Urteil des BVerwG vom 02.07.2003

Soldat, Waffen Und Munition, Kosovo, Alkohol

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
Im Namen des Volkes
Urteil
BVerwG 2 WD 47.02
TDG N 5 VL 21/01
In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren
gegen
geboren am … in M.,
…/Panzergrenadierbataillon …, B.,
hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts in der nichtöffentlichen
Hauptverhandlung am 2. Juli 2003, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Pietzner,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Widmaier,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Deiseroth
sowie
Oberfeldapotheker Woelk,
Stabsunteroffizier Fritzsch
als ehrenamtliche Richter,
Leitender Regierungsdirektor Mühlbächer
als Vertreter des Bundeswehrdisziplinaranwalts,
Rechtsanwalt Lübke, Berlin,
als Verteidiger,
Justizangestellte Kairies
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Berufung des Soldaten wird das Urteil der ... Kammer des
Truppendienstgerichts … vom 8. Mai 2002 im Ausspruch über die
Disziplinarmaßnahme geändert.
Gegen den Soldaten wird eine Kürzung der Dienstbezüge um ein
Zehntel für die Dauer von zehn Monaten verhängt.
Die Kosten des Berufungsverfahrens und die dem Soldaten darin
erwachsenen notwendigen Auslagen werden dem Bund auferlegt.
G r ü n d e :
I
Der 26 Jahre alte Soldat besuchte von 1983 bis 1993 die Grund- und Realschule in N.,
die er im Juli 1993 mit dem Realschulabschluss verließ, danach von August 1993 bis Juli
1996 das berufliche Gymnasium in F., wo er das Abgangszeugnis erwarb.
Zum 1. Juli 1996 wurde er als Grundwehrdienstleistender zur .../Panzergrenadier-
bataillon … in B. einberufen und aufgrund seiner Bewerbung und Verpflichtung für den
freiwilligen Dienst in der Bundeswehr am 27. März 1997 in das Dienstverhältnis eines
Soldaten auf Zeit berufen und zugleich als Unteroffizieranwärter zugelassen. Seine
Dienstzeit wurde zuletzt auf zwölf Jahre festgesetzt. Seinem Antrag gem. § 40 Abs. 7 SG
vom 13. Mai 2002 auf Verkürzung seiner Dienstzeit auf acht Jahre wurde entsprochen
und demgemäß mit Verfügung der Stammdienststelle des Heeres vom 5. August 2002
sein Dienstzeitende auf den 30. Juni 2004 festgesetzt.
Der Soldat wurde regelmäßig befördert, zuletzt am 22. Dezember 1998 zum Stabsunterof-
fizier.
Nach seiner Grundausbildung verblieb er in der .../Panzergrenadierbataillon … und nahm
in der Zeit vom 1. Juli bis 26. November 1997 am Unteroffizierlehrgang Teil I in D. mit der
Abschlussnote „befriedigend“ teil. Zum 1. Januar 1998 wurde er in seiner Einheit als Pan-
zergrenadierunteroffizier eingesetzt. Vom 31. März bis 26. Juni 1998 besuchte er den
Unteroffizierlehrgang Teil II bei der .../Panzergrenadierbataillon … in D., den er bestand.
Nach dem Besuch der Kraftfahrgrundausbildung vom 19. Januar bis 8. Februar 1999 in H.
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erwarb er die Bundeswehrfahrerlaubnis der Klassen B und F. Im Zeitraum 1. November
1999 bis 27. Mai 2000 nahm er am Auslandseinsatz der Bundeswehr im Kosovo (Deut-
sches Heereskontingent KFOR) teil. Er war Angehöriger der zunächst in S.R., dann in P.
und zuletzt in O. stationierten .../Einsatzbataillon … und wurde dort ebenfalls als Panzer-
grenadierunteroffizier und Panzerabwehrunteroffizier „Milan“ verwendet. Von dem für den
Zeitraum vom 15. August bis 7. November 2000 vorgesehenen Feldwebellehrgang an der
…schule in M. musste er wegen des vorliegenden gerichtlichen Disziplinarverfahrens zu-
rückgestellt werden.
In der planmäßigen Beurteilung vom 16. September 1998 erhielt der Soldat als Unteroffi-
zier in der gebundenen Beschreibung (entsprechend den damaligen Beurteilungsbestim-
mungen) achtmal die Wertung „2” und siebenmal die Wertung „3”. In der freien Beschrei-
bung wird er als einsatzfreudiger und aufgeweckter junger Unteroffizier beschrieben, der
über besondere Lernbereitschaft und Fleiß verfüge. Dadurch eigne er sich selbständig
stets weiteres Fachwissen an. Er trete höflich und sicher, manchmal aber noch nicht straff
genug auf. Bei seinen Soldaten, die er schwungvoll von vorne führe, erreiche er stets gute
Ausbildungsergebnisse und überzeugte Gefolgschaft. Er sei sehr kameradschaftlich und
stets hilfsbereit und aufgrund seiner offenen humorvollen Art im Kameradenkreis ge-
schätzt. Gleichbleibende Leistungen vorausgesetzt, könne er sich zu einem Kandidaten
für die Feldwebellaufbahn entwickeln.
In der Sonderbeurteilung vom 11. September 2002 erhielt der Soldat in den Einzelmerk-
malen für seine Leistungen sechsmal die Wertung „6“ und fünfmal die Wertung „5“. In der
freien Beschreibung wurde über ihn ausgeführt:
„SU … ist ein äußerst verantwortungsbewusster und stets einsatzbereiter Sol-
dat, der seine Aufträge hoch motiviert und kreativ angeht und präzise ausführt.
Im täglichen Dienst zeigt er für seinen Dienstgrad weit über der Norm liegen-
des Engagement, Tatkraft und Flexibilität. SU … ist ein intelligenter und geis-
tig sehr wendiger Führer mit guter Auffassungsgabe. Er ist in der Lage, Prob-
leme und Sachverhalte zu analysieren und übertragene Aufträge korrekt und
durchdacht abzuarbeiten. Sein Interessenschwerpunkt liegt in der EDV. Durch
seine offene Art gewinnt er schnell das Vertrauen seiner Soldaten, wobei sich
seine Fürsorge gegenüber seinem unterstellten Bereich nicht nur auf die
Dienstzeit beschränkt.
SU … hat seine Stärken in der Materialbewirtschaftung und -erhaltung. Hier-
bei hat er das vollste Vertrauen seiner Vorgesetzten. Auch in der Arbeitsorga-
nisation und -planung besticht er durch hervorragende Umsetzung seiner Auf-
träge und Ausnutzung aller Ressourcen. Deshalb hebt sich SU … aus seiner
Dienstgradgruppe ab und zeigt Feldwebelqualitäten.
Die Einsatzgrundsätze als Gruppenführer-PzGren beherrscht er, dies hat er
im GüZ (H) Mai 2001 bewiesen. In das UffzKorps der Kompanie ist er voll in-
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tegriert und nimmt das Amt des Kassenwarts wahr. Physisch und psychisch
ist er zu jeder Zeit voll belastbar.“
Der nächsthöhere Vorgesetzte nahm hierzu wie folgt Stellung:
„Aus mehrfachem eigenem Erleben mit der sehr guten Beurteilung des
KpChef einverstanden.
Ein verantwortungsfreudiger, aufgeschlossener, forsch auftretender Unteroffi-
zier mit fachlichem Können, methodischem Geschick und zeitgemäßer Men-
schenführung. Flexibel, tatkräftig und durchdacht gestaltet er seinen Aufga-
benbereich so, dass die Untergebenen hinter ihm stehen und seinem Vorbild
willig folgen.
In der vergleichbaren Betrachtung auf Bataillonsebene gehört er in das erste
Drittel und damit ist er ein potentieller Feldwebelkandidat.“
In einer weiteren Sonderbeurteilung vom 6. Juni 2003 wurde dem Soldaten in den Ein-
zelmerkmalen für seine Leistungen wiederum sechsmal die Wertung „6” und fünfmal die
Wertung „5” erteilt; in der freien Beschreibung wurde über ihn ausgeführt:
„SU … ist ein äußerst verantwortungsbewußter und stets einsatzbereiter Sol-
dat, der seine Aufträge hoch motiviert und kreativ angeht und präzise ausführt.
Im täglichen Dienst zeigt er für seinen Dienstgrad weit über der Norm liegen-
des Engagement, Tatkraft und Flexibilität. SU … ist ein intelligenter und geis-
tig sehr wendiger Führer mit guter Auffassungsgabe. Er ist in der Lage, Prob-
leme und Sachverhalte zu analysieren und übertragene Aufträge korrekt und
durchdacht abzuarbeiten. Sein Interessenschwerpunkt liegt in der EDV. Durch
seine offene Art gewinnt er schnell das Vertrauen seiner Soldaten, wobei sich
seine Fürsorge gegenüber seinem unterstellten Bereich nicht nur auf die
Dienstzeit beschränkt.
