Urteil des BVerwG vom 28.08.2015

Mangel des Verfahrens, Soldat, Disziplinarverfahren, Verkündung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 WD 9.15
TDG N 6 VL 34/11
In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren
g e g e n
Herrn Hauptfeldwebel …,
…,
…,
- Verteidiger:
… -
hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. von Heimburg,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Burmeister und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Eppelt
am 28. August 2015 beschlossen:
Auf die Berufung des Soldaten wird das Urteil der
6. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 8. Juli
20.. aufgehoben.
Die Sache wird zur nochmaligen Verhandlung und Ent-
scheidung an eine andere Kammer des Truppendienstge-
richts Nord zurückverwiesen.
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Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfah-
rens und die Erstattung der dem Soldaten hierin erwach-
senen notwendigen Auslagen bleibt der Schlussentschei-
dung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der 19.. geborene Berufssoldat, dessen Dienstzeit regulär 20.. endet, wurde im
Januar 20.. zum Hauptfeldwebel ernannt. Nach einem später wieder aufgeho-
benen Verbot der Dienstausübung nach § 22 SG aus dem Februar 20.. wurde
der Soldat im Februar 20.. gemäß § 126 Abs. 1 WDO vorläufig des Dienstes
enthoben; mit Beschluss des Truppendienstgerichts Nord vom 2. April 20.. wur-
de die Höhe der einbehaltenen Bezüge auf 25 v.H. gesenkt.
II
Auf der Grundlage der Anschuldigungsschrift vom 13. September 20.. sowie
von vier Nachtragsanschuldigungsschriften vom 14. Januar 20.., 19. März 20..,
29. April 20.. sowie 12. Mai 20.., in denen ihm Handlungen aus dem Zeitraum
November 20.. bis Mai 20.. vorgeworfen wurden, wurde der Soldat mit Urteil der
6. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 8. Juli 2014 wegen eines
Dienstvergehens aus dem Dienstverhältnis entfernt. Vorangegangen waren
dem Urteil zwölf Hauptverhandlungstage (14. Januar 20.., 15. Januar 20..,
5. Februar 20.., 25. Februar 20.., 18. März 20.., 7. April 20.., 28. April 20..,
15. Mai 20.., 26. Mai 20.., 16. Juni 20.., 7. Juli 20.. und 8. Juli 20..).
Das vollständige schriftliche Urteil gelangte am 30. September 20.. zur Ge-
schäftsstelle der 6. Kammer. Unter dem 8. September 20.. ist vom Vorsitzenden
Richter dieser Kammer vermerkt, dass er sich am 14. Juli 20.., 21. Juli 20..,
4. bis 19. August 20.. und am 22. August 20.. urlaubsbedingt nicht im Dienst
befunden hat.
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Der Soldat hat gegen das ihm am 15. Oktober 20.. zugestellte Urteil am
13. November 20.. Berufung einlegen und sie hinsichtlich bestimmter Anschul-
digungspunkte auf die Anfechtung der Maßnahmebemessung beschränken las-
sen.
Unter dem 5. August 20.. sind die Beteiligten vom Bundesverwaltungsgericht
darauf hingewiesen worden, dass das Urteil des Truppendienstgerichts wohl
verspätet zur Geschäftsstelle gelangt sei und eine Zurückverweisung in Be-
tracht komme. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hat sich gegen eine Zurück-
verweisung ausgesprochen, der Soldat hat sich dazu nicht geäußert.
III
Die zulässige Berufung (§ 115 Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2
WDO) führt zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Kammer des
Truppendienstgerichts Nord zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung,
weil ein schwerer Mangel des Verfahrens vorliegt (§ 120 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2
WDO). Die Entscheidung ergeht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung
(§ 120 Abs. 1 WDO) in der Besetzung mit drei Richtern (§ 80 Abs. 3 Satz 1
Halbs. 2 WDO). Den Beteiligten ist gemäß § 120 Abs. 2 WDO Gelegenheit zur
Stellungnahme gegeben worden.
