Regulierungsbehörde im Rechtsstreit VG Köln
- 22 K 7391/02 - vorgelegt hat, enthalten Betriebs- bzw. Geschäftsgeheimnisse der
Beigeladenen. Die Angaben über die Zahl der beförderten Briefe erlauben Rück-
schlüsse auf Umsatz, Transportaufwand, Kosten und Gewinn. Die Kenntnis davon
ist, obwohl die Angaben einen Bereich betreffen, in dem die Beigeladene ein Mono-
pol besitzt, entgegen der im Bescheid vom 6. Januar 2004 zum Ausdruck gekomme-
nen Auffassung der Beklagten, für die Wettbewerber der Beigeladenen nicht ohne
Wert und kann der Beigeladenen zu einem nicht unerheblichen Nachteil gereichen.
Denn es steht fest, dass die Exklusivlizenz der Beigeladenen zur Beförderung von
Briefsendungen einer bestimmten Gewichtsklasse in einem ersten Schritt zum
1. Januar 2006 und in einem weiteren Schritt zum 1. Januar 2008 auslaufen wird
(vgl. Art. 1 Nr. 3 a und Art. 2 Nr. 1 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Postge-
setzes vom 16. August 2002 ). Zu den möglichen Wettbewerbern
der Beigeladenen in dem dann liberalisierten Bereich gehört auch die Klägerin.
Auch bei einer zu erwartenden Verletzung des Betriebs- oder Geschäfts-
inhabers in seinen durch Art. 12 Abs. 1 GG und 14 Abs. 1 GG geschützten Rechten
kann die Aufsichtsbehörde nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorlagepflichtigen
Behörde im Rahmen des Ermessens, das ihr bei Geheimhaltungsbedürftigkeit des
Akteninhalts eingeräumt ist, sich um der erschöpfenden gerichtlichen Sachverhalts-
ermittlung und des Individualrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG willen grundsätzlich für die
Vorlage der Verwaltungsakten und damit für die Offenlegung der Geschäfts- bzw.
Betriebsgeheimnisse entscheiden. Diese Möglichkeit ist der Aufsichtsbehörde jedoch
von vornherein verschlossen, wenn die in den Behördenakten niedergelegten ge-
heimhaltungsbedürftigen Tatsachen für die Entscheidung des Rechtsstreits unerheb-
lich sind. Denn auf unerhebliche Tatsachen erstreckt sich die gerichtliche Aufklä-
rungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht, die Ermittlung unerheblicher Tat-
sachen wird von Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG nicht gefordert. Ein recht-
lich beachtenswertes Interesse, eine unerhebliche Tatsache im Prozess aufzuklären,
ist nicht vorstellbar. Für die Ermittlung unerheblicher Tatsachen, die Geschäfts- oder
Betriebsgeheimnisse darstellen, und damit auch für die Vorlage und Offenlegung
- 5 -
behördlicher Akten, in denen derartige Tatsachen festgehalten sind, bedeutet dies,
dass Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG zwingend entgegenstehen.
Ob bestimmte Urkunden oder Akten nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO vor-
gelegt werden müssen, weil die in ihnen niedergelegten Angaben entscheidungser-
heblich sind, entscheidet das Gericht der Hauptsache. Eine derartige Entscheidung
hat das Gericht der Hauptsache grundsätzlich förmlich zu treffen. In aller Regel wird
es einen Beweisbeschluss fassen (Beschluss des Fachsenats beim Bundesverwal-
tungsgericht für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO vom 24. November 2003
- BVerwG 20 F 13.03 - BVerwGE 119, 229). Durch die Angabe des Beweisthemas
verlautbart das Gericht förmlich, dass es diese Tatsachen als erheblich ansieht. Fer-
ner legt sich das Gericht der Hauptsache dadurch, dass es ein positives Zwischenur-
teil nach § 173 VwGO, § 303 ZPO erlässt, darauf fest, dass dem Fortgang des Ver-
fahrens nicht das Fehlen bestimmter, streitig gewordener Sachentscheidungsvor-
aussetzungen entgegensteht und der Inhalt der Behördenakten nicht bereits deshalb
unerheblich für die anstehende Entscheidung ist.
Durch eine bloße Aktenbeiziehung mittels richterlicher Verfügung des
Vorsitzenden oder des Berichterstatters wird die Rechtsauffassung des Gerichts,
dass der Inhalt der erbetenen Akten erheblich ist, nicht in der gebotenen formalisier-
ten Weise verlautbart. Einer häufig bereits mit der Klageschrift übermittelten Bitte des
Vorsitzenden oder des Berichterstatters an die beklagte Behörde um Vorlage ihrer
Akten ist in aller Regel keine abschließende Prüfung der Erheblichkeit des - noch
nicht bekannten - Akteninhalts vorausgegangen. Die bloße Aktenbeiziehung, zumal
in diesem frühen Stadium der Bearbeitung des Streitfalls, hat den Charakter einer
Routinemaßnahme im Zuge der Aufbereitung und Sammlung des Prozessstoffs.
