Urteil des BVerwG vom 19.01.2012

Soldat, Rechtskräftiges Urteil, Mangel des Verfahrens, Disziplinarverfahren

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 2 WD 5.11
TDG S 7 VL 08/10
In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren
gegen
…,
…,
hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts in der nichtöffentli-
chen Hauptverhandlung am 19. Januar 2012, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht Golze,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Burmeister,
Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Eppelt,
ehrenamtlicher Richter Oberstleutnant Geier und
ehrenamtlicher Richter Hauptfeldwebel Vetter,
als Vertreter des Bundeswehrdisziplinaranwalts,
Rechtsanwalt …
als Pflichtverteidiger,
Geschäftsstellenverwalterin …
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft wird das
Urteil der 7. Kammer des Truppendienstgerichts Süd vom
26. Oktober 2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur nochmaligen Verhandlung und Ent-
scheidung an eine andere Kammer des Truppendienstge-
richts Süd zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfah-
rens bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der im Februar 1960 geborene Soldat begann 1978 seinen Dienst bei der Na-
tionalen Volksarmee, wurde 1991 - zunächst unter Berufung in das Dienstver-
hältnis eines Soldaten auf Zeit - in die Bundeswehr übernommen und im De-
zember 1992 zum Berufssoldaten ernannt. Zuletzt wurde er im Juni 1999 zum
Hauptfeldwebel befördert. Seit Juli 2007 gehört er als Panzerfeldwebel der …
an.
Der Soldat wurde zuletzt am 21. Januar 2011 mit dem Durchschnittswert der
Aufgabenerfüllung 3,55 beurteilt. In der Beurteilung heißt es unter anderem, der
Soldat gehöre im Eignungs- und Leistungsvergleich unverändert zum unteren
Leistungsdrittel der Kompanie. Der auf den ersten Blick gezeigten Stabilisierung
seines Leistungsbildes stünden schwerwiegende Mängel im Verhalten als mili-
tärischer Führer gegenüber. In der Berufungshauptverhandlung hat der als Leu-
mundszeuge vernommene Disziplinarvorgesetzte an dieser Leistungsbeurtei-
lung festgehalten. Der Soldat erhielt im März 1994 wegen einer hervorragenden
Einzeltat eine Förmliche Anerkennung; eine weitere erhielt er im Februar 2004.
Dem Auszug aus dem Disziplinarbuch vom 16. Dezember 2011 sind ein stren-
ger Verweis vom 25. Mai 2000, ein strenger Verweis vom 27. März 2002 sowie
eine am 24. Juli 2002 verhängte Disziplinarbuße zu entnehmen. Ferner weist er
ein rechtskräftiges Urteil des Truppendienstgerichts Süd vom 23. Juli 2001 aus.
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Mit ihm wurde gegen den Soldaten wegen des Vorwurfs einer außerdienstli-
chen, strafrechtlich geahndeten Trunkenheitsfahrt (im Juli 1999) und des eben-
falls außerdienstlichen und strafrechtlich geahndeten Fahrens ohne Fahr-
erlaubnis (im Juli 2000) ein Beförderungsverbot verhängt. Darüber hinaus weist
er ein rechtskräftiges Urteil des Truppendienstgerichts Süd vom 20. September
2005 aus, mit dem gegen den Soldaten erneut ein Beförderungsverbot für drei
Jahre, verbunden mit einer Kürzung der monatlichen Dienstbezüge um ein
Zwanzigstel für die Dauer von zwei Jahren, verhängt wurde. Dieser Diszipli-
narmaßnahme lagen zwei Unterschlagungen zulasten des Dienstherrn zugrun-
de.