1. Die Berufung ist in vollem Umfang eingelegt worden. Zwar hat der Soldat
erklären lassen, er beschränke die Berufung hinsichtlich der Anschuldigungs-
punkte 1a, 1b und 2 der (1.) Nachtragsanschuldigungsschrift vom 14. Januar
2013 auf den Rechtsfolgenausspruch. Darin liegt aber keine wirksame Be-
schränkung der Berufung auf die Maßnahmebemessung (BVerwG, Urteil vom
13. Juni 2006 - 2 WD 1.06 - juris Rn. 31 und 32).
2. Da das Rechtsmittel in vollem Umfang eingelegt worden ist, hat der Senat
uneingeschränkt zu prüfen, ob das Verfahren Mängel im Sinne des § 120
Abs. 1 Nr. 2 Halbs. 2 Alt. 2 WDO aufweist; dies ist der Fall, weil die Frist des
gem. § 91 WDO anwendbaren § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht gewahrt ist.
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a) Das am 8. Juli 20.. verkündete Urteil gelangte am 30. September 20.. zur
Geschäftsstelle der 6. Kammer des Truppendienstgerichts Nord, sodass gegen
den gemäß § 91 WDO entsprechend anwendbarem § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO
verstoßen worden ist. Er sieht vor, dass das mit Gründen versehene Urteil spä-
testens fünf Wochen nach seiner Verkündung zu den Akten zu bringen ist
(1. Halbsatz), wobei sich die Frist um zwei Wochen verlängert, wenn die Haupt-
verhandlung länger als drei Tage gedauert hat, und um weitere zwei Wochen
für jeden begonnenen Abschnitt von zehn Hauptverhandlungstagen (2. Halb-
satz; zur Fristberechnung: BGH, Beschluss vom 12. April 1988 - 5 StR 94/88 -,
BGHSt 35, 259 f. - juris Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 2015,
§ 275 Rn. 8). Da vorliegend an zwölf Tagen verhandelt wurde, folgt daraus eine
Gesamtabsetzungsfrist von neun Wochen, so dass das Urteil spätestens am
9. September 20.. zu den Akten hätte gelangen müssen. Nachdem es auf der
Geschäftsstelle jedoch erst am 30. September 20.. einging, wurde die Frist um
Umstände im Sinne des § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO, die ausnahmsweise ein
Überschreiten der Frist zulassen würden, liegen nicht vor. Insbesondere war
der Vorsitzende Richter in den neun Wochen nach der Urteilsverkündung nicht
unvorhersehbar verhindert, z.B. arbeitsunfähig erkrankt (vgl. BVerwG, Urteil
vom 10. Oktober 2013 - 2 WD 23.12 - juris Rn. 34). Urlaubsbedingte Abwesen-
heiten des zur Urteilsabsetzung berufenen Richters sind wegen ihrer Planbar-
keit voraussehbar und rechtfertigen die Fristüberschreitung daher nicht (vgl.
OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Februar 2007 - 2 Ss 46/07 - juris). Dies gilt
vorliegend umso mehr, als der Vorsitzende Richter nach Verkündung des Ur-
teils sich nicht durchgehend im Urlaub befand und ab dem 25. August 20.., so-
mit gut zwei Wochen vor Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist, wieder im Dienst
war. Somit wäre es ihm unabhängig vom Urlaub möglich gewesen, das Urteil
noch fristgerecht abzusetzen, zumal er allein zur Absetzung des Urteils berufen
war (§ 111 Abs. 1 Alt. 1 WDO) und für ihn deshalb auch kein Abstimmungsbe-
darf mit anderen Mitgliedern des Spruchkörpers bestand.
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b) Der Verfahrensmangel ist schwer im Sinne des § 120 Abs. 1 Nr. 2 Halbs. 2
Alt. 2 WDO, weil gegen eine gesetzlich zwingende Regelung verstoßen wurde.
Sie ist von der Erwägung getragen, ein so spät nach der Verkündung abgesetz-
tes Urteil biete keine Gewähr mehr dafür, dass die schriftlichen Urteilsgründe
mit dem Ergebnis der Hauptverhandlung und Beratung übereinstimmen
(BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2013 - 2 WD 23.12 - juris Rn. 35 m.w.N.).
3. Trotz des schweren Verfahrensmangels ist der Senat zwar nicht gezwungen,
die Sache zurückzuverweisen, weil er darüber gemäß § 120 Abs. 1 WDO nach
pflichtgemäßem Ermessen zu befinden hat; er übt sein Ermessen jedoch im
Sinne einer Zurückverweisung aus.
