Urteil des BVerwG vom 08.03.2010

Verweigerung, Hauptsache, Rechtliches Gehör, Überprüfung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 20 F 11.09
OVG 95 A 7.08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts
für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
am 8. März 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Bardenhewer, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke
und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Buchheister
beschlossen:
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-
Brandenburg vom 17. Juni 2009 wird mit Ausnahme der
Streitwertfestsetzung aufgehoben. Es wird festgestellt,
dass die Verweigerung der Aktenvorlage durch die Beige-
ladene rechtswidrig ist.
Der Beklagte trägt die Kosten des Zwischenverfahrens in
beiden Rechtszügen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich mit der diesem Zwischenverfahren zugrunde liegenden
Klage gegen seine auf § 55 Abs. 2 Nr. 8 AufenthG gestützte Ausweisung, die
der Beklagte mit Erkenntnissen über den Inhalt von Predigten des Klägers in
Rostock und Berlin begründet hat. Diese Erkenntnisse waren der Ausländerbe-
hörde des Beklagten von der beigeladenen Senatsverwaltung für Inneres und
Sport, Abteilung Verfassungsschutz, des Beklagten mitgeteilt worden. Soweit
es die Vorgänge in Rostock betrifft, war die Beigeladene hierüber durch die
Verfassungsschutzbehörde Mecklenburg-Vorpommerns informiert worden. Das
Gericht der Hauptsache gab dem Beklagten mit Anordnung des Berichterstat-
ters vom 20. Juli 2007 auf, die Verwaltungsvorgänge vorzulegen, aus denen
sich die von der Beigeladenen mitgeteilten Informationen ergeben. Die Beige-
ladene verweigerte die Aktenvorlage mit Sperrerklärung vom 25. September
2007 im Wesentlichen aus Gründen des Quellenschutzes und legte ein an die
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Ausländerbehörde gerichtetes „Behördenzeugnis“ vom 4. September 2007 so-
wie ein „Behördenzeugnis“ vom 31. August 2007 des Innenministeriums Meck-
lenburg-Vorpommern vor, in denen die Richtigkeit der über den Kläger mitge-
teilten Informationen und der Geheimhaltungsgründe erklärt wird. Das Innen-
ministerium Mecklenburg-Vorpommern reichte unter Bezugnahme auf die ge-
richtliche Anordnung vom 20. Juli 2007 ebenfalls eine Sperrerklärung zu den
Gerichtsakten. Nachdem der Kläger am 21. November 2007 einen Antrag nach
§ 99 Abs. 2 Satz 1 VwGO gestellt und am 2. Juli 2008 um Bearbeitung gebeten
hatte, erließ das Gericht der Hauptsache am 18. August 2008 einen Beschluss,
wonach über die dem Kläger vorgeworfenen Äußerungen durch Einsichtnahme
in die betreffenden Akten der Beigeladenen und der Verfassungsschutzbehörde
Mecklenburg-Vorpommerns Beweis erhoben werden soll; sodann legte es die
Sache dem Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts vor. Im Zwischenverfahren
reichte die Beigeladene bei dem Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts die
geheim gehaltene Akte mit den von ihr über den Kläger gewonnenen
Erkenntnissen ein, außerdem weitere ebenfalls als geheimhaltungsbedürftig
bezeichnete Schriftstücke - unter anderem einen Vermerk vom 28. Oktober
2008 -, mit denen für den Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts die Geheim-
haltungsbedürftigkeit der gesperrten Akte und die Ermessensbetätigung bei
Abgabe der Sperrerklärung dokumentiert werden sollten. Der Fachsenat des
Oberverwaltungsgerichts nahm diese weiteren Unterlagen zu der geheim ge-
haltenen Akte. Mit Beschluss vom 17. Juni 2009 stellte er fest, dass die Ver-
weigerung der Aktenvorlage durch die Beigeladene rechtmäßig sei. Es könne
dahinstehen, ob der Antrag auch hinsichtlich der nicht der alleinigen Verfü-
gungsbefugnis der Beigeladenen unterliegenden Akten der Verfassungs-
schutzbehörde Mecklenburg-Vorpommerns zulässig wäre; denn er erfasse die-
se Akten nicht, sondern nehme Bezug auf die Anordnung des Hauptsachege-
richts vom 20. Juli 2007, die ausschließlich die dem Beklagten von der Beigela-
denen mitgeteilten Umstände betreffe. Die Vorlageverweigerung sei aus den
von der Beigeladenen angeführten Geheimhaltungsgründen rechtmäßig. Das
Ermessen sei ausweislich der Sperrerklärung und des Vermerks vom 28. Okto-
ber 2008 ordnungsgemäß ausgeübt worden. Gegen diesen Beschluss richtet
sich die Beschwerde des Klägers, die er nicht näher begründet hat.