SU … hat seine Stärken in der Materialbewirtschaftung und -erhaltung. Hier-
bei hat er das vollste Vertrauen seiner Vorgesetzten. Auch in der Arbeitsorga-
nisation und -planung besticht er durch hervorragende Umsetzung seiner Auf-
träge und Ausnutzung aller Ressourcen. Deshalb hebt sich SU Walther aus
seiner Dienstgradgruppe ab und zeigt Feldwebelqualitäten.
Die Einsatzgrundsätze als Gruppenführer-PzGren beherrscht er, dies hat er
im GüZ (H) Mai 2001 bewiesen. In das UffzKorps der Kompanie ist er voll in-
tegriert und nimmt das Amt des Kassenwarts war. Physisch und psychisch ist
er zu jeder Zeit voll belastbar.”
Der nächsthöhere Vorgesetzte hat hierzu wie folgt Stellung genommen:
„Die Beurteilung des Kompaniechefs unterstütze ich ohne Einschränkungen,
vor allem in Kenntnis des Beurteilungsmaßstabes. Ich habe Stabsunteroffizier
Walther im Rahmen der Dienstaufsicht als Ausbilder und Truppführer persön-
lich erlebt und einen positiven Eindruck von ihm gewonnen. Ich halte SU … für
einen überdurchschnittlich verantwortungsbewussten und einsatzbereiten
Soldaten.”
In der erstinstanzlichen Hauptverhandlung hat Major B., früherer Disziplinarvorgesetzter
des Soldaten, als Leumundszeuge über ihn ausgesagt, dieser sei in P. einer größeren
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Belastung ausgesetzt gewesen als alle anderen Soldaten. Der Soldat sei ein hervorra-
gender Vorgesetzter mit vorbildlicher Dienstauffassung und Pflichterfüllung, er wäre heute
schon Feldwebel, wenn es nicht dieses Verfahren gäbe. Er, der Zeuge, ordne den Solda-
ten in die Spitzengruppe ein. Hauptmann L., Disziplinarvorgesetzter des Soldaten, hat als
Leumundszeuge ausgesagt, der Soldat gehöre eindeutig zur Spitzengruppe, nach wie vor
übernehme er freiwillige Aufgaben und erfülle diese zu seiner vollsten Zufriedenheit. Der
Soldat habe acht Unterstellte, die ebenfalls vollstes Vertrauen in den Soldaten als Vorge-
setzten hätten.
Der weder straf- noch disziplinarrechtlich vorbelastete Soldat ist Träger des Leistungsab-
zeichens in Gold und der Schützenschnur in Gold. Im Mai 2000 wurde ihm die KFOR-
Einsatzmedaille der NATO verliehen. Durch seinen jeweiligen Kompaniechef erhielt er am
22. Juni 1999 eine förmliche Anerkennung wegen einer hervorragenden Einzeltat und am
13. Dezember 2000 eine solche wegen vorbildlicher Pflichterfüllung.
Die Dienstbezüge des ledigen Soldaten berechnen sich aus der 3. Dienstaltersstufe der
Besoldungsgruppe A 6 (Tarif Ost) des Bundesbesoldungsgesetzes und betragen monat-
lich 1.563,89 € brutto bzw. 1.363,80 € netto. Er wohnt nicht mehr bei seinen Eltern, son-
dern in einer eigenen Wohnung in Bernau. Seine Vermögensverhältnisse sind geordnet.
II
In dem mit Verfügung des Befehlshabers im Wehrbereich … und Kommandeurs der
... Panzergrenadierdivision vom 25. August 2000 durch Aushändigung an den Soldaten
am 31. August 2000 ordnungsgemäß eingeleiten gerichtlichen Disziplinarverfahren fand
die ... Kammer des Truppendienstgerichts …, ausgehend von der Anschuldigungsschrift
vom 17. Juli 2001 den Soldaten eines Dienstvergehens schuldig und setzte ihn in den
Dienstgrad eines Unteroffiziers herab, wobei sie die Frist für die Wiederbeförderung auf
zwei Jahre festsetzte.
Die Truppendienstkammer stellte folgenden Sachverhalt fest:
„Der Soldat nahm vom 01. November 1999 bis 27. Mai 2000 am Auslandsein-
satz der Bundeswehr im Kosovo teil. Er gehörte zur .../Einsatzbataillon …, die
als Teil des Deutschen Heereskontingents KFOR zuletzt in O. stationiert war.
Diese Kampftruppeneinheit gliederte sich in mehrere Züge und wurde aus
verschiedenen Truppengattungen gebildet. So bestanden der ... und ... Zug
aus Panzergrenadieren, während zum Beispiel der ... Zug sich aus Panzer-
aufklärern zusammensetzte. Der Soldat gehörte dem ... Zuge zunächst als
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Truppführer und später, nach gesundheitsbedingtem Ausfall seines Gruppen-
führers (Oberfeldwebel S.), als Gruppenführer an.
Vor dem hier entscheidenden 24. Mai 2000 hatte der ... Zug anstrengende
Dienste zu leisten. So war er vor dem 22. Mai 2000 für 72 Stunden zur Siche-
rung eines serbischen Dorfes eingesetzt, um Übergriffe der albanischen Be-
völkerung zu verhindern. Unmittelbar nach Beendigung dieses Einsatzes
musste er für 48 Stunden (vom 22. bis 24. Mai 2000) die Sicherung (Wache)
des Feldlagers O. 2 (alte Weinfabrik) übernehmen, in dem der Soldat und sei-
ne Kameraden untergebracht waren. Der Soldat selbst war als Wachhabender
der Lagersicherung eingeteilt. Der Sicherungsdienst endete am 24. Mai 2000
um 10.00 Uhr. Danach hatte der Soldat mehrere Stunden Zeit ‚zur freien Ver-
fügung’. Dies bedeutete jedoch nicht, dass er einfach ausruhen konnte, viel-
mehr mussten in dieser Zeit die Einsätze nachbereitet werden, Waffen und
Gerät sowie die persönliche Ausrüstung gewartet und gereinigt sowie sonstige
notwendigen Verrichtungen vorgenommen werden.
Um 18.00 Uhr desselben Tages begann für mehrere Gruppen des ... Zuges,
darunter auch den Soldaten und seine Männer, ein 48-stündiger Bereit-
schaftsdienst, bei dem zwar grundsätzlich auch Patrouillenfahrten durchzufüh-
ren sind, bei dem den Bereitschaftssoldaten aber auch genügend Freiräume
zum Ausruhen bleiben. Führer des Bereitschaftszuges war der Zeuge Haupt-
feldwebel F., der Zugführer des ... Zuges. Dieser führte gegen 18.30 Uhr eine
Befehlsausgabe durch, an der auch der Soldat teilnahm. Dabei wies er erneut
auf das während des Bereitschaftsdienstes geltende absolute Alkoholverbot
hin. Nach der Befehlsausgabe hatte auch der Soldat wieder Zeit zur freien
Verfügung. Er hielt sich in dem Zelte auf, in dem er zusammen mit den ande-
ren Vorgesetztendienstgraden des ... und ... Zuges (mit Ausnahme der Zug-
führer) untergebracht war.
Gegen 23.00 Uhr erschien Hauptfeldwebel F. in diesem Zelte und alarmierte
die Unteroffiziere des Bereitschaftszuges. In M. war es zu einer Auseinander-
setzung zwischen Soldaten des russischen Kontingents und Kosovo-Albanern
gekommen, in deren Folge das dortige KFOR-Lager beschossen wurde. Zur
Unterstützung des russischen Kontingents und zur Beruhigung der albani-
schen Bevölkerung sollten nun deutsche Kräfte nach M. geschickt werden.
Hierzu wurde von deutscher Seite der mit Spähpanzern ‚Luchs’ ausgestattete
... Zug der .../Einsatzbataillon … nach M. befohlen. Um seinen Auftrag erfüllen
zu können, musste der ... Zug, der gerade die Lagersicherung wahrnahm, aus
dieser Aufgabe herausgelöst werden. Die Bereitschaft des ... Zuges hatte da-
her von der Kompanieführung den Auftrag erhalten, die Lagersicherung sowie
den Kontrollpunkt … zu übernehmen.