Wegen des Vorwurfs, im Rahmen seiner dienstlichen Tätigkeit vom 24. August
2006 bis zum 25. November 2008 in 67 Fällen vorsätzlich ein Kraftfahrzeug oh-
ne die erforderliche Fahrerlaubnis geführt zu haben, wurde der Soldat vom
Amtsgericht … am 22. Juli 2010 zu einer Gesamtgeldstrafe von 160 Tagessät-
zen zu je 70 € verurteilt. Nur dieses rechtskräftige Urteil weist die Zentralregis-
terauskunft vom 15. Dezember 2011 noch aus.
Die Dienstbezüge des seit Juni 1979 verheirateten Soldaten, der Vater zweier
volljähriger Kinder ist, belaufen sich auf etwa 2 320 €. Seine finanzielle Situation
ist im Wesentlichen durch die Verpflichtung geprägt, den zur Begleichung der
Geldstrafe aufgenommenen Kredit monatlich mit 250 € zu bedienen. Die Ehe-
frau des Soldaten erhält als Lehrerin Bezüge von monatlich etwa 1900 €. Sie ist
zu 40 vom Hundert erwerbsbehindert und leidet an einer unheilbaren Sarkoido-
se. Zusammen mit seiner Ehefrau lebt der Soldat in einem von der Familie der
Tochter erworbenen Haus, für das er 700,00 € Miete zahlt. Der Soldat war in-
folge der Übernahme von Beerdigungskosten anlässlich des Todes seines Bru-
ders Ende 2003 mit ca. 2 000 € und des Todes seiner Schwiegertochter im
März 2004 mit ca. 1 300 € finanziell belastet; zudem hatte er nach dem Tod der
Schwiegertochter das Enkelkind für drei Jahre in seinen Haushalt aufgenom-
men.
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II
Der Soldat besitzt keine Fahrerlaubnis mehr, nachdem sie ihm 1999 wegen der
- bereits erwähnten - fahrlässigen Trunkenheitsfahrt entzogen worden war und
er nach Ablauf der Sperre kein Eignungsgutachten für eine erneute Erteilung
vorgelegt hatte. Ihm war am 5. Juli 1999 der Dienstführerschein der Bundes-
wehr abgenommen und gleichzeitig der Befehl erteilt worden, keine Dienstfahr-
zeuge mehr zu führen.
Im Rahmen des mit Verfügung des …vom 25. Juni 2009 eingeleiteten gerichtli-
chen Disziplinarverfahrens verhängte das Truppendienstgericht Süd mit Urteil
vom 26. Oktober 2010 auf der Grundlage der Anschuldigungsschrift der Wehr-
disziplinaranwaltschaft vom 25. Februar 2010 und der Nachtragsanschuldi-
gungsschrift vom 31. März 2010 gegen den Soldaten ein Beförderungsverbot
von 48 Monaten sowie für die Dauer von 60 Monaten eine Kürzung der Dienst-
bezüge um ein Siebentel. Der Soldat war im Disziplinarverfahren nicht durch
einen Verteidiger vertreten. Das Truppendienstgericht hat ihm auch keinen be-
stellt. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft hatte in der Hauptverhandlung vor dem
Truppendienstgericht seine Entfernung aus dem Dienst beantragt.
Nachdem mit Beschluss des Truppendienstgerichts vom 26. Oktober 2010 der
in der Anschuldigungsschrift unter Nr. 2 beschriebene Sachverhalt - an mehre-
ren Tagen während der gesamten Dienstzeit nicht den befohlenen Dienst ge-
leistet, sondern an seinem privaten Rechner Computerspiele gespielt und dabei
den dienstlichen Monitor privat genutzt zu haben - ausgeklammert worden war,
stellte das Truppendienstgericht bezüglich des Anschuldigungspunktes 1 in
Übernahme der sachgleichen strafgerichtlichen Feststellungen des Amtsge-
richts …fest:
„Der Angeklagte ist Hauptfeldwebel der Bundeswehr,
Dienststelle … . Im Rahmen seiner dienstlichen Tätigkeit
fuhr er im Zeitraum vom 4. August 2006 bis 25. November
2008 gemäß diverser ihm erteilter Fahraufträge mit fahr-
erlaubnispflichtigen Fahrzeugen auf öffentlichen Straßen,
obwohl er die erforderliche Fahrerlaubnis nicht hatte. Dies
wusste der Angeklagte. Im Einzelnen handelt es sich um
folgende Fahrten: …“
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Der Soldat habe vorsätzlich ein Dienstvergehen nach § 23 Abs. 1 SG began-
gen, indem er wissentlich und willentlich gegen seine Treuepflicht (§ 7 SG),
„seine Gehorsamspflicht (§ 11 SG i.V.m. ZDv 42/3 Nr. 201
a.F. bzw. ZDv 43/1 Nr. 101 und ZDv 54/100 Nr. 1005 n.F.