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II
Die Beschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des angegriffenen Be-
schlusses sowie der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Verweigerung der
Aktenvorlage durch die Beigeladene.
1. Gegenstand der Überprüfung im Zwischenverfahren ist nur die Verweigerung
der Aktenvorlage durch die Beigeladene, nicht hingegen die von der Verfas-
sungsschutzbehörde Mecklenburg-Vorpommerns zu den Akten gereichte
Sperrerklärung. Zwar stünde einer Überprüfung dieser Sperrerklärung durch
den Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts nicht entgegen, dass sie von der
Behörde eines anderen Bundeslandes stammt. Dieser Umstand begründete
nicht etwa - wie allerdings der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts noch in
seiner Eingangsverfügung angenommen hat - die Zuständigkeit des Fachse-
nats des Oberverwaltungsgerichts jenes Bundeslandes. Mit dem Oberverwal-
tungsgericht im Sinne des § 99 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist, soweit die Hauptsache
vor einem Verwaltungsgericht anhängig ist, stets das im Instanzenzug überge-
ordnete Oberverwaltungsgericht gemeint, und zwar unabhängig davon, welche
Behörde vom Hauptsachegericht zu einer Aktenvorlage verpflichtet wird und
welche oberste Aufsichtsbehörde die Aktenvorlage verweigert (sofern es sich
nicht um einen Fall des § 99 Abs. 2 Satz 2 VwGO handelt). Da die Verpflichtung
zur Vorlage von Akten nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht nur die Behörden
betrifft, die dem am Verfahren beteiligten Rechtsträger angehören oder die
selbst am Verfahren beteiligt sind, sondern alle Behörden von Bund, Ländern
und Gemeinden sowie sonstiger Rechtsträger des öffentlichen Rechts, kann es
sich ergeben, dass der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts die
Sperrerklärung der obersten Aufsichtsbehörde eines anderes Bundeslandes zu
überprüfen hat.
Gleichwohl ist die Sperrerklärung der Verfassungsschutzbehörde Mecklenburg-
Vorpommerns im vorliegenden Zwischenverfahren nicht Gegenstand der Über-
prüfung. Denn diese Sperrerklärung ist nicht auf eine gerichtliche Aktenanfor-
derung hin, sondern ersichtlich nur vorsorglich und - wie sich aus dem Schrei-
ben des Beklagten vom 20. August 2007 ergibt - auf Betreiben des Beklagten
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anlässlich der allein an ihn und nicht zugleich auch an die Verfassungsschutz-
behörde eines anderen Landes gerichteten Anordnung vom 20. Juli 2007 ab-
gegeben worden. Unter diesen Umständen ist es nicht zu beanstanden, dass
der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts davon ausgegangen ist, dass sich
der Antrag des Klägers nach § 99 Abs. 2 Satz 1 VwGO nur auf die von dem
Gericht der Hauptsache mit Anordnung vom 20. Juli 2007 getroffene Aufforde-
rung an den Beklagten zur Vorlage der den Kläger betreffenden Verwaltungs-
vorgänge der Beigeladenen und deren daraufhin ergangene Sperrerklärung
vom 25. September 2007 bezieht, und dass er davon abgesehen hat, das In-
nenministerium Mecklenburg-Vorpommern beizuladen. Es kann danach dahin-
stehen, ob der später gefasste Beweisbeschluss, in dem das Hauptsachege-
richt neben der Beigeladenen auch die Verfassungsschutzbehörde Mecklen-
burg-Vorpommerns aufgefordert hat, die den Kläger betreffenden Akten vorzu-
legen, überhaupt dieser Behörde gegenüber wirksam geworden ist; nach Ak-
tenlage ist ihr der Beschluss bislang nicht mitgeteilt worden.