Nachdem der Zugführer Lage und Auftrag in einer hektischen Art und Weise
kundgetan hatte, verließ er das Zelt wieder. Der ebenfalls anwesende stellver-
tretende Zugführer, der Zeuge Oberfeldwebel S., der bis dahin nicht zur Be-
reitschaft gehörte, ergriff nicht die Initiative, als er sah, dass sich der Soldat
und der Stabsunteroffizier U. sogleich um die Angelegenheit kümmerten, son-
dern widmete sich wieder einem Fußballspiel im Fernsehen. Der Soldat erklär-
te sofort zu Stabsunteroffizier U., dass er mit seinen Männern den Kontroll-
punkt … übernehmen werde, da er ja bereits kurz zuvor in der Lagerwache
eingesetzt gewesen sei. Stabsunteroffizier U. war damit einverstanden und
wollte selbst mit seinen Leuten die Lagerwache besetzen. Beide leiteten die
hierzu notwendigen Schritte ein, alarmierten die in einem anderen Zelte unter-
gebrachten Mannschaften und teilten diese zu den einzelnen Aufträgen ein.
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Anschließend ging der Soldat, der darüber erbost war, dass sein Zugführer
nicht mehr da war, wieder viel ‚Stress’ entstanden und keine Zeit mehr zum
Abschalten war, in sein Zelt zurück, um eine Splitterschutzweste vom Typ
‚Bristol’, seine Pistole und seinen Gefechtshelm zu holen. Außerdem nahm er
eine kleine Tasche mit, in die er eine Flasche Kola sowie eine Flasche Rum
der Marke ‚Bacardi’, die noch zu drei Vierteln gefüllt war, steckte. Er beabsich-
tigte, diese Getränke bei nächster sich bietender Gelegenheit unbeobachtet
zu trinken.
Danach begab er sich mit einem Schützenpanzer ‚Marder’ und drei Hauptge-
freiten als Besatzung zu Kontrollpunkt …, der nur wenige hundert Meter von
der Lagereinfahrt entfernt lag. Nach der Übernahme des Kontrollpunkts befahl
er den erschöpften Mannschaftssoldaten, dass diese sich zunächst hinlegen
sollten, um etwas Ruhe zu finden. Er selbst setzte sich auf den Kommandan-
tenplatz des Schützenpanzers, von dem aus er die aufmunitionierte Bordma-
schinenkanone 20 Millimeter bedienen konnte, und übernahm die erste Wa-
che. Er wollte nur noch zur Ruhe kommen und über die vergangenen sechs
Monate Auslandseinsatz nachdenken. Um seinen Ärger und seine Wut über
die enorme dienstliche Belastung und den Führungsstil seines Zugführers er-
träglicher zu machen, trank er dort in den folgenden etwa 45 Minuten vier Be-
cher einer Getränkemischung aus Rum und Kola. Der Soldat wusste, dass der
Genuss von Alkohol während des Dienstes verboten ist, und kannte die Rege-
lung der ZDv 10/5 Nr. 403 ihrem Inhalte nach. Ihm war auch klar, dass das Al-
koholverbot insbesondere für Wach-, Sicherungs- und Bereitschaftsdienste
gilt. Den Verstoß gegen die Befehls- und Vorschriftenlage nahm er jedoch bil-
ligend in Kauf, um seine Frustration und Verärgerung ‚hinunterzuspülen’. Nach
dem Verzehr des Rum-Kola-Gemisches befand sich nach Angaben des Sol-
daten noch etwas weniger als die Hälfte in der Rumflasche.
In der Zwischenzeit war es im Feldlager im Zelte der Vorgesetzten des ... und
... Zuges zu Diskussionen darüber gekommen, ob es richtig gewesen sei,
wieder einmal den Soldaten und Stabsunteroffizier U., die sich ohnehin immer
zur Übernahme von Diensten anböten, auf Posten zu schicken. Die Ausei-
nandersetzung ging von Stabsunteroffizier G. aus, der die Alarmierung mitbe-
kommen und das Verhalten der einzelnen Vorgesetzten beobachtet hatte. Als
Angehöriger des ... Zuges, der nicht in Bereitschaft stand, hatte er reichlich
getrunken und machte insbesondere dem Zeugen Oberfeldwebel S. sowie
dem Stabsunteroffizier M. Vorhaltungen, indem er etwa sagte: ‚Ihr wisst ja gar
nicht, was Ihr an Stabsunteroffizier … habt. Wieso musste dieser jetzt wieder
raus?’ Als sich Stabsunteroffizier G. gegenüber Stabsunteroffizier M. in Rage
redete, ging Oberfeldwebel S. zu ihm hin und sagte sinngemäß: ‚Wenn es
Dich beruhigt, fahr ich jetzt zum Kontrollpunkt … und löse Stabsunteroffizier
… ab.’ Dies tat er, weil er sich über das Verhalten des Stabsunteroffiziers G.
ärgerte, vielleicht auch, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Anschließend
begab er sich mit dem Dienstwagen ‚Wolf’ des ... Zuges (Amtliches Kennzei-
chen: Y-… …) ohne Beifahrer auf der direkten Verbindungsstraße zwischen
dem Tore des Feldlagers und dem Kontrollpunkt … zum Schützenpanzer des
Soldaten, wo er gegen 23.45 Uhr eintraf. Dem überraschten Soldaten schil-
derte er kurz von den Streitgesprächen im Zelte. Weiter erklärte er, dass er
ihn jetzt ablösen werde, er solle mit dem ‚Wolf’ ins Lager zurückkehren und
dort für Ruhe sorgen.
Der Soldat wollte wegen seines vorherigen Alkoholgenusses jedoch keines-
falls das Dienstfahrzeug lenken. Außerdem wollte er nicht in die Hektik des
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Zeltlagers zurückkehren. Deshalb versuchte er, den Oberfeldwebel S. umzu-
stimmen, indem er erklärte, es sei nicht nötig, ihn abzulösen, dies solle erst
am Morgen geschehen. Oberfeldwebel S. war damit jedoch nicht einverstan-
den und befahl dem Soldaten, mit dem Dienstwagen ‚Wolf’ in das Lager zu-
rückzufahren. Daraufhin nahm der Soldat seine Sachen, darunter seine Ta-
sche, in der sich die Rumflasche befand, und seine Splitterschutzweste, und
legte diese auf den Beifahrersitz. Dem Oberfeldwebel S. meldete er nicht,
dass er zuvor Alkohol getrunken hatte, weil er dies nicht offenbaren wollte. Er
war nach seinen Angaben nicht merklich alkoholisiert und fühlte sich ‚fit’. So-
dann fuhr er mit dem Dienstfahrzeug in Richtung des Feldlagers O. 2. Als
ausgebildeter Militärkraftfahrer war ihm der Inhalt der Regelung der ZDv 43/2
Nr. 122 bekannt. Er wusste, dass es nach dieser Dienstvorschrift verboten ist,
ein Dienstkraftfahrzeug unter der Wirkung alkoholischer Getränke zu führen
oder auch nur in Betrieb zu setzen. Während seiner Fahrschulausbildung in
Hammelburg war er auch über die straf- und dienstrechtlichen Folgen der
Trunkenheit am Steuer belehrt worden.
Anstatt nun auf unmittelbarem Wege in das Feldlager zu fahren, wie es ihm
aufgetragen war, hielt der Soldat nach etwa zweihundert Metern an einer
Straßeneinbuchtung an. Er war durch die Geschehnisse der letzten Stunden
noch immer innerlich aufgebracht (‚total aufgedreht’), zusätzlich gingen ihm
jetzt die von Oberfeldwebel S. geschilderten Auseinandersetzungen mit
Stabsunteroffizier G. durch den Kopf. Er suchte nach einer Möglichkeit, abzu-
schalten und über alles nachzudenken. Dabei kam ihm der Gedanke, das zu
tun, was er in derartigen Situationen auch immer in Deutschland tat, nämlich
durch die Gegend zu fahren und sich während dessen die Probleme durch
den Kopf gehen zu lassen. Er hoffte, sich dadurch beruhigen zu können und
wieder auf andere Gedanken zu kommen.
So entschloss er sich, von der Straße ins Feldlager abzubiegen und in die
Stadt O., in der er sich sehr gut auskannte, zu fahren, um dort noch einige
Runden zu drehen. Der Soldat kannte den auch für die deutschen Soldaten
verbindlichen ‚Vehicle Code’ der KFOR-Truppen, wonach man mit einem
Dienstfahrzeug nicht allein, sondern nur in Begleitung eines Kameraden, also
Beifahrers, unterwegs sein durfte. Ihm war auch die gültige Anzugsordnung
(‚Dress Code’) bekannt, nach der aus Sicherheitsgründen außerhalb der Feld-
lager immer die Splitterschutzweste (Bristol-Weste) getragen werden musste.
Die Einhaltung dieser Vorschriften war ihm zum damaligen Zeitpunkt jedoch
nicht wichtig. Deshalb legte er seine Schutzweste nicht an, sondern ließ sie
auf dem Beifahrersitz liegen.