sowie ZDv 54/100 Anlage 14/1 Nr. 8 „Zehn Regeln zur
IT-Sicherheit am Arbeitsplatz“)“
und gegen die innerdienstliche Wohlverhaltenspflicht (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG)
verstoßen habe. Zur Bemessung der Disziplinarmaßnahme führte es im We-
sentlichen aus:
Das Fahren ohne Fahrerlaubnis stelle für sich allein schon die dienstliche Zu-
verlässigkeit eines Vorgesetzten ernsthaft in Frage. Dies gelte bereits bei rein
außerdienstlichem Fehlverhalten. Dass die einzelnen Fahrten keinem privaten
Zweck gedient hätten, sei allenfalls als Fehlen eines Erschwerungsgrundes an-
zusehen. Taterschwerend wirke sich neben dem unmittelbaren dienstlichen Be-
zug auch aus, dass der Soldat innerhalb von zweieinviertel Jahren insgesamt
67 Fahrten durchgeführt und hierbei über 6 000 km zurückgelegt habe. Ein ho-
hes Maß an persönlicher Unbelehrbarkeit und Gleichgültigkeit dokumentiere
sich darin, dass er das Urteil des Truppendienstgerichts vom 23. Juli 2001 igno-
riert habe, wodurch sich regelmäßig das Maß der Schuld erhöhe. Den Besse-
rungsabsichten könne kein entscheidendes Gewicht zukommen, weil der Soldat
bereits mehrfach erklärt habe, sich um die Wiedererlangung der Fahrerlaubnis
zu bemühen. Ein Mitverschulden der Vorgesetzten liege indes vor. Kontroll-
maßnahmen seien pflichtwidrig unterblieben. Die belastende Familiensituation
des Soldaten sei ebenfalls mit in den Blick zu nehmen. Ungeachtet dessen,
dass sie zur Tatzeit „keine entscheidende Rolle“ gespielt habe, dränge sich der
Verdacht auf, dass der Soldat sich zu schnell in einer Opferrolle wähne. Trotz
dieser Einschränkungen sei eine gewisse charakterliche Stabilisierung wenigs-
tens ansatzweise erkennbar. Dabei dürfe trotz des überwiegend negativen Be-
urteilungsbildes auch nicht übersehen werden, dass der Soldat zwei Förmliche
Anerkennungen erhalten habe. Bei der Maßnahmeentscheidung sei zu beach-
ten, dass keine Überlegungen angestellt worden seien, den Soldaten wegzu-
versetzen. Im Zuge der Verhältnismäßigkeitsprüfung müsse in Anlehnung an
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die - nunmehr geänderte - Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
einbezogen werden, dass sich eine Dienstgradherabsetzung dauerhaft auf das
Ruhegehalt des Soldaten auswirken würde, weil für ihn wohl keine Möglichkeit
mehr bestehe, den aberkannten Dienstgrad wieder zu erlangen. Hinzu komme,
dass er bereits mit einer hohen Geldstrafe belegt worden sei, was nach der -
ebenfalls geänderten - Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Beach-
tung verlange. Allerdings sei es unumgänglich, „das ohnehin wirkungslose Be-
förderungsverbot“ mit einer sich am gesetzlichen Höchstrahmen ausrichtenden
Kürzung der Dienstbezüge zu verbinden.