Abzuwägen ist auf der einen Seite das - von dem Bundeswehrdisziplinaranwalt
betonte und vom Gesetzgeber in § 17 Abs. 1 WDO als Beschleunigungsgebot
normierte - Interesse des Dienstherrn und grundsätzlich auch des Soldaten an
einer das gerichtliche Disziplinarverfahren zeitnah endgültig abschließenden
Entscheidung und auf der anderen Seite das Recht vor allem des Soldaten,
dass Wehrdienstgerichte über Disziplinarmaßnahmen unter Beachtung der ge-
setzlichen, auch seinem Interesse dienenden Verfahrensregelungen befinden
(BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2013 - 2 WD 19.12 - juris Rn 14).
a) Zwar hat der Soldat in vollem Umfang Berufung eingelegt, sodass der Senat
eigene Tatsachen- und Schuldfeststellungen treffen könnte. Dadurch unter-
scheidet sich das disziplinargerichtliche Berufungsverfahren von einem strafge-
richtlichen Revisionsverfahren, bei dem der Verstoß gegen § 275 Abs. 1 StPO
gemäß § 338 Nr. 7 Alt. 2 StPO deshalb ein absoluter Revisionsgrund ist, weil
das Revisionsgericht ansonsten auf der Grundlage seiner Prüfung entzogener
Tat- und Schuldfeststellungen eine Entscheidung treffen müsste, obwohl sie
wegen der verfristeten Niederlegung der Urteilsgründe dubios erscheinen. Aber
der Gesetzgeber hat mit § 120 WDO für das gerichtliche Wehrdisziplinarverfah-
ren eine spezielle Regelung geschaffen, die dem Berufungsgericht gerade die
Möglichkeit einräumt, den Fehler durch das erstinstanzliche Gericht beheben zu
lassen und damit dem betroffenen Soldaten zwei verfahrensfehlerfreie Rechts-
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züge zu gewähren (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2013 - 2 WD
19.12 - juris Rn. 15 m.w.N.).
Der vom Bundeswehrdisziplinaranwalt betonte Umstand, dass der Senat bei
einer uneingeschränkt eingelegten Berufung eigene Tat- und Schuldfeststellun-
gen treffen könnte, leitet die Ermessensausübung nicht dahingehend, von einer
Zurückverweisung regelmäßig abzusehen. Dies hätte zur Folge, dass Mängel
des erstinstanzlichen Verfahrens weitgehend bedeutungslos würden. Dadurch
drohte nicht nur, dass zwingende gesetzliche Vorgaben - wie die des § 275
Abs. 1 StPO, aber auch des Art. 101 Abs. 1 GG - wie schlichte Ordnungsvor-
schriften behandelt würden; vor allem widerspräche dies der in § 120 Abs. 1,
§ 121 Abs. 2 WDO zum Ausdruck kommenden legislativen Wertung, dass das
erstinstanzliche Verfahren trotz umfassender Prüfungskompetenz des Beru-
fungsgerichts weiterhin auf (schwere) Verfahrensmängel zu überprüfen ist und
sie von solchem Gewicht sein können, dass eine Zurückverweisung geboten ist.