Nachdem er eine Zeitlang im Stadtgebiet von O. umhergefahren war, gelangte
der Soldat nach Mitternacht am 25. Mai 2000 an die Ampelkreuzung in O. Dort
hatte eine Feldjägerstreife, die aus dem Zeugen Oberfeldwebel F. (Streifen-
führer; damals Feldwebel) und Feldwebel C. (Streifenbegleiter; damals Stabs-
unteroffizier) bestand, einen Kraftfahrzeugkontrollpunkt eingerichtet. Da dem
Streifenführer auffiel, dass der Soldat allein im Fahrzeug saß, hielt er ihn an.
Als er an die Fahrertür ging, bemerkte er, dass der Soldat nicht die Splitter-
schutzweste ‚Bristol’ trug, sondern diese im Innern des Fahrzeugs abgelegt
war. Der Zeuge F. fragte den Soldaten, wo sein zweiter Mann sei und warum
er seine Schutzweste nicht angelegt habe. Darauf erwiderte der Soldat, dass
er vom Kontrollpunkt … komme, ‚Abflieger’ sei und nur noch eine
Abschiedrunde durch O. fahren wolle. Der Feldjägerstreifenführer erklärte,
dass er ihn so nicht weiterfahren lassen könne, und forderte ihn auf, rechts an
die Seite zu fahren und den Motor abzustellen. Der Soldat entgegnete ‚Sicher
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nicht!’, gab Gas und fuhr davon. Der Streifenführer rief mit lauter Stimmer hin-
terher, dass er anhalten solle, es ist jedoch nicht auszuschließen, dass der
Soldat diesen Befehl nicht mehr mitbekam.
Der Soldat befuhr weiter die Hauptstraße, die einen Bogen durch O. macht
und letztlich in Richtung S.R. führt. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit
bog er nach rechts ab in eine Gasse, die ihn wieder zur Ampelkreuzung ge-
führt hätte. Auf diesem Wege wäre es ihm möglich gewesen, wieder auf
schnellstem Wege in das Feldlager O. 2 zu gelangen. Die Feldjäger, die nach
dem Davonfahren des Soldaten in ihr Streifenfahrzeug gesprungen waren, um
die Verfolgung aufzunehmen, waren von der Ampelkreuzung kommend in die-
se Gasse hineingefahren, um zu versuchen, dem Soldaten den Weg abzu-
schneiden. Daher kam dem Soldaten plötzlich der Streifenwagen der Feldjä-
ger, ein Dienstwagen des Typs ‚Wolf’, entgegen. Als die Feldjäger das Fahr-
zeug des Soldaten bemerkten, stellte der Streifenbegleiter, der der Kraftfahrer
war, das Streifenfahrzeug quer zur Fahrbahn, um den Soldaten zum Halten zu
zwingen. Der Soldat hielt dann auch an, da ihm durch das Versperren der
Straße eine Weiterfahrt unmöglich gemacht worden war.
Zugunsten des Soldaten muss angenommen werden, dass ihm nicht zuvor
durch Betätigen der Lichthupe Zeichen zum Anhalten gegeben worden waren.
Denn die Angaben der Zeugen F. und C. sind hier widersprüchlich. Während
der Zeuge F. angegeben hat, man habe dem Soldaten schon aus größerer
Entfernung mehrfach Zeichen mit der Lichthupe gegeben, hat der Zeuge C.
ausgesagt, die Lichthupe nicht betätigt zu haben, sondern sich sogleich mit
dem Fahrzeug schräg in die Straße gestellt zu haben. Dem Soldaten war zur
Überzeugung der Kammer auch nicht mit hinreichender Sicherheit nachzu-
weisen, dass er mit seinem Fahrzeug versucht hätte, die Sperre zwischen
dem Streifenfahrzeug und der Hauswand zu durchbrechen. Zwar haben dies
die beiden Feldjäger übereinstimmend behauptet, ihre jeweiligen Sachdarstel-
lungen weichen im Einzelnen jedoch derart voneinander ab, dass sie nicht zur
Grundlage eines gegen den Soldaten gerichteten Vorwurfs gemacht werden
können. So hat der Zeuge C. erklärt, der Soldat sei auf die Lücke zwischen
Hauswand und Streifenfahrzeug zugefahren und sei erste etwa einen halben
Meter vor dem Feldjägerwagen zum Stehen gekommen. Der Abstand zwi-
schen Einsatzfahrzeug und Hauswand habe höchstens einen Meter betragen,
so dass es unmöglich gewesen sei, dort hindurch zu kommen. Dem gegen-
über hat der Zeuge Friedel ausgeführt, der Soldat habe mit seinem Wagen
zunächst angehalten. Als er ausgestiegen sei und sich dem Fahrzeug des
Soldaten genähert habe, sei er erneut angefahren und habe mit langsamer
Geschwindigkeit versucht, zwischen dem Streifenfahrzeug und der Hauswand
hindurchzugelangen. Mit einem Geländewagen, wie ihn der Soldat fuhr, wäre
dies auf dem zwischen dem Streifenfahrzeug und der Hauswand befindlichen
Grünstreifen unter Umständen möglich gewesen. Der Streifenbegleiter hätte
jedoch die Fahrertür des Streifenwagens aufgerissen, um die Lücke zwischen
Fahrzeug und Hauswand zu verkleinern, so dass der Soldat sein Vorhaben
aufgegeben habe. Darüber hinaus enthält der noch in derselben Nacht vom
Zeugen F. verfasste Militärpolizeibericht Nr. 125/00 ORA (Tagebuch-Nr.:
3354/00) keinerlei Hinweise auf einen derartigen Durchbruchsversuch des
Soldaten.
Jedenfalls ging der Streifenführer mit der Waffe im Anschlag auf die Fahrertür
des Soldaten zu, schlug mit seinem ‚Rettungsmehrzweckstock’ mehrmals zur
Einschüchterung auf die Motorhaube von dessen Fahrzeug und brachte den
Soldaten auf diese Art und Weise dazu, seine Anweisungen zu befolgen.
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Während dessen wurde er vom Streifenbegleiter gesichert, der ebenfalls mit
gezogener Pistole im Anschlag zwischen Fahrertür und Streifenfahrzeug
stand. Im weiteren Verlaufe zeigte sich der Soldat einsichtig und folgte den
Anweisungen der Feldjäger.
Diesen war eine Alkoholisierung des Soldaten nicht aufgefallen, jedoch ent-
deckten sie bei der Durchsuchung des Fahrzeugs die aus der geöffneten Ta-
sche des Soldaten herauslukende Flasche ‚Bacardi’. Auf entsprechendes Be-
fragen gab der Soldat sogleich zu, vorher Alkohol getrunken zu haben. Da-
raufhin wurde er noch an Ort und Stelle einer Atemalkoholkontrolle unterzo-
gen, indem er in ein ‚Röhrchen’ blasen musste. Das in dem Röhrchen enthal-
tene Pulver verfärbte sich stark und gab einen Wert von über 0,8 Promille an.
Anschließend wurde der Soldat, dessen Waffe sichergestellt wurde, auf die
nur etwa zweihundert Meter entfernte Militärpolizeiwache verbracht. Dort
übergab er dem Zeugen F. einen Schlüssel zu einem Materialcontainer, den
er bei sich führte, mit den Worten, er könne dort an Waffen und Munition her-
ankommen und sich sonst etwas antun. Gegen 03.00 Uhr des 25. Mai 2000
wurde der Soldat an ein Abholkommando seiner Einheit übergeben.