Die Wehrdisziplinaranwaltschaft hat gegen das ihr am 10. November 2010 zu-
gestellte Urteil am 8. Dezember 2010 eine auf die Bemessung der Disziplinar-
maßnahme beschränkte Berufung eingelegt und durch den Vertreter des Bun-
deswehrdisziplinaranwalts in der Berufungshauptverhandlung beantragt, den
Soldaten in den Dienstgrad eines Feldwebels herabzusetzen. Zur Begründung
trägt sie im Wesentlichen vor, das Truppendienstgericht habe die Eigenart und
Schwere des Dienstvergehens nicht zutreffend gewürdigt und unzulässig Milde-
rungsgrunde angenommen oder sie zu stark gewichtet. Der Soldat selbst hat
zum Abschluss der Berufungshauptverhandlung beantragt, die Sache ange-
sichts der erörterten Verfahrensfehler an das Truppendienstgericht zurückzu-
verweisen.
III
Die zulässige Berufung (§ 115 Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2
WDO) führt zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Kammer des
Truppendienstgerichts Süd zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung,
weil schwere Mängel des Verfahrens vorliegen (§ 121 Abs. 2 WDO).
1. Ein schwerer Mangel des gerichtlichen Verfahrens liegt bereits darin, dass
das Truppendienstgericht dem Soldaten, der im gerichtlichen Disziplinarverfah-
ren einschließlich der Hauptverhandlung nicht durch einen Verteidiger vertreten
war, entgegen § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO keinen Pflichtverteidiger bestellt hat
und dies für den Ausgang des Verfahrens erheblich sein kann (vgl. Urteil vom
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7. November 2007 - BVerwG 2 WD 1.07 - BVerwGE 130, 12 <14> Rn. 16 =
Buchholz 450.2 § 120 WDO 2002 Nr. 2 sowie Beschluss vom 21. Dezember
2011 - BVerwG 2 WD 26.10 - Rn. 18 m.w.N.).
Nach § 90 Abs. 1 Satz 2 WDO bestellt der Vorsitzende der Truppendienstkam-
mer dem Soldaten, der noch keinen Verteidiger gewählt hat, auf Antrag oder
von Amts wegen einen Verteidiger, wenn die Mitwirkung eines solchen geboten
erscheint. Ob die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist, beurteilt sich nach
der Schwierigkeit der Rechts- und Sachlage (Urteil vom 7. November 2007 -
a.a.O. - Rn. 17 m.w.N.). Von einer hinreichenden Schwierigkeit der Rechts- und
Sachlage ist insbesondere dann auszugehen, wenn die Verhängung der
Höchstmaßnahme wahrscheinlich ist (Beschluss vom 21. Dezember 2011
a.a.O. Rn. 20).
2. Die Verhängung der Höchstmaßnahme stand im vorliegenden Verfahren
nicht nur deshalb im Raum, weil der Vertreter der Wehrdisziplinaranwaltschaft
am Schluss der erstinstanzlichen Hauptverhandlung die Entfernung des Sol-
daten aus dem Dienst ausdrücklich beantragt hat, sondern weil sie unabhängig
davon schon nach dem Inhalt der Anschuldigungsschrift unter Zugrundelegung
der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts objektiv in Betracht kam.
Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn die Höchstmaßnahme Ausgangspunkt der
Zumessungserwägungen ist, sondern auch wenn eine erhebliche disziplinari-
sche Vorbelastung einen endgültigen objektiven Vertrauensverlust nahelegt. Im
Rahmen der vom Senat geforderten zweistufigen Prüfung (Urteil vom
10. Februar 2010 - BVerwG 2 WD 9.09 -), die dem angegriffenen Urteil nicht
entnommen werden kann, stand hinsichtlich der konkret zu verhängenden Dis-
ziplinarmaßnahme als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen eine He-
rabsetzung im Dienstgrad im Raum, bei der wegen erschwerender Einzelfall-
umstände nicht ausgeschlossen werden konnte, dass sie in eine Entfernung
aus dem Dienst umschlagen würde.