2. Die Verweigerung der Aktenvorlage durch die Beigeladene ist rechtswidrig.
Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind Behörden zur Vorlage von Urkunden oder
Akten und zu Auskünften an das Gericht verpflichtet. Wenn das Bekanntwerden
des Inhalts dieser Urkunden, Akten oder Auskünfte dem Wohl des Bundes oder
eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde oder wenn die Vorgänge
nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach geheim gehalten werden müssen,
kann die zuständige oberste Aufsichtsbehörde die Vorlage der Urkunden oder
Akten oder die Erteilung der Auskünfte verweigern (§ 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO).
Die Sperrerklärung der Beigeladenen vom 25. September 2007 genügt den sich
hieraus ergebenden Anforderungen an eine Entscheidung über die
Verweigerung der Aktenvorlage nicht.
a) Unschädlich ist allerdings, dass die Beigeladene die Sperrerklärung bereits
vor Erlass des Beweisbeschlusses vom 18. August 2008 - auf die gerichtliche
Anordnung des Berichterstatters vom 20. Juli 2007 hin - abgegeben hat. Zwar
genügt eine vor förmlicher Klärung der Entscheidungserheblichkeit des Akten-
inhalts durch das gesamte Hauptsachegericht ergangene Ermessensentschei-
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dung der obersten Aufsichtsbehörde grundsätzlich nicht den Anforderungen des
§ 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Das Erfordernis der förmlichen Verlautbarung der
Entscheidungserheblichkeit vor Abgabe an den Fachsenat gewährleistet, dass
die oberste Aufsichtsbehörde auf dieser Grundlage in die gesetzlich geforderte
Ermessensabwägung eintreten kann (Beschluss vom 24. August 2009 -
BVerwG 20 F 2.09 - juris Rn. 3). Das Gericht der Hauptsache hatte hier jedoch
bereits mit der durch den Beweisbeschluss bestätigten Anordnung vom 20. Juli
2007 deutlich gemacht, dass es die angeforderten Unterlagen für ent-
scheidungserheblich hält. Daher ist nicht zu beanstanden, dass es die Beigela-
dene nach Erlass des Beweisbeschlusses nicht erneut zur Abgabe einer Sperr-
erklärung aufgefordert, sondern die Sache dem Fachsenat des Oberverwal-
tungsgerichts vorgelegt hat. Abgesehen davon ist eine förmliche Äußerung des
Hauptsachegerichts zur Klärung der Entscheidungserheblichkeit des Aktenin-
halts ausnahmsweise entbehrlich, wenn die zurückgehaltenen Unterlagen zwei-
felsfrei rechtserheblich sind (stRspr, vgl. nur Beschluss vom 24. August 2009
a.a.O. Rn. 4 m.w.N.). Wie der Senat bereits entschieden hat, ist eine förmliche
Äußerung zur Entscheidungserheblichkeit in Streitigkeiten um eine Einbürge-
rung entbehrlich, weil es offensichtlich ist, dass nur mit Hilfe der zurückgehalte-
nen Unterlagen geklärt werden kann, ob die Erkenntnisse der Verfassungs-
schutzbehörde die darauf gestützte Ablehnung der Einbürgerung rechtfertigen
(Beschlüsse vom 4. Mai 2006 - BVerwG 20 F 3.05 - und vom 3. März 2009
- BVerwG 20 F 9.08 - juris Rn. 6). Für eine auf Erkenntnisse der Verfassungs-
schutzbehörde gestützte Ausweisung gilt nichts anderes.
