Urteil des BVerwG vom 13.07.2006

Soldat, Reserve, Disziplinarverfahren, Angehöriger

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 WDB 1.06
TDG N 5 VL 12/05
In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren
g e g e n
den Oberstleutnant der Reserve …,
…,
…,
- Verteidiger:
Rechtsanwälte …,
… -
hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Widmaier
als Vorsitzender,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Frentz und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Deiseroth
am 13. Juli 2006 beschlossen:
Der Beschluss des Vorsitzenden der 5. Kammer des
Truppendienstgerichts Nord vom 5. Dezember 2005 wird
aufgehoben.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Endentschei-
dung vorbehalten.
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G r ü n d e :
I
Der 61 Jahre alte frühere Soldat war in der Zeit vom 1. Oktober 1970 bis zum
30. September 1975 Soldat auf Zeit in der Bundeswehr. Nach seinem Aus-
scheiden leistete er regelmäßig Wehrübungen ab. Zum Oberstleutnant der Re-
serve wurde er am 13. Juni 1990 ernannt.
In dem mit Verfügung des Amtschefs des Personalamts der Bundeswehr vom
16. Juli 2004 ordnungsgemäß eingeleiteten
gerichtlichen Disziplinarverfahren
legte die zuständige Wehrdisziplinaranwaltschaft in ihrer Anschuldigungsschrift
vom 22. Februar 2005 dem früheren Soldaten zur Last, als wehrübender Ver-
bindungsstabsoffizier im Deutschen Anteil Stab MBS im Feldlager Prizren/
Kosovo in einem Fall eine Sympathiebekundung für Adolf Hitler gegenüber Ka-
meraden abgegeben und nach geäußerten „Gegenvorstellungen“ Kameraden
bedroht und beleidigt zu haben sowie in zwei Fällen jeweils eine E-Mail mit Ge-
burtstagswünschen auf dem Dienstcomputer, die u.a. das Emblem der ehema-
ligen albanischen Befreiungsorganisation UCK enthielt, versandt zu haben.
Dieses Verhalten wurde als Dienstvergehen nach § 23 Abs. 1 SG i.V.m. §§ 7,
10 Abs. 6, § 12 Satz 2, § 17 Abs. 2 Satz 1 SG unter den erschwerenden Vor-
aussetzungen des § 10 Abs. 1 SG angesehen.
Der Vorsitzende der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Nord stellte mit Be-
schluss vom 5. Dezember 2005 das gerichtliche Disziplinarverfahren außerhalb
der Hauptverhandlung gemäß § 108 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 WDO ein. Zur Be-
gründung führte er im Wesentlichen aus:
Der angeschuldigte Sachverhalt sei einer disziplinarrechtlichen Würdigung nur
dann zugänglich, wenn der frühere Soldat, der nicht als Soldat im Ruhestand
gelte, der Regelung des § 58 Abs. 3 WDO unterfiele. Dies sei aber nicht der
Fall, da er weder Angehöriger der Reserve sei, noch zu Dienstleistungen nach
dem Soldatengesetz herangezogen werden könne. Die erstgenannte Alternati-
ve sei deshalb nicht gegeben, weil für den früheren Soldaten die Wehrpflicht mit
Vollendung seines 60. Lebensjahres am 16. Dezember 2004 nach § 3 Abs. 4
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WPflG und damit auch die Wehrüberwachung nach § 24 Abs. 1 WPflG geendet
hätten. Aus der Tatsache, dass ein freiwilliger, damit nicht pflichtiger Wehr-
dienst bis zum 65. Lebensjahr nach § 4 Abs. 3 WPflG grundsätzlich möglich sei,
ergebe sich keine Änderung. Außerdem könne § 58 Abs. 3 WDO selbst, der
ausdrücklich zwischen Angehörigen der Reserve und nicht wehrpflichtigen frü-
heren Soldaten unterscheide, entnommen werden, dass zu den Angehörigen
der Reserve nur jene früheren Soldaten zählten, die noch der Wehrpflicht unter-
fielen. Der frühere Soldat gehöre auch nicht der zweiten Alternative an. Nicht
wehrpflichtige frühere Soldaten, die noch zu Dienstleistungen herangezogen
werden könnten, seien zwar auch frühere Soldaten auf Zeit mit einer Dienstzeit
von mindestens zwei Jahren bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres oder auf
freiwilliger Basis bis zum 65. Lebensjahr, dann jedoch nur mit Zustimmung des
Bundesministeriums der Verteidigung (§ 59 Abs. 2 WDO). Der frühere Soldat
habe einerseits das 60. Lebensjahr vollendet, so dass § 59 Abs. 2 Nr. 1 SG
ausscheide; andererseits würden für § 59 Abs. 2 Nr. 3 SG die Erklärung des
(früheren) Soldaten sowie die Zustimmung des Bundesministeriums der Vertei-
digung fehlen.