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a) Zum Komplex Fahren ohne Fahrerlaubnis hat der Senat entschieden, dass
bei einer - lediglich - erstmaligen und - zudem - nur außerdienstlichen Straftat in
Gestalt eines Fahrens ohne Fahrerlaubnis eine Dienstgradherabsetzung in aller
Regel nicht geboten ist. Zwar stellt das Fahren ohne Fahrerlaubnis für sich al-
lein die dienstliche Zuverlässigkeit eines Vorgesetzten in Frage, weil die Nicht-
beachtung verkehrsrechtlicher Vorschriften, die zum Schutze der Allgemeinheit
erlassen sind, zwangsläufig Rückschlüsse auf eine mangelnde charakterliche
Qualifikation zulassen. Ein Vorgesetzter, der verpflichtet ist, in Haltung und
Pflichterfüllung ein Beispiel zu geben, zieht dadurch sein Verantwortungsbe-
wusstsein und seine Autorität erheblich in Zweifel, auch wenn es sich um au-
ßerdienstliches Fehlverhalten handelt. Als angemessene gerichtliche Diszipli-
narmaßnahme kommt dafür eine Gehaltskürzung oder ein Beförderungsverbot
in Betracht. Allerdings hat der Senat in seinem Urteil vom 11. März 1999
(BVerwG 2 WD 29.98 - Buchholz 236.1 § 17 SG Nr. 26) auch hervorgehoben,
dass er bei einem Fahren ohne Fahrerlaubnis die Herabsetzung eines Unterof-
fiziers in den Dienstgrad eines Hauptgefreiten als angemessene Disziplinar-
maßnahme angesehen habe, weil dieser unmittelbar nach Entzug der Fahr-
erlaubnis wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss mehrfach, nämlich achtmal, und
davon zweimal während des Dienstes unerlaubt gefahren sei (Urteil vom
25. September 2008 - BVerwG 2 WD 19.07 - Buchholz 449 § 17 SG Nr. 42).
Daraus erschloss sich hinreichend deutlich, dass nach der Rechtsprechung des
Senats ein Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einem Sprung hinsichtlich der Maß-
nahmeart regelmäßig jedenfalls dann führt, wenn es - wie vorliegend - in dienst-
lichem Zusammenhang steht, mit Dienstfahrzeugen erfolgt und nicht vereinzelt
geschieht.
b) Die Verhängung der Höchstmaßnahme mit in den Blick zu nehmen, drängte
sich ungeachtet der vom Truppendienstgericht angenommenen Milderungs-
gründe im Sinne des § 38 Abs. 1 WDO angesichts der Einzelfallumstände, die
dem Dienstvergehen eine überdurchschnittliche Schwere verleihen - wie na-
mentlich Anzahl und Dauer der angeschuldigten Pflichtverletzungen sowie
mehrfache, zum Teil einschlägige disziplinarische Vorbelastungen, davon zwei
disziplinargerichtliche - auf. Sie ließen es naheliegend erscheinen, dass der
Soldat durch sein erneutes Dienstvergehen das Vertrauen des Dienstherrn in
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seine persönliche Integrität und Zuverlässigkeit endgültig zerstört hatte (vgl.