Der Soldat hat angegeben, dass er sich seine Verhaltensweisen, die er als
Fehler betrachtet, heute selbst nicht richtig erklären kann. Er führt sie darauf
zurück, dass er damals einem ‚ständigen Dauerstress’ ausgesetzt gewesen
und daher nicht mehr in der Lage gewesen sei, richtige Entschlüsse zu fas-
sen. Die Grenze seiner Strapazierfähigkeit sei überschritten worden. Er habe
am Ende den Stress nicht mehr beherrschen können und sich selbst nicht
mehr unter Kontrolle gehabt. Von Beginn des Einsatzes an sei er mit Aufga-
ben bedacht worden, zu deren Erfüllung er auch aufgrund seines Dienstgra-
des eigentlich nicht zuständig gewesen sei. So sei ihm mehrfach die Vollzäh-
ligkeitsüberprüfung und zusätzlich auch die Überprüfung nach § 78 Bundes-
haushaltsordnung übertragen worden, obwohl hierfür eigentlich der Zugführer
verantwortlich gewesen sei. Aufgrund zahlreicher Zusatzaufträge habe er sich
von Beginn des Auslandseinsatzes an einem sehr starken Druck ausgesetzt
gesehen, der mit der Dauer des Einsatzes immer stärker geworden sei. Er
habe Unterstützung von seinen Vorgesetzten erwartet, diese hätten ihn aber
mit all seinen Problemen allein gelassen. Dies treffe insbesondere auf seinen
Zugführer, Hauptfeldwebel F., und den stellvertretenden Zugführer, Oberfeld-
webel S., zu, die kein offenes Ohr für ihn gehabt hätten. Hinzugekommen sei
der Führungsstil seines Zugführers und dessen hektische Art und Weise, die
ihn sehr aufgeregt hätten. Dies alles habe bei ihm zu einer starken nervlichen
Belastung und Anspannung geführt. In der Nacht vom 24. auf dem 25. Mai
2000 sei das Maß für ihn voll gewesen, er habe einfach abgeschaltet. Er habe
sich nicht hilfesuchend an den Kompaniechef gewandt, weil er alles innerhalb
des Zuges habe regeln wollen. Dies sei aus heutiger Sicht ein Fehler gewe-
sen. Auf den Gedanken, sich dem Truppenarzt vorzustellen, sei er nicht ge-
kommen; Truppenpsychologen und Militärpfarrer seien im Feldlager P. statio-
niert gewesen und hätten sich in O. kaum blicken lassen. Anfangs habe er
sich immer mit seinem Gruppenführer, dem Oberfeldwebel S. aussprechen
können. Dieser sei dann jedoch aus gesundheitlichen Gründen nach Deutsch-
land zurückkommandiert worden mit der Folge, dass er auch dessen Aufga-
ben habe übernehmen müssen.
Die Zeugen Major B., Hauptfeldwebel F. und Oberfeldwebel S. haben in der
Hauptverhandlung bestätigt, dass der Soldat - gerade auch gegen Ende des
Einsatzzeitraums - über einen längeren Zeitraum ununterbrochen im Einsatz
gestanden hatte. Er habe aus der Gruppe der Stabsunteroffiziere herausge-
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ragt und Leistungen auf Feldwebelniveau erbracht. Insbesondere deshalb,
aber auch, weil er sich ständig selbst anbot, sei er mehr als andere mit Aufga-
ben betraut worden. Zwar seien alle Soldaten sehr gefordert gewesen, die
höchste Belastung im ... Zuge habe jedoch der Soldat gehabt. Gegen Ende
Mai 2000 seien die Aufträge für den ... Zug wegen des bevorstehenden Kon-
tingentwechsels und des Vorfalls beim russischen Kontingent sogar noch
zahlreicher geworden, obwohl der Zug nicht mehr die volle Personalstärke
gehabt habe, weil zum Beispiel die Reservisten schon heimgeflogen worden
seien. Hinzugekommen sei, dass es kaum Freizeit und so gut wie keine Pri-
vatsphäre gegeben habe, weil man immer mit acht bis zwölf Mann zusammen
im Zelte war. Außerdem hätten im Mai 2000 bereits hohe Temperaturen im
Kosovo geherrscht, was die Leistungsfähigkeit der Soldaten, insbesondere
beim Tragen der Schutzweste, zusätzlich belastet habe. Die Zeugen hatten
Ende Mai 2000 beim Soldaten zwar keine konkreten Anzeichen für eine Über-
forderung festgestellt, sie schließen es jedoch nicht aus, dass der Soldat die
Grenzen seiner körperlichen und seelischen Leistungsfähigkeit überschritten
hatte.“
Zur rechtlichen Würdigung führte die Truppendienstkammer aus, der Soldat habe, indem
er als Postenführer des Kontrollpunkts … am 24. Mai 2000 nach 23.00 Uhr vier Becher
eines Rum-Cola-Gemischs zu sich genommen habe (Anschuldigungspunkt 1), vorsätzlich
seine Pflicht zum treuen Dienen (§ 7 SG) verletzt, ferner die Gehorsamspflicht gem. § 11
Abs. 1 Satz 1 und 2 SG, weil er gegen das ihm bekannte und in der ZDv 10/5 Nr. 403
verankerte Alkoholverbot während des Dienstes verstoßen habe. Außerdem habe er ins-
gesamt seine Pflicht zur Achtungs- und Vertrauenswahrung im dienstlichen Bereich (§ 17
Abs. 2 Satz 1 SG) missachtet. Durch das Lenken eines Dienstkraftfahrzeugs unter Alko-
holeinfluss in der Nacht vom 24. auf den 25. Mai 2000 (Anschuldigungspunkt 2) habe der
Soldat erneut gegen die Pflicht zum treuen Dienen (§ 7 SG) verstoßen, zusätzlich, da er
gewusst habe, dass man Dienstkraftfahrzeuge nicht führen dürfe, wenn man unter der
Wirkung alkoholischer Getränke stehe, seine Pflicht zum Gehorsam (§ 11 Abs. 1 Satz 1
und 2 SG i.V.m. ZDv 43/2 Nr. 122) und insgesamt seine innerdienstliche Achtungs- und
Vertrauenswahrungspflicht (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG) verletzt. Indem der Soldat während
seiner gesamten Fahrt in der Nacht vom 24. auf den 25. Mai 2000 entgegen den im Ein-
satzland geltenden und ihm bekannten „Dress Code“ seine Splitterschutzweste nicht an-
gelegt habe (Anschuldigungspunkt 3), habe er erneut gegen seine Gehorsamspflicht nach
§ 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 SG verstoßen; ferner habe er, weil er den Befehl des Feldjäger-
streifenführers, rechts an die Seite zu fahren und den Motor abzustellen, nicht befolgt ha-
be, wiederum seine Gehorsamspflicht (§ 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 SG) verletzt, aber auch
die Pflicht gegenüber Vorgesetzten Disziplin zu wahren (§ 17 Abs. 1 SG) und insgesamt
durch sein Verhalten vorsätzlich gegen seine Pflicht zur Achtungs- und Vertrauenswah-
rung im Dienst (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG) verstoßen.
Somit habe er sich eines Dienstvergehens schuldig gemacht (§ 23 Abs. 1 SG).
- 12 -
Hinsichtlich der Ausführungen der Kammer zur Maßnahmebemessung wird auf das ange-
fochtene Urteil verwiesen.
Gegen dieses dem Soldaten am 7. Juni 2002 zugestellte Urteil hat sein Verteidiger mit
Schriftsatz vom 8. Juli 2002, am selben Tage beim Bundesverwaltungsgericht - Wehr-
dienstsenate - eingegangen, eine auf die Disziplinarmaßnahme beschränkte Berufung
eingelegt mit dem Antrag, den Soldaten zu einer Kürzung der Dienstbezüge um ein
Zwanzigstel für die Dauer von sechs Monaten zu verurteilen, hilfsweise, die Verurteilung
zu einer milderen Disziplinarmaßnahme als der Dienstgradherabsetzung.
Zur Begründung hat der Verteidiger im Wesentlichen ausgeführt:
Das Truppendienstgericht habe die ihm obliegenden (§ 58 Abs. 7 WDO) Richtlinien für
das Bemessen der Disziplinarmaßnahme in wesentlichen Teilen außer Acht gelassen. Es
sei in nicht nachvollziehbarer Weise von einer Dienstgradherabsetzung als Grundlage
ausgegangen und habe willkürlich eine Dienstgradherabsetzung bis in den Mannschafts-
dienstgrad erwogen, obwohl das Maß der Schuld, die Persönlichkeit, die bisherige Füh-
rung und die Beweggründe des Soldaten unzweideutig zugunsten des Soldaten sprächen,
und zwar im Sinne einer Abstufung auf die gerichtliche Disziplinarmaßnahme nach § 59
WDO. Der Soldat verkenne nicht, dass er am 24. Mai 2000 ein schweres Dienstvergehen
begangen habe. Er sei sich auch im Klaren darüber, dass er hierfür zur Verantwortung
gezogen werde. Er habe jedoch erwartet, und erwarte dies auch heute noch, dass seine
ständig über dem Durchschnitt liegenden Leistungen und die Besonderheiten des Dienst-
vergehens - am Ende des Sechs-Monats-Zeitraums im Kosovo - berücksichtigt würden.