b) Die Sperrerklärung der Beigeladenen leidet bereits daran, dass sie die Be-
rechtigung der geltend gemachten Geheimhaltungsgründe nicht hinreichend
erkennen lässt.
Bereitet das Bekanntwerden des Inhalts zurückgehaltener Dokumente dem
Wohl des betroffenen Landes oder dem Bund Nachteile, ist ihre Geheimhaltung
ein legitimes Anliegen des Gemeinwohls (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober
1999 - 1 BvR 385/90 - BVerfGE 101, 106 <127 f.>; BVerwG, Beschluss vom
7. November 2002 - BVerwG 2 AV 2.02 - NVwZ 2003, 347 <348>), das eine
Verweigerung der Vorlage gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO rechtfertigen kann.
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Ein Nachteil in diesem Sinne ist u.a. dann gegeben, wenn und soweit die Be-
kanntgabe des Akteninhalts die künftige Erfüllung der Aufgaben der Sicher-
heitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden
erschweren oder Leben, Gesundheit oder Freiheit von Personen gefährden
würde (Beschlüsse vom 29. Juli 2002 - BVerwG 2 AV 1.02 - BVerwGE 117, 8
= Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 27, vom 25. Februar 2008 - BVerwG 20 F
43.07 - juris Rn. 10, vom 5. Februar 2009 - BVerwG 20 F 24.08 - juris Rn. 4,
vom 3. März 2009 a.a.O. Rn. 7 und vom 2. Juli 2009 - BVerwG 20 F 4.09 -
Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 54 Rn. 8).
Der Senat vermag auf der Grundlage der Sperrerklärung nicht zu erkennen,
dass diese Geheimhaltungsgründe eine generelle Verweigerung der Aktenvor-
lage rechtfertigen können. Die Beigeladene hat ohne nähere Differenzierung
darauf abgestellt, dass der gesamte Akteninhalt zurückgehalten werden müsse,
weil es sich um Erkenntnisse handele, die ausschließlich auf Quellenangaben
beruhten und nur einem sehr eng begrenzten Personenkreis bekannt seien;
eine Offenlegung begründe eine beträchtliche Gefahr für Leib, Leben, Gesund-
heit oder Freiheit der Quellen und ihrer Angehörigen. Diese Begründung ver-
mag eine den gesamten Akteninhalt erfassende Vorlageverweigerung nicht zu
erklären. Die Akte enthält Quellenberichte über verschiedene Äußerungen des
Klägers in einer muslimischen Versammlungsstätte in Berlin. Diese Umstände
hat die Beigeladene bereits gegenüber dem Beklagten - konkretisiert nach Da-
tum und Inhalt der Äußerungen - offenbart; sie hat deren Richtigkeit ferner in
dem vorgelegten Behördenzeugnis bestätigt. Es ist also ohnehin offenkundig,
dass die Erkenntnisse der Beigeladenen mittelbar oder unmittelbar von einer
oder mehreren Quellen stammen, die an diesen Versammlungen teilgenommen
haben. Zu deren Schutz wäre eine vollständige Zurückhaltung der Berichte nur
dann erforderlich, wenn die Art und Weise der Berichterstattung weitergehende
Rückschlüsse auf die Identität zuließen. Dafür fehlt jedoch jede Begründung in
der Sperrerklärung. Sie ergibt sich nach dem Inhalt der Berichte auch
keineswegs von selbst, zumal an den Versammlungen offenbar jeweils eine
größere Zahl von Personen, mitunter mehrere hundert, teilgenommen haben
sollen. Bislang fehlt somit eine tragfähige Begründung dafür, warum dem
Hauptsachegericht die Akte nicht zumindest in den Teilen zugänglich gemacht
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werden kann, die diejenigen Passagen der Berichte betreffen, deren Inhalt eine
Überprüfung der Tatsachenbehauptungen erlauben, auf die der Beklagte die
Ausweisung stützt.
c) Die Sperrerklärung der Beigeladenen leidet zudem an einem Ermessensde-
fizit.