Urteil vom 4. März 2009 – BVerwG 2 WD 10.08 - Buchholz 450.2 § 38 WDO
2002 Nr. 27).
Dass der Dienstherr davon abgesehen hat, den Soldaten trotz des - erneuten -
Dienstvergehens wegzuversetzen, ist nach der Rechtsprechung des Senats für
die Feststellung des objektiven Vertrauensverlustes von allenfalls indizieller,
nicht aber konstitutiver Bedeutung (Urteile vom 16. Dezember 2010 - BVerwG
2 WD 43.09 - Rn. 48 und vom 13. Januar 2011 - BVerwG 2 WD 20.09 -). Hinzu
tritt, dass einer Herabsetzung im Dienstgrad das abzusehende Dienstzeitende
des Soldaten und damit der Verlust der Chance, wieder den alten Dienstgrad zu
erreichen, nicht von vornherein entgegenstanden. Der Senat hält unverändert
an seiner Rechtsprechung fest, dass allein dies die Verhängung einer an sich
gebotenen Disziplinarmaßnahme nicht unverhältnismäßig werden lässt. Er hat
erst jüngst festgestellt, dass es der Zweck des Wehrdisziplinarrechts gebiete,
die Disziplinarmaßnahme auszusprechen, die dem Gewicht des Dienstverge-
hens und dem dadurch eingetretenen Vertrauensschaden entspricht. Hat bei-
des erhebliches Gewicht, ist der wirtschaftliche und berufliche Nachteil, der für
den Soldaten etwa durch eine Degradierung eintritt, nicht unverhältnismäßig. Er
liegt als gesetzlich vorgesehene und vom Soldaten daher vorhersehbare
Rechtsfolge in dessen persönlichen Verantwortungsbereich. Ebenso entspricht
es ständiger Senatsrechtsprechung, dass Art oder Höhe einer Kriminalstrafe für
die Gewichtung der Schwere des sachgleichen Dienstvergehens regelmäßig
nicht von ausschlaggebender Bedeutung sind und sie es auch nicht gebieten,
eine mildere Disziplinarmaßnahme zu verhängen (Urteil vom 4. Mai 2011 -
BVerwG 2 WD 2.10 - m.w.N.).
3. Die wegen der im Raum stehenden Verhängung der Höchstmaßnahme somit
rechtswidrig unterbliebene Bestellung eines Pflichtverteidigers war für den Aus-
gang des erstinstanzlichen Verfahrens auch erheblich. Es ist nicht auszuschlie-
ßen, dass ein Verteidiger den juristisch nicht vorgebildeten Soldaten zu für die
Schuldfeststellungen oder die Maßnahmebemessung relevantem Vortrag moti-
viert oder auf eine Berufung hingewirkt hätte. Anhaltspunkte dafür bestanden in
mehrfacher Hinsicht. Zum einen hat das Truppendienstgericht einen Verstoß
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des Soldaten gegen die Gehorsamspflicht nach § 11 SG in Bezug auf die ZDv
42/3 Nr. 201 a.F. bzw. 43/1 Nr. 101 n.F. bejaht, obwohl ein Verteidiger im Rah-
men der Erörterung der Sach- und Rechtslage die Frage hätte aufwerfen kön-
nen, ob diese Vorschriften einen für die Annahme eines Befehls (§ 2 Nr. 2
WStG) hinreichenden Bestimmtheitsgrad aufweisen (vgl. Urteil vom 26. Sep-
tember 2006 - 2 WD 2.06 - BVerwGE 127, 1 <25 f.>). Zum anderen ist nicht
auszuschließen, dass ein Verteidiger dem Soldaten auch deshalb angeraten
hätte, (vollumfänglich) Berufung einzulegen, weil das Truppendienstgericht ei-
nen Gehorsamsverstoß bezogen auf die ZDv 54/100 („Zehn Regeln zur IT-
Sicherheit am Arbeitsplatz“) festgestellt hat, obwohl es den darauf bezogenen
Schuldvorwurf - Ziffer 2 der Anschuldigungsschrift - zuvor ausdrücklich ausge-
klammert hatte. Zwar finden sich in den Ausführungen zur Bemessung der Dis-
ziplinarmaßnahme keine Hinweise auf diesen Anschuldigungskomplex; dadurch
ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass er für die Maßnahmebemessung des
Truppendienstgerichts Bedeutung erlangt hat. Jedenfalls ist die Schuldfeststel-
lung des Truppendienstgerichts bei der maßnahmebeschränkten Berufung für
den Senat bindend und müsste trotz ihrer Fehlerhaftigkeit Grundlage der Be-
messungsentscheidung des Senats sein, solange nicht ein Verteidiger durch
eine unbeschränkte Berufung dem Senat eine vollumfängliche Überprüfung des
Urteils ermöglicht.