Ferner erwarte er, dass berücksichtigt werde, dass er nach den Feststellungen des Urteils
am Ende des Sechs-Monats-Zeitraumes - und schon davor - seine physische und psychi-
sche Leistungsgrenze überschritten habe. Hier habe das Gericht unter dem Gesichts-
punkt der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung in jedem Fall prüfen müssen, ob nicht we-
nigstens die Voraussetzungen des § 21 StGB erfüllt seien. Das Gericht habe die Frage
der Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB ausschließlich im Hinblick
auf den genossenen Alkohol geprüft, nicht jedoch in Bezug auf die permanente Über-
schreitung der physischen und psychischen Leistungsgrenze des Soldaten, was - rein
medizinisch - zu Erschöpfungszuständen führen könne. Das Gericht habe auch prüfen
müssen, ob nicht beim Soldaten aufgrund der vorherigen Wachdienste eine schwere
Übermüdung vorgelegen habe. Im Gegensatz zu der Auffassung des Truppendienstge-
richtes werde die Ansicht vertreten, dass die festgestellten Dienstpflichtverletzungen, mit-
hin das Dienstvergehen, als gestreckte Augenblickstat zu werten sei. Entgegen der An-
sicht des Truppendienstgerichts habe sich der Soldat sehr wohl in einer Situation befun-
- 13 -
den, die von derart außergewöhnlichen Besonderheiten gekennzeichnet gewesen sei,
dass sein Verhalten im Ergebnis nur als unbedachte, im Grunde persönlichkeitsfremde
Augenblickstat eines ansonsten tadelfrei und im Dienst bewährten Soldaten angesehen
werden könne. Auch habe das Truppendienstgericht die „Nachbewährung“ des Soldaten
unberücksichtigt gelassen. Nach der Tat habe der Soldat permanent weit über dem
Durchschnitt liegende Leistungen gezeigt und zeige sie noch, und zwar nicht etwa auf
dem Niveau von Unteroffizieren ohne Portepee, sondern auf Feldwebelniveau. All dies
habe nicht dazu führen dürfen, dass als Bemessungsgrundlage von einer Dienstgradher-
absetzung ausgegangen werde. Es hätte von der Regel, dem Beförderungsverbot, aus-
gegangen werden müssen, vor allem auch deshalb, weil es sich um eine Augenblickstat
gehandelt habe, auch wenn die Tatausführung über einen längeren Zeitraum von ca. ein-
einhalb Stunden angedauert habe.
III
1. Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft, ihre Förmlichkeiten sind gewahrt (§ 115
Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 WDO).
2. Die Berufung des Soldaten wurde von seinem Verteidiger rechtzeitig eingelegt und hin-
reichend begründet. Sie ist auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkt. Der
Senat hatte daher die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die rechtliche Würdigung der
Kammer seiner Entscheidung zugrunde zu legen und nur noch über die angemessene
Disziplinarmaßnahme zu befinden (§ 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 327 StPO).
3. Die Berufung hatte Erfolg.
Bei Art und Maß der Disziplinarmaßnahme sind nach § 58 Abs. 7 i.V.m. § 38 Abs. 1 WDO
Eigenart und Schwere des Dienstvergehens und seine Auswirkungen, das Maß der
Schuld, die Persönlichkeit, die bisherige Führung sowie die Beweggründe des Soldaten
zu berücksichtigen.
Das Dienstvergehen hat erhebliches Gewicht.
a) Die „Eigenart und Schwere” eines Dienstvergehens bestimmt sich nach dem Unrechts-
gehalt der Verfehlung, mithin also nach der Bedeutung der verletzten Pflichten.
- 14 -
Danach wiegt das Dienstvergehen schwer, weil es durch wiederholte Verstöße gegen die
Gehorsamspflicht (§ 11 Abs. 1 SG) und die Pflicht zum treuen Dienen (§ 7 SG) gekenn-
zeichnet ist.
Die Pflicht zum Gehorsam gehört zu den zentralen Dienstpflichten eines jeden Soldaten
(vgl. Urteile vom 14. November 1991 - BVerwG 2 WD 12.91 - ,
vom 3. August 1994 - BVerwG 2 WD 18.94 - und vom 4. Juli 2001
- BVerwG 2 WD 52.00 - ). Fehlt die
Bereitschaft zum Gehorsam, kann die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr in Frage ge-
stellt sein. Ist ein Vorgesetzter, der wegen seiner herausgehobenen Stellung in besonde-
rem Maße für die Erfüllung seiner Dienstpflichten verantwortlich ist (§ 10 Abs. 1 SG), vor-
sätzlich ungehorsam, so gibt er ein denkbar schlechtes Beispiel, untergräbt seine Autori-
tät und schädigt sein dienstliches Ansehen. Dies gilt insbesondere für einen Auslandsein-
satz. Gerade im Kosovo ist es wegen der dort angespannten Sicherheitslage und der da-
mit verbundenen Gefährdungen erforderlich, dass jeder Bundeswehrsoldat innerhalb der
Grenzen des § 11 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 SG die gegebenen Befehle beachtet. Die Be-
deutung der Gehorsamspflicht ergibt sich schon daraus, dass der Gesetzgeber für Unge-
horsam und Gehorsamsverweigerung gemäß §§ 19, 20 WStG empfindliche Freiheitsstra-
fen vorgesehen hat.
Auch die Verstöße gegen die Pflicht zum treuen Dienen sind insbesondere vor dem Hin-
tergrund des Auslandseinsatzes, der die jederzeitige und volle Einsatzbereitschaft von
Personal und Material des jeweiligen deutschen Einsatzkontingents erfordert, erheblich.
Die Vorschrift des § 7 SG gebietet einem Soldaten, im Dienst und außerhalb des Dienstes
zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr beizutragen und alles zu tun, was
sie in ihrem verfassungsmäßig festgelegten Aufgabenbereich einschränken könnte. Die
Bundeswehr kann den ihr erteilten Verfassungsauftrag nur dann erfüllen, wenn nicht nur
das innere Gefüge der Streitkräfte so gestaltet ist, dass sie ihren militärischen Aufgaben
gewachsen ist, sondern auch ihre Angehörigen jederzeit präsent und einsatzbereit sind.
Der Dienstherr muss sich darauf verlassen können, dass jeder Soldat seinen Pflichten zur
Verwirklichung des Verfassungsauftrages der Bundeswehr nachkommt und alles unter-
lässt, was dessen konkreter Wahrnehmung zuwiderläuft. Dazu gehört neben den Pflichten
zur Anwesenheit, zu sorgsamem Umgang mit dienstlich anvertrauten Sachgütern und
einer gewissenhaften Dienstleistung vor allem die Verpflichtung zur Loyalität gegenüber
der Rechtsordnung (vgl. Urteil vom 31. Juli 1996 - BVerwG 2 WD 21.96 - m.w.N.
).
- 15 -
Im Hinblick auf Anschuldigungspunkt 1 belastet es den Soldaten, dass er Alkohol trank,
als er sich im Bereitschafts- und Sicherungsdienst befand und Postenführer war. Er trug
die gesamte Verantwortung für den Kontrollpunkt …, den mit 20-mm-Geschossen
aufmunitionierten Schützenpanzer und seine Besatzung, die drei Hauptgefreiten. Er trank
Alkohol, während er als einziger Wache hielt, die Mannschaftssoldaten schliefen und er
die Verantwortung für die Bordmaschinenkanone trug. Durch dieses Verhalten gefährdete
er nicht nur seine eigene, sondern auch die Sicherheit anderer Soldaten, insbesondere
der Panzerbesatzung. Die besonderen Bedingungen des Auslandseinsatzes im Kosovo,
wo Waffe und Munition ständig „am Manne” zu tragen sind, erfordern für einen Wachha-
benden eine besondere Zuverlässigkeit. Insbesondere ein Vorgesetzter muss sich der
Tragweite seiner Handlungen und Entscheidungen bewusst sein. Hierbei spricht gegen
den Soldaten, dass er noch gegen 18.30 Uhr durch seinen Zugführer bei der Befehlsaus-
gabe über das Alkoholverbot belehrt worden war und dass es sich bei dem von ihm ge-
nossenen Alkohol um eine nicht unerhebliche Menge handelte.
Der Senat hat immer wieder Anlass gehabt, auf die Bedeutung des Wachdienstes für die
Einsatzbereitschaft der Truppe sowie für die Sicherheit von Menschen und Material hin-
zuweisen und hat eine Wachverfehlung als schwerwiegendes Dienstvergehen angese-
hen, das durchaus auch die Herabsetzung im Dienstgrad gebieten kann. Allerdings ist der
Senat nicht von der Degradierung als Regelmaßnahme ausgegangen (vgl. Urteil vom
27. Juni 1984 - BVerwG 2 WD 11.84 -). Der Senat hat zwar diese Maßnahme in einer
Reihe derartiger Fälle verhängt; in diesen bildeten aber entweder gewichtige andere
Pflichtverletzungen zusammen mit der Wachverfehlung das Dienstvergehen (Urteile vom
16. Januar 1968 - BVerwG 1 WD 48.66 -, vom 5. November 1968 - BVerwG 1 WD 28.68 -
und vom 26. November 1981 - BVerwG 2 WD 67.80 -), oder aber dieses erhielt sein be-
sonderes Gewicht durch die Beteiligung ebenfalls im Wachdienst stehender Untergebener
(Urteile vom 14. März 1967 - BVerwG 1 WD 1.67 - und vom 29. April 1982 - BVerwG
2 WD 9.82 -). Fehlten solche besonderen Erschwerungsgründe oder kam ihnen geringere
Bedeutung zu, ist regelmäßig auf eine Maßnahme unterhalb der Schwelle der Dienst-
gradherabsetzung erkannt worden (Urteile vom 28. Oktober 1969 - BVerwG 2 WD 45.69 -
vom 1. März 1972 - BVerwG 2 WD 39.71 -, vom 19. Februar 1975 - BVerwG 2 WD 34.74 -
und vom 2. Dezember 1976 - BVerwG 2 WD 52.76 -).