Durch die Ermessenseinräumung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO wird der
obersten Aufsichtsbehörde die Möglichkeit eröffnet, dem öffentlichen Interesse
und dem individuellen Interesse der Prozessparteien an der Wahrheitsfindung
in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess den
Vorrang vor dem Interesse an der Geheimhaltung der Schriftstücke zu geben
(Beschlüsse vom 19. August 1964 - BVerwG 6 B 15.62 - BVerwGE 19, 179
<186>, vom 15. August 2003 - BVerwG 20 F 8.03 - Buchholz 310 § 99 VwGO
Nr. 34, vom 13. Juni 2006 - BVerwG 20 F 5.05 - Buchholz 310 § 99 VwGO
Nr. 42 und vom 1. August 2007 - BVerwG 20 F 10.06 - juris Rn. 5 f.). § 99
Abs. 1 Satz 2 VwGO regelt die Auskunftserteilung und Aktenvorlage im Ver-
hältnis der mit geheimhaltungsbedürftigen Vorgängen befassten Behörde(n)
zum Verwaltungsgericht, das in einem schwebenden Prozess für eine sachge-
rechte Entscheidung auf die Kenntnis der Akten angewiesen ist. In diesem
Verhältnis stellt das Gesetz die Auskunftserteilung und Aktenvorlage in das
Ermessen der Behörde, lässt dieser also die Wahl, ob sie die Akten oder die
Auskunft wegen ihrer Geheimhaltungsbedürftigkeit zurückhält oder ob sie da-
von um des effektiven Rechtsschutzes willen absieht. Da die Sperrerklärung als
Erklärung des Prozessrechts auf die Prozesslage abgestimmt sein muss, in der
sie abgegeben wird, genügt es grundsätzlich nicht, in ihr lediglich auf die die
Sachentscheidung tragenden Gründe des - je nach Fachgesetz im Einzelnen
normierten - Geheimnisschutzes zu verweisen. Die oberste Aufsichtsbehörde
ist vielmehr im Rahmen des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO gefordert, in besonderer
Weise in den Blick zu nehmen, welche rechtsschutzverkürzende Wirkung die
Verweigerung der Aktenvorlage im Prozess für den Betroffenen haben kann.
Darin liegt die Besonderheit ihrer Ermessensausübung nach dieser Verfah-
rensbestimmung. Dementsprechend ist der obersten Aufsichtsbehörde auch in
den Fällen Ermessen zugebilligt, in denen das Fachgesetz der zuständigen
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Fachbehörde kein Ermessen einräumt (stRspr, vgl. nur Beschlüsse vom
1. August 2007 a.a.O. Rn. 5 und vom 21. Februar 2008 - BVerwG 20 F 2.07 -
BVerwGE 130, 236 = Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 46, jeweils Rn. 19). Maß-
stab ist dabei neben dem privaten Interesse an effektivem Rechtsschutz und
dem - je nach Fallkonstellation - öffentlichen oder privaten Interesse an Ge-
heimnisschutz auch das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung (BVerfG,
Beschluss vom 14. März 2006 - 1 BvR 2087/03, 1 BvR 2111/03 - BVerfGE 115,
205 <241>). Die oberste Aufsichtsbehörde muss in ihrer Sperrerklärung in
nachvollziehbarer Weise erkennen lassen, dass sie gemessen an diesem
Maßstab die Folgen der Verweigerung mit Blick auf den Prozessausgang ge-
wichtet hat.