4. Der Mangel ist trotz der maßnahmebeschränkten Berufung wegen eines wei-
teren schweren Verfahrensfehlers auch beachtlich.
Verfahrensmängel werden bei einer beschränkten Berufung regelmäßig gegen-
standslos, soweit sie nicht das gesamte disziplinargerichtliche Verfahren oder
den gerichtlichen Verfahrensabschnitt unzulässig machen (Urteil vom 4. Mai
1988 - BVerwG 2 WD 64.87 - S. 10 des Urteilsabdrucks). Beachtlich sind des-
halb Aufklärungs- und Verfahrensmängel, wenn sie die Grundlage der vom Se-
nat zu treffenden Entscheidung über die Maßnahmebemessung - die tatsächli-
chen und disziplinarrechtlichen Feststellungen zur Schuld des Soldaten - er-
schüttern (vgl. Urteil vom 19. August 2009 - BVerwG 2 WD 31.08 - Rn. 12, 17 -
und Beschluss vom 24. März 2010 - BVerwG 2 WD 10.09 -). Eine solche Fall-
konstellation liegt vor, weil der Senat wegen der nur beschränkt eingelegten
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Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft und der vom Soldaten möglicherwei-
se gerade wegen der fehlenden Beratung eines Verteidigers unterlassenen Be-
rufungseinlegung gehalten wäre, bei seiner folglich ausschließlich auf die Maß-
nahmebemessung beschränkten Prüfung auf die ZDv 54/100 bezogen einen -
weiteren - Gehorsamverstoß zugrunde zu legen, obwohl das Truppendienstge-
richt diesen Tatkomplex mit ausführlicher Begründung ausgeklammert hat.
Jedes Urteil in einem gerichtlichen Disziplinarverfahren muss aus sich selbst,
d.h. aus den Urteilsgründen heraus verständlich sein (§ 91 Abs. 1 WDO i.V.m.
§ 267 Abs. 1 StPO). Erfüllt es nach seinen Entscheidungsgründen diese Anfor-
derungen nicht, liegt ein schwerwiegender Mangel des Verfahrens im Sinne des
§ 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO bzw. § 121 Abs. 2 WDO vor. Denn Voraussetzung für
die im Berufungsverfahren zu treffende Entscheidung über die gebotene und
angemessene Disziplinarmaßnahme ist, dass die durch die Beschränkung der
Berufung unangreifbar gewordenen tatsächlichen Feststellungen des angefoch-
tenen Urteils, wie sie sich aus den Urteilsgründen ergeben, sowie die auf dieser
Grundlage getroffenen Feststellungen zu den schuldhaften Pflichtverletzungen
des Angeschuldigten nachvollziehbar, in sich schlüssig und widerspruchsfrei
sind. Unklare, lückenhafte oder - wie vorliegend - widersprüchliche Feststellun-
gen können keine ausreichende Grundlage für das festzusetzende Disziplinar-
maß abgeben (vgl. Beschluss vom 24. März 2010 a.a.O.).