Gegen diesen ihr am 7. Dezember 2005 zugestellten Beschluss hat die Wehr-
disziplinaranwaltschaft am 16. Dezember 2005 Beschwerde beim Truppen-
dienstgericht Nord - 5. Kammer - eingelegt und beantragt, Termin zur Haupt-
verhandlung anzuberaumen.
Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vorgetragen:
Eine Verfahrenseinstellung nach § 108 Abs. 4 WDO komme nicht in Betracht,
weil kein Verfahrenshindernis gemäß § 108 Abs. 3 Satz 1 WDO vorliege. Der
frühere Soldat könne nach § 59 Abs. 2 Nr. 3 SG noch zu militärischen Dienst-
leistungen gemäß § 60 SG herangezogen werden. § 58 Abs. 3 WDO sei selbst
für frühere Soldatinnen anwendbar, die aufgrund freiwilliger Verpflichtung
Dienstleistungen erbrachten, ohne Berufssoldat oder Soldat auf Zeit gewesen
zu sein (unter Hinweis auf Dau, WDO, 4. Aufl. 2002, § 58 Rn. 8). Das Erforder-
nis der Zustimmung des Bundesministeriums der Verteidigung stehe der vertre-
tenen Auslegung nicht entgegen, da die Einberufung stets in dessen Auftrag
erfolge. Nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung (unter Hinweis auf
den Beschluss des 2. Wehrdienstsenats vom 29. Oktober 2002 - BVerwG
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2 WDB 8.02 -) sei die Ahndung der Verletzung der Verpflichtung zu nachdienst-
lichem achtungs- und vertrauenswürdigen Verhalten eines früheren Soldaten
und damit erst recht die Ahndung von Dienstvergehen früherer Soldaten nur
dann ausgeschlossen, wenn deren Wiederverwendung im Rahmen einer militä-
rischen Dienstleistung nicht einmal theoretisch mehr in Betracht kommen kön-
ne. Ungeachtet eventueller im Einzelfall anzuwendender verfahrensmäßiger
Bestimmungen stehe der frühere Soldat zumindest theoretisch zu militärischen
Dienstleistungen zur Verfügung. Bei Annahme einer Ahndungsmöglichkeit erst
bei Zustimmung des früheren Soldaten sowie des Bundesministeriums der Ver-
teidigung würde die Verfolgbarkeit eines Dienstvergehens eines früheren Solda-
ten, der noch zu militärischen Dienstleistungen herangezogen werden könne,
letztlich dessen Dispositionsbefugnis überantwortet. Dem Gesetzgeber stehe es
frei, die gesetzlichen Regeln zur Heranziehung eines Soldaten bei entspre-
chendem Bedarf zu ändern. Zielsetzung der Ordnungsvorschrift des § 58 Abs. 3
WDO müsse sein, für jede Möglichkeit der Einberufung eines Reservisten einen
geordneten und integren Dienstbetrieb aufrechtzuerhalten und zu sichern, in-
dem die Möglichkeit geschaffen werde, ein Korps von achtungs- und vertrau-
enswürdigen Reserveoffizieren und -unteroffizieren zu erhalten, die zur Wieder-
verwendung in einem ihrer militärischen Vorbildung und ihrem militärischen
Rang entsprechenden Dienstgrad geeignet seien.
Die Verteidiger des früheren Soldaten sind der Auffassung, dass der Vorsitzen-
de der Truppendienstkammer das Verfahren zu Recht nach § 108 Abs. 4 WDO
wegen eines Verfahrenshindernisses i.S.d. § 108 Abs. 3 Satz 1 WDO einge-
stellt hat und tragen im Wesentlichen vor:
Ein gerichtliches Disziplinarverfahren sei ausschließlich dann statthaft, wenn
der frühere Soldat dem § 58 Abs. 3 WDO unterfiele. Das sei aber nicht der Fall,
weil er weder Angehöriger der Reserve noch nicht wehrpflichtiger früherer Sol-
dat sei, der noch zu Dienstleistungen herangezogen werden könne. Die erste
Alternative des § 58 Abs. 3 WDO scheide aus, da er seit Vollendung des
60. Lebensjahres gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 WPflG kein Angehöriger der Reser-
ve mehr sei. Der frühere Soldat unterfalle auch nicht der zweiten Alternative.
Zwar sei er Soldat auf Zeit für fünf Jahre gewesen und habe das 65. Lebensjahr
nicht vollendet, jedoch habe er weder eine freiwillige schriftliche Verpflichtung
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abgegeben noch habe das Bundesministerium der Verteidigung einer solchen
zugestimmt. Es entspreche allgemeiner Auffassung, dass für das Vorliegen
oder Nichtvorliegen eines Verfahrenshindernisses der Zeitpunkt der Prüfung
durch das erkennende Gericht maßgeblich sei. Die Lösung des Truppendienst-
gerichts entspreche dem Wortlaut des Gesetzes.
Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hält die Beschwerde dagegen für begründet.