Diesen Anforderungen genügt die Sperrerklärung der Beigeladenen nicht. Ihr
mangelt es an einer dokumentierten Berücksichtigung des Interesses des Klä-
gers an effektivem Rechtsschutz. Die Beigeladene hat sich darauf beschränkt,
Geheimhaltungsgründe anzuführen und sie - zudem formelhaft - höher zu ge-
wichten als das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung. Dass sie das
Interesse des Klägers an effektivem Rechtsschutz nicht hinreichend in die Ab-
wägung einbezogen hat, zeigt auch der Umstand, dass sie in ihrer Sperrerklä-
rung auf eine nähere Differenzierung und Präzisierung nach der Art des Akten-
inhalts verzichtet und das gesamte Aktenkonvolut als geheimhaltungsbedürftig
angesehen hat, anstatt zu prüfen, ob nicht eine teilweise Schwärzung ausreicht,
um den Geheimhaltungsinteressen in Abwägung mit dem Interesse des Klägers
hinreichend Rechnung zu tragen (vgl. zur Sichtung und Ordnung nach
verschiedenen Geheimhaltungsinteressen Beschluss vom 1. August 2007
a.a.O. juris Rn. 6 f.). Die Beigeladene hat somit keine erkennbaren Erwägungen
dazu angestellt, ob das Aufklärungsinteresse des Klägers es möglicherweise
rechtfertigt, zumindest bestimmte Teile, zumal solche, deren behaupteten Inhalt
sie ohnehin bereits offenbart hat, offenlegen zu können, ohne die Quellen zu
gefährden. Namentlich erschließt sich aus der Sperrerklärung nicht, warum die
Quellenberichte über die in Rede stehenden Versammlungen und die dort
getätigten Äußerungen des Klägers nicht wenigstens auszugsweise
freigegeben werden könnten, um das Gericht der Hauptsache in die Lage zu
versetzen, die von dem Beklagten angeführten Ausweisungsgründe auf dieser
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Grundlage zu überprüfen und um dem Kläger Gelegenheit zu geben, sich damit
in konkreter Weise auseinanderzusetzen.
d) Ein weiterer Mangel der Sperrerklärung der Beigeladenen ergibt sich daraus,
dass sie nicht alle vom Gericht der Hauptsache angeforderten Unterlagen er-
fasst. Die Beigeladene ist ersichtlich davon ausgegangen, dem Hauptsachege-
richt nur diejenigen Unterlagen vorlegen zu müssen, die die von ihr selbst ermit-
telten Informationen über den Kläger enthalten, also nur die Unterlagen über die
dem Kläger vorgeworfenen Äußerungen anlässlich von Predigten in Berlin.
Demgemäß hat sie auch im Zwischenverfahren nur diese Unterlagen vorgelegt.
Das Gericht der Hauptsache hat aber nicht nur die Vorlage der von der Beige-
ladenen selbst ermittelten Erkenntnisse verlangt, sondern die Verwaltungsvor-
gänge mit denjenigen Informationen über den Kläger, die die Beigeladene der
Ausländerbehörde des Beklagten mitgeteilt hat. Die Beigeladene hat der Aus-
länderbehörde ausweislich der Ausländerakte mit Schreiben vom 31. Mai 2006
auch die Erkenntnisse über Äußerungen des Klägers bei Predigten in Rostock
mitgeteilt, die, wie sie im Schreiben an die Ausländerbehörde vom 16. März
2007 ausführt, auf Meldungen aus nachrichtendienstlichem Informationsauf-
kommen aus Mecklenburg-Vorpommern beruhen. Diese Erkenntnisse sind der
Ausländerbehörde nach Aktenlage also nicht - wie allerdings der Fachsenat des
Oberverwaltungsgerichts angenommen hat - von der Verfassungsschutz-
behörde Mecklenburg-Vorpommerns mitgeteilt worden. Die vom Hauptsache-
gericht angeforderten Verwaltungsvorgänge der Beigeladenen mit denjenigen
Informationen über den Kläger, die sie der Ausländerbehörde mitgeteilt hat,
umfasst deshalb auch die in ihren Akten befindlichen Meldungen der Verfas-
sungsschutzbehörde Mecklenburg-Vorpommerns.