5. Angesichts der schwerwiegenden Mängel macht der Senat von der Möglich-
keit Gebrauch, die Sache unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils an eine
andere Kammer des Truppendienstgerichts Süd zurückzuverweisen (vgl. Be-
schlüsse vom 21. Dezember 2011 - BVerwG 2 WD 26.10 - m.w.N. und vom
24. März 2010 a.a.O.). Für eine Zurückverweisung an ein anderes Truppen-
dienstgericht besteht keine Veranlassung. Das Beschleunigungsgebot (§ 17
Abs. 1 WDO) steht dem nicht entgegen, weil die Zurückverweisung zur Sicher-
stellung des Anspruchs auf ein faires rechtsstaatliches Disziplinarverfahren
(BVerfG, Kammerbeschluss vom 14. Juni 2000 - 2 BvR 993/94 - ZBR 2001,
208) unvermeidbar ist und der Soldat, dessen Interesse das Beschleunigungs-
gebot auch dient, in der Berufungshauptverhandlung eine Zurückverweisung
ausdrücklich begehrt hat.
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6. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens und die Erstattung der
dem Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen bleibt der endgültigen
Entscheidung in dieser Sache vorbehalten (§ 141 Abs. 1 und 2 WDO).
Golze
Dr. Burmeister
Dr. Eppelt
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Wehrdisziplinarverfahrensrecht
Wehrdisziplinarrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
WDO
§ 17 Abs. 1, § 90 Abs. 1 Satz 2, § 107 Abs. 2 Satz 1, § 116
Abs. 2, § 121 Abs. 2
SG
§§ 7, 11, 17 Abs. 2 Satz 1, § 23 Abs. 1
ZDv
42/3; 43/1; 54/100,
Stichworte:
Fahren ohne Fahrerlaubnis im Dienst; Ausgangspunkt der Zumessungserwä-
gungen; Aufhebung; Zurückverweisung; Bestellung eines Pflichtverteidigers;
Verfahrensmangel bei maßnahmebeschränkter Berufung; Verhältnismäßig-
keitsgrundsatz; disziplinarische Vorbelastung; Bedeutung einer Kriminalstrafe
bei der Maßnahmebemessung; Bedeutung der Folgen der Disziplinarmaßnah-
me bei der Maßnahmebemessung; Verlust der Wiederbeförderungschance;
widersprüchliches Urteil; Beschleunigungsgebot; unterlassene Wegversetzung;
Ausklammerung.
Leitsätze:
1. Wird einem Soldaten erstinstanzlich kein Pflichtverteidiger bestellt, obwohl
die Entfernung aus dem Dienst wahrscheinlich ist, begründet dies einen
schweren, zur Zurückverweisung an das Truppendienstgericht führenden Ver-
fahrensfehler, wenn dies für den Ausgang des Verfahrens erheblich gewesen
sein kann (stRspr; vgl. Beschluss vom 21. Dezember 2011 - BVerwG 2 WD
26.10 -).
2. Wahrscheinlich wird die Entfernung aus dem Dienstverhältnis auch dann,
wenn Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen zwar nicht die Höchstmaß-
nahme ist, jedoch eine erhebliche disziplinarische Vorbelastung vorliegt, die
einen endgültigen objektiven Vertrauensverlust nahelegt.
3. Widersprüchliche Feststellungen im erstinstanzlichen Urteil zum Umfang der
geahndeten Pflichtverletzungen bilden bei einer auf die Maßnahmebemessung
beschränkten und zu Ungunsten des Soldaten eingelegten Berufung keine trag-
fähige Grundlage für die Bemessung der Disziplinarmaßnahme und führen zur
Zurückverweisung (stRspr; vgl. Beschluss vom 24. März 2010 - BVerwG 2 WD
10.09 -)
4. Beim Fahren ohne Fahrerlaubnis während des Dienstes ist Ausgangspunkt
der Zumessungserwägungen eine Herabsetzung im Dienstgrad jedenfalls dann,
wenn dies unter Inanspruchnahme von Dienstfahrzeugen erfolgte und nicht
vereinzelt geschah.
Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 19. Januar 2012 - BVerwG 2 WD 5.11
I. TDG Süd vom 26.10.2010 – Az.: TDG S 7 VL 08/10