Sowohl der angeschuldigte Soldat wie auch die Wehrdisziplinaranwaltschaft
haben einen Anspruch darauf, dass bereits im ersten Rechtszug nach Maßgabe
der prozessrechtlichen Vorschriften nicht nur alle erforderlichen Maßnahmen
zur hinreichenden Aufklärung der Sach- und Rechtslage ordnungsgemäß ge-
troffen und die erhobenen Beweise nachvollziehbar gewürdigt werden, sondern
auch, dass das Ergebnis der Beweiswürdigung in den Urteilsgründen authen-
tisch niedergelegt wird. Bei einer Überschreitung der Frist des § 275 Abs. 1
StPO ist Letzteres nach der gesetzgeberischen Vermutung grundsätzlich nicht
mehr gewährleistet. Als Berufungsführer hat der Soldat Anspruch darauf, dass
der Gegenstand seines Rechtsmittels in den Entscheidungsgründen das Er-
gebnis der Beratung authentisch dokumentiert (BVerwG, Beschluss vom
27. Juni 2013 - 2 WD 19.12 - juris Rn. 15 f.).
b) Die Dauer des disziplinargerichtlichen Verfahrens ist allerdings auch bei ei-
nem Gesetzesverstoß der vorliegenden Art grundsätzlich geeignet, die gericht-
liche Abwägungsentscheidung dahingehend zu beeinflussen, von einer Zurück-
verweisung abzusehen. Das Beschleunigungsgebot ist nicht nur in § 17 Abs. 1
WDO einfachgesetzlich verankert. Der Gesetzgeber hat dort sowohl dem Inte-
resse des Dienstherrn an einer möglichst zeitnahen und damit wirkungsvollen
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disziplinarischen Ahndung von Dienstvergehen als auch dem Interesse des
Soldaten an einer zügigen und für ihn somit möglichst schonenden Klärung der
gegen ihn erhobenen Anschuldigung in einer Weise Rechnung getragen, die
das aus Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Gebot effektiver
Rechtsschutzgewährleistung konkretisiert. Auch dieser abwägungsrelevante
Aspekt ist damit verfassungsrechtlich verankert und von hoher Bedeutung
(BVerwG, Beschluss vom 19. Juli 2013 - 2 WD 34.12 - juris Rn. 16). Der Senat
nimmt daher mit in den Blick, dass die angeschuldigten Geschehnisse sich teil-
weise bereits im November 2010 ereignet haben sollen und das disziplinarge-
richtliche Verfahren bereits seit September 2011 rechtshängig ist.
c) Vorliegend führt jedoch eine Zurückverweisung an die Vorinstanz noch nicht
zu einer unangemessenen Verzögerung einer Sachentscheidung, auch wenn
der Senat nicht verkennt, dass außergewöhnlich umfangreiche Beweiserhe-
bungen mit hohem Zeitaufwand zu wiederholen sein könnten. Sowohl das kon-
krete Gewicht des Gesetzesverstoßes als auch die im Raum stehende Diszipli-
narmaßnahme sprechen dafür. Dies gilt umso mehr, als der durch das gerichtli-
che Disziplinarverfahren belastete Soldat sich gegen eine Zurückverweisung
nicht dezidiert ausgesprochen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar
2012 - BVerwG 2 WD 5.11 - Buchholz 450.2 § 121 WDO 2002 Nr. 2 Rn. 23),
die zahlreichen Nachtragsanschuldigungsschriften der Wehrdisziplinaranwalt-
schaft eine zeitnähere Entscheidung des Truppendienstgerichts verhindert ha-
ben und dieses das erstinstanzliche Verfahren annähernd ein Jahr ausgesetzt
hat. Vor allem aber ist die Überschreitung der gemäß § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO
zu wahrenden Absetzungsfrist von ohnehin bereits neun Wochen um mehr als
drei Wochen keiner Heilung zugänglich und auch nicht - wie vom Bundeswehr-
disziplinaranwalt angenommen - geringfügig (vgl. BVerwG, Beschluss vom
19. Juli 2013 - 2 WD 34.12 - Rn. 18). Im Raum steht darüber hinaus die Entfer-
nung aus dem Dienstverhältnis als schwerste disziplinargerichtliche Maßnahme
(vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2013 - 2 WD 19.12 - juris Rn. 19). Bei
einer derart gravierenden Sanktion kommt der rechtsstaatlich einwandfreien
Durchführung des Verfahrens besondere Bedeutung zu.
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Ob die mit einer Zurückverweisung verbundene (weitere) finanzielle Belastung
des Bundes einen abwägungserheblichen Gesichtspunkt begründet, kann da-
hingestellt bleiben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2013 - 2 WD
19.12 - juris Rn. 19). Selbst wenn dem so wäre, ist dem durch Einbehalt von
25 v.H. der Dienstbezüge des Soldaten ausreichend Rechnung getragen wor-
den.
4. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens und die Erstattung der
dem Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen bleibt der endgültigen
Entscheidung in der Sache vorbehalten (§ 141 Abs. 1 und 2 WDO).
Dr. von Heimburg
Prof. Dr. Burmeister
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