Solange das Gericht der Hauptsache seine Auffassung zur Erheblich-
keit des Akteninhalts nicht in der geschilderten Weise förmlich verlautbart hat, ist
seine Rechtsauffassung in diesem Punkte und damit die Erheblichkeit des Aktenin-
halts - Ausnahmefälle ausgenommen (Beschluss des Fachsenats beim Bundesver-
waltungsgericht für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO vom 24. November
2003 - BVerwG 20 F 13.03 - a.a.O.) - als offen anzusehen. Entschließt sich die Auf-
sichtsbehörde in diesem Stadium des Prozesses dazu, die nach den substantiierten
- 6 -
Angaben eines Prozessbeteiligten Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse enthaltenden
Behördenakten vorzulegen, leidet ihre Ermessensausübung daran, dass ihr die
einander widerstreitenden und im konkreten Fall gegeneinander abzuwägenden ver-
fassungsrechtlichen Rechtspositionen nicht bekannt sind. Denn es ist offen, ob zur
Erreichung einer den Anforderungen des § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO, Art. 20 Abs. 3,
Art. 19 Abs. 4 GG genügenden Entscheidung des Hauptsachegerichts die Offenle-
gung der nach Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Betriebs- bzw. Ge-
schäftsgeheimnisse erforderlich ist.
Damit wird die Ermessensausübung der Behörde nach § 99 Abs. 1
Satz 2 VwGO davon mitbestimmt, inwieweit nach der maßgebenden Rechtsauffas-
sung des Hauptsachegerichts die rechtliche Erheblichkeit des Inhalts der Behörden-
akten außer Zweifel steht. Diese Auffassung des Gerichts kann die Behörde aus
Beweisbeschlüssen oder Zwischenurteilen ersehen. Das Hauptsachegericht ist zum
Erlass eines Beweisbeschlusses über die Aktenbeiziehung grundsätzlich verpflichtet
(Beschluss des Fachsenats beim Bundesverwaltungsgericht für Entscheidungen
nach § 99 Abs. 2 VwGO vom 24. November 2003 - BVerwG 20 F 13.03 - a.a.O.);
sein Ermessen, ob es ein Zwischenurteil nach § 173 VwGO, § 303 ZPO erlässt, wird
durch die Wirkung, die ein derartiges Urteil für die Entscheidung der Aufsichtsbehör-
de nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO haben kann, beeinflusst.
In dem dem Zwischenverfahren zugrundeliegenden Rechtsstreit VG
Köln - 22 K 7391/02 - hat das Verwaltungsgericht, das die Klage gegen den Bescheid
der Antragsgegnerin vom 26. Juli 2002 durch Urteil vom 30. August 2005 als
unzulässig abgewiesen hat, trotz bestehender Zweifel zu keiner Zeit durch eine for-
malisierte Äußerung zu erkennen gegeben, dass es die Klage für zulässig hielt. Die
von der Klägerin und der Beklagten genannten Verhaltensweisen des Verwaltungs-
gerichts, wie Aktenanforderung, Terminierung bzw. Nichtterminierung anderer Ver-
fahren sowie die mündliche Bitte des Vorsitzenden um Entscheidung nach § 99
Abs. 1 Satz 2 VwGO, ersetzen in Fällen, in denen durch die Offenlegungsentschei-
dung Grundrechte Dritter verletzt werden können, nicht die erforderliche formalisierte
Verlautbarung, die erkennen lässt, dass das Gericht den Akteninhalt für rechtserheb-
lich ansieht.
- 7 -
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155, 173 VwGO i.V.m. § 100
ZPO; die Festsetzung des Streitwertes für dieses Zwischenverfahren ergibt sich aus
§ 52 Abs. 2, § 47 Abs. 1 GKG.
Dr. Bardenhewer Prof. Dawin Dr. Kugele
Sachgebiet:
BVerwGE: ja
Verwaltungsprozessrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
VwGO
§§ 99, 100 Abs. 1, § 86 Abs. 1 Satz 1
GG
Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1
Stichworte:
Vorlage der Behördenakten im Prozess, Angaben zu Betriebs- bzw. Geschäftsge-
heimnissen in den Akten; gerichtliche Aufklärung des Sachverhalts; Wahrung der
Betriebs- bzw. Geschäftsgeheimnisse; Erheblichkeit der geheimhaltungsbedürftigen
Tatsachen für die Entscheidung in der Hauptsache; Ermessensentscheidung der
Aufsichtsbehörde; Wissen um Erheblichkeit bei Ermessensausübung; förmliche Äu-
ßerung des Hauptsachegerichts über Erheblichkeit des geheimhaltungsbedürftigen
Akteninhalts.
Leitsätze:
Enthalten die Behördenakten, über deren Vorlage im Prozess die Aufsichtsbehörde
nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu entscheiden hat, Betriebs- oder Geschäftsge-
heimnisse, muss im Zeitpunkt einer behördlichen Freigabeentscheidung außer Zwei-
fel stehen, dass der Inhalt der Akten nach der Rechtsauffassung des Hauptsachege-
richts für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich ist. Hierzu bedarf es in aller
Regel eines Beweisbeschlusses über die Aktenbeiziehung oder einer sonstigen förm-
lichen Äußerung des Hauptsachegerichts.
Beschluss des Fachsenats für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
vom 12. Januar 2006 - BVerwG 20 F 12.04
I. OVG Münster vom 13.10.2004 - Az.: OVG 13a D 14/04 -