Da vorliegend besondere Erschwerungsgründe nicht vorliegen und es sich um eine erst-
malige Wachverfehlung des Soldaten handelt, ist noch nicht die Dienstgradherabsetzung,
sondern ein Beförderungsverbot als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen ange-
zeigt (vgl. Urteil vom 27. Juni 1984 - BVerwG 2 WD 11.84 -).
- 16 -
Bezüglich des Fahrens des Dienstkraftfahrzeuges „Wolf” unter Alkoholeinfluss (Anschul-
digungspunkt 2) belastet es den Soldaten, dass er zugleich dem ihm durch Oberfeldwebel
S. erteilten Auftrag zuwider handelte, in das Feldlager O. 2 zu fahren. Da er auf direktem
Wege in das Lager hätte zurückfahren müssen, war seine Runde durch O. eine
Umwegfahrt.
In Anschuldigungspunkt 3 schließlich spricht gegen den Soldaten seine Flucht, die die
verfolgende Feldjägerstreife nur durch Abschneiden des Weges und durch Stellen mit
vorgehaltener Waffe beenden konnte.
b) Maß der Schuld
Der Soldat handelte bei seinen Verfehlungen nach den getroffenen Feststellungen vor-
sätzlich. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass er zum Zeitpunkt des Dienstvergehens in
seiner Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB eingeschränkt oder gar im Sinne des § 20
StGB schuldunfähig war, sind nicht ersichtlich. Der Soldat hat erklärt, nicht merklich alko-
holisiert gewesen zu sein und sich noch „fit” gefühlt zu haben. Der von den Feldjägern
durchgeführte Atemalkoholtest ergab nach deren Angaben einen Atemalkoholwert von
über 0,8 Promille. Aus dem Gesamtverhalten und den Einlassungen des Soldaten vor
dem Senat ergibt sich, dass er fähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen und nach
dieser Einsicht zu handeln.
Milderungsgründe in den Umständen der Tat sind nach der ständigen Rechtsprechung
des Senats (vgl. Urteile vom 9. März 1995 - BVerwG 2 WD 1.95 -
NZWehrr 1995, 61> m.w.N., vom 24. Januar 1996 - BVerwG 2 WD 26.95 -
1996, 126>, vom 18. Juni 1996 - BVerwG 2 WD 10.96 -
Buchholz 235.0 § 34 WDO Nr. 15 = NVwZ-RR 1997, 238> m.w.N., vom 18. März 1997
- BVerwG 2 WD 29.95 -
NZWehrr 1997, 21>, vom 17. Oktober 2002 - BVerwG 2 WD 14.02 - und vom 13. März
2003 - BVerwG 1 WD 4.03 -) dann gegeben, wenn die Situation, in der der Soldat versagt
hat, von so außergewöhnlichen Besonderheiten gekennzeichnet war, dass ein an norma-
len Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet und daher auch nicht vorausge-
setzt werden konnte. Als solche Besonderheiten sind z.B. ein Handeln unter schockartig
ausgelöstem psychischen Zwang oder unter Umständen anerkannt worden, die es als
unbedachte, im Grunde persönlichkeitsfremde Augeblickstat eines ansonsten tadelfreien
und im Dienst bewährten Soldaten erscheinen lassen, ein Handeln in einer körperlichen
oder seelischen Ausnahmesituation (vgl. Urteile vom 15. Oktober 1986 - BVerwG 2 WD
- 17 -
30.86 -, vom 14. November 1996 - BVerwG 2 WD 31.96 -
Buchholz 235.0 § 34 WDO Nr. 22> und vom 1. September 1997 - BVerwG 2 WD 13.97 -
) oder
der Umstand, dass sich der Soldat bei seinem Fehlverhalten unverschuldet einer außer-
gewöhnlichen situationsgebundenen Erschwernis bei der Erfüllung eines dienstlichen Auf-
trages gegenübersah (vgl. dazu u.a. Urteile vom 28. Januar 1999 - BVerwG 2 WD 17.98 -
und vom 6. Mai 2003 - BVerwG
2 WD 29.02 - ).
In den Anschuldigungspunkten 1 und 2 waren für den Senat zwar keine Anhaltspunkte für
eine unbedachte persönlichkeitsfremde Augenblickstat erkennbar, da der Soldat sich zu
dem Alkoholgenuss am Kontrollpunkt … nicht in einem Zustand entschied, in dem er
- spontan und kopflos - die rechtlichen und tatsächlichen Folgen seines Verhaltens nicht
bedachte. Der Becher musste mehrfach gefüllt und die Getränke gemischt werden. Auch
die Fahrt unter Alkoholeinfluss nach Verlassen des Kontrollpunktes erfolgte nicht spontan,
denn der Soldat versuchte zunächst, seine Ablösung durch Oberfeldwebel S. abzulehnen
und das Führen des Dienstwagens „Wolf” zu vermeiden. Andererseits gelangte der Senat
zu der Überzeugung, dass sich der Soldat - im Hinblick auf die Anschuldigungspunkte 1
und 2 - damals unverschuldet einer außergewöhnlichen situationsgebundenen Erschwer-
nis bei der Erfüllung seines dienstlichen Auftrages gegenübersah.
Diese für den Soldaten schwierige Situation im Auslandseinsatz, die durch außerordentli-
che Belastungen seiner Einheit, das fehlende Vertrauensverhältnis zu seinem Zugführer,
der nach Aussage des Soldaten häufig nicht präsent war, sowie durch eine persönliche
Überforderung des Soldaten gekennzeichnet war, war zu seinen Gunsten tatmildernd zu
berücksichtigen. Nach der glaubhaften Einlassung des Soldaten stellte sich das Span-
nungsfeld, in welchem er sich befand, aus seiner Sicht im Wesentlichen wie folgt dar:
Zum Zeitpunkt der Taten war die Grenze seiner physischen und psychischen Belastbar-
keit überschritten. Dies beruhte zum einen auf seiner dienstlichen Überforderung. Dem
48-stündigen Bereitschaftsdienst, der am frühen Abend des 24. Mai 2000 begann, ging
unmittelbar ein 72-Stunden-Wachdienst voraus, in welchem der Soldat als Patrouillenfüh-
rer eingesetzt war, ferner gab es im April/Mai 2000, also gegen Ende seines Auslands-
aufenthaltes, viele Aufträge, die dem Soldaten, wie er sich vor dem Senat ausdrückte,
„über den Kopf gewachsen” waren, außerdem hatte sein Zug keine Auslandserfahrung.
Schließlich übernahm der Soldat für den erkrankten Oberfeldwebel S. dessen Funktion
als Gruppenführer. Nach den Feststellungen des Truppendienstgerichts war er der am
meisten belastete Angehörige des ... Zuges, weil ihm ständig Zusatzaufgaben, wie z.B.
- 18 -
die Vollzähligkeitsüberprüfung oder die Überprüfung nach § 78 BHO, übertragen wurden
- Aufgaben, die dem Zugführer obliegen -, aber auch, weil er immer wieder von sich aus
besondere Aufgaben übernahm, wie etwa die Technische Material- oder die Munitions-
überprüfung. Wie die Truppendienstkammer festgestellt hat, hatte sie aufgrund der Be-
weisaufnahme den Eindruck gewonnen, dass es den Vorgesetzten mitunter sehr recht
war, wenn der Soldat, der gute Leistungen erbrachte und auf den man sich verlassen
konnte, einen Auftrag übernahm, und dass diese es deshalb und aus einer gewissen Be-
quemlichkeit heraus unterließen, die anfallenden Arbeiten im Sinne der Fürsorge gleich-
mäßig auf alle Schultern zu verteilen. Zum anderen hatte der Soldat offensichtlich keine
genügende Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen und abzuschalten sowie die ihn beschäfti-
genden Eindrücke zu verarbeiten. Wie er vor dem Senat glaubhaft ausgesagt hat, war vor
allem gegen Ende des Auslandseinsatzes die Grenze seiner Belastungsfähigkeit über-
schritten; er habe den Stress nicht mehr beherrschen können und sich selbst nicht mehr
hinreichend unter Kontrolle gehabt. Sein Zugführer und sein stellvertretender Zugführer
hätten ihn mit seinen Problemen allein gelassen, insbesondere sei er mit dem Führungs-
stil seines Zugführers nicht zurechtgekommen. Nachdem der von ihm sehr geschätzte
Oberfeldwebel S. aus gesundheitlichen Gründen nach Deutschland zurückgekehrt sei,
habe ihm eine Person des Vertrauens gefehlt, bei der er mit seinen Problemen hätte Ge-
hör finden können. Der Senat hat keine Anhaltspunkte, aus denen sich insoweit Zweifel
an der inhaltlichen Richtigkeit dieser Einlassung ergeben könnten, feststellen können.