Solange eine Wiederverwendung des früheren Soldaten selbst nur theoretisch
noch in Betracht komme, bleibe ein Fehlverhalten als fiktives Dienstvergehen
im Sinne von § 23 Abs. 2 Nr. 2 SG disziplinar verfolgbar (unter Hinweis auf
BVerwG 2 WDB 8.02). Dies müsse vorliegend auch schon deswegen gelten,
weil es andernfalls dem früheren Soldaten in die Hand gegeben wäre, über sei-
ne disziplinare Verfolgbarkeit (mit) zu entscheiden oder seine Heranziehung an
entsprechende Bedingungen zu knüpfen.
II
Die Beschwerde ist zulässig (§ 114 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 und Abs. 3 WDO) und
begründet.
Der Vorsitzende der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Nord hat zu Unrecht
außerhalb der Hauptverhandlung das Verfahren eingestellt. Ein zur Einstellung
durch Beschluss außerhalb der Hauptverhandlung berechtigendes Verfahrens-
hindernis i.S.d. § 108 Abs. 4 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 WDO liegt nicht vor.
Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben.
Der frühere Soldat gehört gemäß § 58 Abs. 3 WDO zur Gruppe nicht wehr-
pflichtiger früherer Soldaten, die noch zu den in § 60 SG genannten Dienstleis-
tungen herangezogen werden können. Er ist zwar als ehemaliger Zeitsoldat
nicht der in § 51 SG und § 59 Abs. 1 SG genannten Gruppe von Soldaten, die
noch zu Dienstleistungen herangezogen werden können, zuzuordnen, denn
hierzu zählen nur frühere Berufssoldaten, die wegen Erreichens der Altersgren-
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ze in den Ruhestand getreten sind und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet
haben. Der frühere Soldat fällt jedoch unter den Personenkreis des § 59 Abs. 2
SG. Hiernach können frühere Berufssoldaten oder frühere Soldaten auf Zeit, die
mindestens zwei Jahre in einem Dienstverhältnis als Berufssoldat oder Soldat
auf Zeit gestanden haben, zu Dienstleistungen herangezogen werden, und
zwar entweder bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres (§ 59 Abs. 2 Satz 1
Nr. 1 SG) oder mit freiwilliger schriftlicher Verpflichtung und nach Zustimmung
des Bundesministeriums der Verteidigung bis zur Vollendung des 65. Lebens-
jahres (§ 59 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SG). Danach besteht für den früheren Soldaten
nach wie vor die Möglichkeit, noch zu Dienstleistungen herangezogen zu wer-
den.
Da der frühere Soldat länger als zwei Jahre im Dienstverhältnis eines Soldaten
auf Zeit stand, ist eine Heranziehung nach § 59 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SG bei der
- hier vorliegenden - Nichtvollendung des 65. Lebensjahres möglich, wenn sich
der frühere Soldat freiwillig schriftlich verpflichtet und das Bundesministerium
der Verteidigung zustimmt. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 58 Abs. 3
WDO i.V.m. § 59 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SG stellt der Gesetzgeber allein auf die
Heranziehungsmöglichkeit ab, also nicht etwa darauf, dass die freiwillige schrift-
liche Verpflichtung sowie die Zustimmung durch das Bundesministerium der
Verteidigung im konkreten Fall tatsächlich bereits vorliegen.
Wie der Bundeswehrdisziplinaranwalt zutreffend ausführt, bleibt ein Fehlverhal-
ten als fiktives Dienstvergehen im Sinne von § 23 Abs. 2 Nr. 2 SG solange dis-
ziplinar verfolgbar, als die Wiederverwendung des früheren Soldaten selbst nur
theoretisch noch in Betracht kommt (vgl. Beschluss vom 29. Oktober 2002
- BVerwG 2 WDB 8.02 -). Nichts anderes kann für ein Dienstvergehen nach
§ 23 Abs. 1 SG gelten. Dagegen verbietet sich die Verfolgung eines Dienstver-
gehens in all den Fällen, in denen - wie z.B. bei Vollendung des
65. Lebensjahres (§ 59 Abs. 2 Nr. 3 SG) - eine Wiederverwendung auf Dauer
ausgeschlossen ist. Daran fehlt es hier. Der frühere Soldat könnte jederzeit eine
freiwillige schriftliche Verpflichtungserklärung abgeben; eine entsprechende
Zustimmungserklärung des Bundesministeriums der Verteidigung ist ebenfalls
nicht ausgeschlossen.
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Der Einstellungsbeschluss des Kammervorsitzenden vom 5. Dezember 2005
konnte daher, da ein Verfahrenshindernis nach § 108 Abs. 3 Satz 1 WDO nicht
besteht, keinen Bestand haben. Nach Aufhebung des verfahrensfehlerhaften
Einstellungsbeschlusses ist das Verfahren erneut bei der 5. Kammer des Trup-
pendienstgerichts Nord anhängig.
Da das gerichtliche Beschwerdeverfahren nach § 114 Abs. 1 WDO ein Neben-
bestandteil des gerichtlichen Disziplinarverfahren ist, bleibt die Kostenentschei-
dung der Endentscheidung vorbehalten.
Prof. Dr. Widmaier
Dr. Frentz
Dr. Deiseroth
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