Demgegenüber kann sich die Beigeladene nicht auf die - auch vom Fachsenat
des Oberverwaltungsgerichts angeführte - Regelung in § 31 Abs. 1 Satz 2 des
Verfassungsschutzgesetzes Berlin stützen, wonach sich die Auskunftsverpflich-
tung nicht auf Informationen erstreckt, die nicht der alleinigen Verfügungsbe-
fugnis der Verfassungsschutzbehörde unterliegen. Denn diese Vorschrift be-
schränkt allein den fachgesetzlichen Auskunftsanspruch des Betroffenen ge-
genüber der Verfassungsschutzbehörde. Darum geht es hier jedoch nicht. Ge-
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genstand des Zwischenverfahrens ist vielmehr ein auf § 99 Abs. 1 Satz 1
VwGO gestütztes Begehren des Hauptsachegerichts, die den Kläger betreffen-
den Akten vorzulegen, um die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung überprüfen zu
können. Bei der Entscheidung über eine Verweigerung der Aktenvorlage hat die
Beigeladene die besondere vom Prozessrecht geforderte Abwägung nach den
dargestellten Maßstäben des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO vorzunehmen, die eine
Aktenvorlage nach Ermessen zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes und des
öffentlichen Interesses an der Wahrheitsfindung auch dann ermöglichen, wenn
das Fachrecht kein Ermessen einräumt.
e) Der vom Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts verwertete und dem Kläger
nicht zugänglich gemachte Vermerk der Beigeladenen vom 28. Oktober 2008,
mit dem sie die Tragfähigkeit ihrer Ermessensausübung näher erläutern wollte,
muss bei der Überprüfung außer Betracht bleiben. Der Kläger hat als Beteiligter
unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs auch im Zwischenverfahren
einen Anspruch darauf, sich zu jeder dem Gericht zur Entscheidung
unterbreiteten schriftlichen Stellungnahme der Gegenseite zu äußern. Davon
sieht § 99 Abs. 2 VwGO keine Ausnahme vor. Einer Behörde steht es nicht zu,
durch Erklärung, dass ein an das Gericht gerichteter Schriftsatz als Verschluss-
sache einzustufen sei, die dem Gericht in Ausübung seiner Rechtsprechungs-
gewalt zustehende Verfügungsbefugnis über den Schriftsatz zu verkürzen.
Denn das Recht und die Pflicht des Gerichts, den Beteiligten nach dem auch im
„in-camera“-Verfahren geltenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs grundsätz-
lich alle prozessrelevanten Äußerungen im Rahmen des gerichtlichen Verfah-
rens zur Kenntnis zu geben, steht nicht zur Disposition der Behörde. Eine Ein-
schränkung des rechtlichen Gehörs bei der Ausgestaltung des „in-camera“-
Verfahrens ist auch nicht erforderlich, um den Geheimnisschutz zu sichern.
Ebenso wie die Entscheidungsgründe des Fachsenats Art und Inhalt der ge-
heim gehaltenen Urkunden oder Akten nicht erkennen lassen dürfen, kann die
über die Aktenvorlage entscheidende Behörde ihre Äußerungen gegenüber
dem Gericht so abfassen, dass der von ihr begehrte Geheimnisschutz auch
dann gewahrt bleibt, wenn der Schriftsatz prozessordnungsgemäß dem Gegner
zugestellt wird (Beschlüsse vom 6. November 2008 - BVerwG 20 F 7.08 -
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Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 51 Rn. 17, vom 5. Februar 2009 a.a.O. Rn. 16
und vom 24. August 2009 a.a.O. Rn. 14).