Insgesamt hat daher der Senat dem Soldaten bezüglich seines Fehlverhaltens in den An-
schuldigungspunkten 1 und 2 einen Tatmilderungsgrund zuerkannt.
Im Hinblick auf das pflichtwidrige Verhalten des Soldaten gegenüber den Feldjägern (An-
schuldigungspunkt 3) hat der Senat die Voraussetzungen des Tatmilderungsgrundes ei-
ner „unbedachten, persönlichkeitsfremden Augenblickstat eines ansonsten tadelfreien
und im Dienst bewährten Soldaten” als erfüllt angesehen.
Nach der Rechtsprechung des Senats beurteilt sich das Vorliegen einer Augenblickstat
nicht in erster Linie danach, in welchen zeitlichen Grenzen der Handlungsablauf erfolgt
ist. Sie ist vielmehr dann gegeben, wenn der Entschluss zum Tun oder Unterlassen nicht
geplant oder wohl überlegt, sondern spontan und aus den Umständen eines Augenblicks
heraus zustande gekommen ist. Die jeweilige Zeitspanne der Verwirklichung eines Tat-
entschlusses ist von der Situation des Einzelfalles abhängig und lässt als solche noch
keinen sicheren Rückschluss darauf zu, ob das Verhalten spontan oder geplant bzw. vor-
bereitet war (vgl. Urteil vom 19. September 2001 - BVerwG 2 WD 9.01 -
- 19 -
§ 10 SG Nr. 48 = NVwZ-RR 2002, 514). Entscheidend ist insoweit, ob der Soldat das
Dienstvergehen in einem Zustand begangen hat, in dem er die rechtlichen und tatsächli-
chen Folgen seines Verhaltens nicht bedacht hat, wozu ein gewisses Maß an Spontanei-
tät, Kopflosigkeit oder Unüberlegtheit gehört. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
Der Soldat reagierte vorliegend auf die Aufforderung des Feldjägerstreifenführers, rechts
an die Seite zu fahren und den Motor abzustellen, mit den Worten „Sicher nicht!”, gab Gas
und fuhr davon. Sein Fehlverhalten war auf einen relativ kurzen Augenblick beschränkt.
Der Senat bewertet dieses Verhalten als eine spontane Reaktion, die weder vorbereitet
noch geplant war. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Soldat bisher noch nie wegen
ähnlicher Vorkommnisse negativ in Erscheinung getreten war und aus seinem Verhalten
nicht auf eine für ihn wesenseigentümliche Handlungsweise geschlossen werden kann.
Dagegen sind konkrete Anhaltspunkte für ein den Soldaten teilweise entlastendes Mitver-
schulden von Vorgesetzten - etwa im Hinblick auf eine nicht hinreichende Wahrnehmung
der Dienstaufsicht (vgl. dazu Urteile vom 19. September 2001 - BVerwG 2 WD 9.01 -
, vom 17. Oktober 2002 - BVerwG 2 WD 14.02 -
und vom 13. März 2003
- BVerwG 2 WD 4.03 -) - nicht erkennbar. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass
die Vorgesetzten ihre Dienstaufsicht allzu locker gehandhabt haben und hierdurch das
Fehlverhalten des Soldaten objektiv erleichtert wurde. Dies vermindert jedoch nicht die
Schuld des Soldaten. Denn er selbst - immerhin im Vorgesetztendienstgrad eines Stabs-
unteroffiziers - hat sich immer wieder zur Übernahme von Diensten angeboten, wodurch
seinen Vorgesetzten, die angesichts der besonderen Umstände des Auslandseinsatzes
selbst gefordert waren, der Blick für die Grenzen der nervlichen Belastung und Anspan-
nung des Soldaten erschwert war, sodass für sie nicht ohne weiteres ersichtlich war, ob
ein hilfreiches Eingreifen geboten war. Auch hat sich der Soldat zu keinem Zeitpunkt hilfe-
suchend an den Kompaniechef oder den Zugführer bzw. stellvertretenden Zugführer oder
den Truppenarzt gewandt. Dass er solche Möglichkeiten nicht wahrnahm, sieht der Soldat
aus heutiger Sicht selbst als Fehler an.
c) Auswirkungen
Den Soldaten belastet, dass er wegen seiner Tat aus der schon geplanten Feldwebelaus-
bildung herausgelöst werden musste, der Dienstherr also Änderungen in der Personalpla-
nung treffen musste. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass sich der Sachverhalt
„wie ein Lauffeuer“ in der Einheit des Soldaten herumsprach. Zumindest im … Zuge wuss-
te jeder Soldat, auch die Mannschaftsdienstgrade, von dem Vorfall, wenngleich nicht un-
- 20 -
bedingt in seinem ganzen Ausmaße. Allerdings wurden die Angehörigen der Einheit nach
nur wenigen Tagen vom Nachkontingent abgelöst und kehrten in ihre unterschiedlichen
Heimatstandorte zurück. In der Stammeinheit des Soldaten ist das Dienstvergehen nur
denjenigen bekannt geworden, die dienstlich damit befasst oder die mit dem Soldaten
zusammen im Auslandseinsatz waren.
d) Persönlichkeit, bisherige Führung
Für den Soldaten sprechen in seiner Person eine ganze Reihe von Milderungsgründen.
So hat er sich bis zu dem Dienstvergehen in und außer Dienst völlig tadelfrei geführt und
ist weder straf- noch disziplinarrechtlich in Erscheinung getreten. Er hat nach Aussage
seiner Vorgesetzten gute bis sehr gute dienstliche Leistungen erbracht und stets eine
besonders hohe Einsatzbereitschaft gezeigt. Dies wird auch durch die ihm zuteil gewor-
denen Auszeichnungen, insbesondere die beiden förmlichen Anerkennungen bestätigt,
wobei hervorzuheben ist, dass eine nach dem Dienstvergehen erteilt wurde. Auch im Ko-
sovo gehörte er zur Spitzengruppe der Unteroffiziere ohne Portepee seiner Einheit, im ...
Zuge war er nach Angaben des Zeugen Hauptfeldwebel F. einer der Besten. Nach den
glaubhaften Bekundungen des Leumundszeugen, Hauptmann L., vor dem Senat, ist der
Soldat auch nach seiner Rückkehr aus dem Auslandseinsatz der beste Stabsunteroffizier
in seiner Stammeinheit und gehört zur Spitze aller Unteroffiziere ohne Portepee des Ba-
taillons. Das auf ihm lastende gerichtliche Disziplinarverfahren habe keinerlei Auswirkun-
gen auf seine dienstlichen Leistungen gehabt. Ganz bewusst habe er, der Zeuge L., dem
Soldaten trotz Kenntnis des schwebenden Disziplinarverfahrens eine förmliche Anerken-
nung wegen vorbildlicher Pflichterfüllung erteilt. Nach alledem ist von einer Nachbewäh-
rung des Soldaten, der zudem als guter Vorgesetzter beschrieben wird, auszugehen.
Ferner ist dem Soldaten zugute zu halten, dass er ein Geständnis abgelegt und Einsicht
und Reue über sein Fehlverhalten gezeigt hat. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der
Soldat bereits erhebliche Laufbahnnachteile durch seine Tat erlitten hat, da er aus der
Feldwebelausbildung ausgeplant werden musste.
Unter Abwägung aller für und gegen den Soldaten sprechenden Umstände, insbesondere
in Würdigung der Milderungsgründe in der Tat und des günstigen Persönlichkeits-, Füh-
rungs- und Leistungsbildes des Soldaten - auch seiner Nachbewährung - hielt der Senat
die Kürzung der Dienstbezüge des Soldaten um ein Zehntel auf die Dauer von zehn Mo-
naten für die angemessene Ahndung des Dienstvergehens.
- 21 -
4. Da die Berufung des Soldaten erfolgreich war, waren die Kosten des Berufungsverfah-
rens gemäß § 139 Abs. 1 Satz 1 WDO und die dem Soldaten darin erwachsenen notwen-
digen Auslagen nach § 140 Abs. 4 WDO dem Bund aufzuerlegen.
Prof. Dr. Pietzner Prof. Dr. Widmaier Dr. Deiseroth