Die entscheidungserhebliche Berücksichtigung des Vermerks der Beigeladenen
vom 28. Oktober 2008 durch den Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts ver-
letzte deshalb den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1
GG). Die von der Beigeladenen als geheimhaltungsbedürftig eingestuften und
deshalb nur für das Gericht übersandten Schriftstücke gehörten weder zu den
Gerichtsakten, auf die sich das Einsichtsrecht des Klägers erstreckt, noch zu
den Verwaltungsakten, deren Vorlage die Beigeladene mit der Sperrerklärung
verweigert hat. Sie hätten deshalb mit Eingang an die Beigeladene zurückge-
sandt werden müssen (vgl. Beschlüsse vom 17. November 2003 - BVerwG
20 F 16.03 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 35, vom 5. Februar 2009 a.a.O.
Rn. 17 f. und vom 24. August 2009 a.a.O. Rn. 15). Dies ist nunmehr im Be-
schwerdeverfahren geschehen.
3. Die Feststellung des beschließenden Senats, dass die Sperrerklärung
rechtswidrig ist, hindert die Beigeladene nicht, erneut eine Sperrerklärung ab-
zugeben und dann bei der Einstufung als geheimhaltungsbedürftig und bei der
Ermessensausübung näher zwischen den einzelnen Teilen der Akte unter Be-
rücksichtigung des Interesses des Klägers an effektivem Rechtsschutz zu diffe-
renzieren. Ferner muss sich eine erneute Sperrerklärung - wie ausgeführt -
auch zu den Aktenbestandteilen verhalten, die die vom Verwaltungsgericht
ebenfalls angeforderten Mitteilungen der Verfassungsschutzbehörde Mecklen-
burg-Vorpommerns betreffen, über die die Beigeladene die Ausländerbehörde
informiert hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des
Streitwerts für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1,
§ 52 Abs. 2 GKG.
Dr. Bardenhewer Dr. Bumke Buchheister
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Verwaltungsprozessrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquelle:
VwGO
§ 99
Stichworte:
Verwaltungsgerichtliche Kontrolle einer Ausweisung; Erkenntnisse des Verfas-
sungsschutzes; Verpflichtung zur Aktenvorlage; Sperrerklärung der obersten
Aufsichtsbehörde; Ausübung des Vorlageermessens; Zuständigkeit des Fach-
senats des Oberverwaltungsgerichts; Wahrung des rechtlichen Gehörs; Ver-
wertung von als geheim bezeichneten Behördenschriftsätzen.
Leitsatz:
Zuständig für die Überprüfung der Sperrerklärung, die in einem Hauptsachever-
fahren vor dem Verwaltungsgericht von einer obersten Aufsichtsbehörde abge-
geben wird, ist der Fachsenat des im Instanzenzug übergeordneten Oberver-
waltungsgerichts. Ob es sich um die oberste Aufsichtsbehörde eines anderen
Bundeslandes handelt, ist für die Zuständigkeit des Fachsenats ohne Bedeu-
tung.
Die Berücksichtigung von Schriftsätzen einer Behörde, die von ihr als geheim-
haltungsbedürftig bezeichnet und nur zur Kenntnisnahme für das Gericht über-
sandt werden, verstößt gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs, das auch im
Zwischenverfahren nach § 99 Abs 2 VwGO gilt. Solche Schriftsätze gehören
weder zu den Gerichtsakten, auf die sich das Einsichtsrecht des Klägers er-
streckt, noch zu den Verwaltungsakten, deren Vorlage mit der Sperrerklärung
verweigert wird. Sie müssen mit Eingang an die Behörde zurückgesandt wer-
den.
Beschluss des Fachsenats vom 8. März 2010 - BVerwG 20 F 11.09
I. OVG Berlin-Brandenburg vom 17.06.2009 - Az.: OVG 95 A 7.08 -