Urteil des BVerwG vom 19.07.2013

Mangel des Verfahrens, Soldat, Disziplinarverfahren, Beschleunigungsgebot

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 WD 34.12
TDG S 5 VL 20/11
In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren
g e g e n
Herrn Oberstarzt a.D. Dr. …,
…,
…,
…,
- Verteidiger:
Rechtsanwalt …
…,
… -
hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. von Heimburg,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Burmeister und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Eppelt
am 19. Juli 2013 beschlossen:
Auf die Berufung des früheren Soldaten wird das Urteil der
5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd vom 17. April
2012 aufgehoben.
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Die Sache wird zur nochmaligen Verhandlung und Ent-
scheidung an eine andere Kammer des Truppendienstge-
richts Süd zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfah-
rens und die Erstattung der dem Soldaten hierin erwach-
senen notwendigen Auslagen bleibt der Schlussentschei-
dung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der 1950 geborene frühere Soldat war seit September 1990 Berufssoldat und
zuletzt im September 1999 zum Oberstarzt befördert worden. Mit Ablauf des
Juli 2009 wurde er wegen Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand ver-
setzt.
II
1. Nach Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens mit Verfügung des
Bundesministers der Verteidigung vom 9. August 2010 wurde der frühere Sol-
dat auf der Grundlage der Anschuldigungsschrift der Wehrdisziplinaranwalt-
schaft vom 20. Juli 2011 aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 17. April
2012 durch das am selben Tage verkündete Urteil der 5. Kammer des Trup-
pendienstgerichts Süd wegen eines Dienstvergehens in den Dienstgrad eines
Oberfeldarztes a.D. herabgesetzt. Das schriftliche Urteil wurde mit Gründen am
6. Juni 2012 zu den Akten gebracht.
Gegen das dem früheren Soldaten am 8. Juni 2012 zugestellte Urteil hat er mit
am 6. Juli 2012 beim Truppendienstgericht Süd eingegangenem Schriftsatz in
vollem Umfang Berufung eingelegt mit dem Ziel eines Freispruchs. Die Beru-
fungsbegründung greift die tatsächlichen Feststellungen des Truppendienstge-
richts und deren rechtliche Würdigung als Dienstpflichtverletzungen im Einzel-
nen an.
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2. Unter dem 28. Mai 2013 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden,
dass das am 17. April 2012 verkündete Urteil erst am 6. Juni 2012 mit Gründen
zu den Akten gelangt war. Sie haben Gelegenheit erhalten, sich zu einer Auf-
hebung des Urteils und einer Zurückverweisung der Sache wegen eines schwe-
ren Verfahrensmangels zu äußern.
Der frühere Soldat tritt einer solchen Entscheidung ausdrücklich nicht entgegen.
Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hat sich gegen eine Zurückverweisung aus-
gesprochen. Zwar liege ein Verstoß gegen § 275 Abs. 1 StPO vor, der auch
einen schweren Mangel des Verfahrens begründen möge; dies verlange jedoch
nicht zwingend die Zurückverweisung der Sache, weil selbst im Strafverfahren
der Fristwahrung Bedeutung nur bei Revisionen (§ 338 Nr. 7 Alt. 2 StPO) zu-
käme. Der Senat habe in ständiger Rechtsprechung unter Berufung auf das
Beschleunigungsgebot entschieden, dass sowohl bei einer maßnahmebe-
schränkten als auch bei einer vollumfänglichen Berufung kein Grund bestehe,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung
zurückzuverweisen. Da der Soldat in vollem Umfang Berufung eingelegt habe,
habe der Senat auch alle Möglichkeiten, das erstinstanzliche Urteil inhaltlich zu
überprüfen.
Auf ein entsprechendes Auskunftsersuchen hat der Präsident des Truppen-
dienstgerichts Süd mitgeteilt, dass der für das Verfahren der Vorinstanz zustän-
dige und zwischenzeitlich in den Ruhestand getretene Vorsitzende Richter am
Truppendienstgericht zwischen dem 17. April 2012 und dem 22. Mai 2012 we-
der arbeitsunfähig erkrankt noch urlaubsbedingt abwesend gewesen sei. Die
Beteiligten hatten auch hierzu Gelegenheit zur Stellungnahme.
III
Die zulässige Berufung (§ 115 Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2
WDO) führt zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Kammer des
Truppendienstgerichts Süd zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung,
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weil ein schwerer Mangel des Verfahrens vorliegt (§ 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO).
Die Entscheidung ergeht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung (§ 120
Abs. 1 WDO) in der Besetzung mit drei Richtern (§ 80 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2
WDO). Den Beteiligten ist gemäß § 120 Abs. 2 WDO vor der Entscheidung Ge-
legenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
1. Da das Rechtsmittel in vollem Umfang eingelegt worden ist, hat der Senat
uneingeschränkt zu prüfen, ob das Verfahren Mängel im Sinne des § 120
Abs. 1 Nr. 2 Halbs. 2 Alt. 2 WDO aufweist; dies ist der Fall.
a) Das in der Sache des früheren Soldaten am 17. April 2012 verkündete Urteil
des Truppendienstgerichts Süd gelangte am 6. Juni 2012 zu dessen Ge-
schäftsstelle, sodass gegen den gemäß § 91 WDO entsprechend anwendbaren
§ 275 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 StPO verstoßen wurde; er sieht vor, dass das mit
Gründen versehene Urteil spätestens fünf Wochen nach seiner Verkündung zu
den Akten zu bringen ist. Umstände gemäß § 275 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 StPO,
die den Lauf einer längeren Frist ausgelöst hätten, liegen nicht vor. Umstände
im Sinne des § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO, die ausnahmsweise ein Überschreiten
der Frist zulassen würden, sind nicht ersichtlich. Insbesondere war der Vorsit-
zende Richter der Truppendienstkammer als einziger Berufsrichter des Kolle-
gialgremiums in den fünf Wochen nach der Verkündung des Urteils nicht
arbeitsunfähig erkrankt (vgl. Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 56. Auflage
2013, § 275 Rn. 14 m.w.N.). Auf eine Erkrankung von Kanzlei- oder Geschäfts-
stellenmitarbeitern kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Es liegt in der
Verantwortung der Gerichtsverwaltung, erforderlichenfalls für Vertretung zu
sorgen. Durch den Ausfall von Schreibkräften bedingte Fristüberschreitungen
sind daher nicht unabwendbar.
b) Der Verfahrensmangel ist schwer im Sinne des § 120 Abs. 1 Nr. 2 Halbs. 2
Alt. 2 WDO (Urteil vom 16. März 2004 - BVerwG 2 WD 3.04 - BVerwGE 120,
193 <195 f.> = Buchholz 235.01 § 93 WDO 2002 Nr. 1), weil gegen eine ge-
setzlich zwingende Regelung verstoßen wurde. Sie ist von der Erwägung ge-
tragen, dass ein so spät nach der Verkündung abgesetztes Urteil keine Gewähr
mehr für eine Übereinstimmung seiner Gründe mit dem Ergebnis der Hauptver-
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handlung und der Beratung bietet (Urteil vom 31. März 1978 - BVerwG 2 WD
50.77 - BVerwGE 63, 23 <24>).
2. Trotz des schweren Verfahrensmangels ist der Senat nicht gezwungen, das
Urteil des Truppendienstgerichts aufzuheben und die Sache an eine andere
Kammer zurückzuverweisen (Urteil vom 16. März 2004 a.a.O.). Er hat vielmehr
gemäß § 120 Abs. 1 WDO nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu ent-
scheiden. Der Senat übt das Ermessen zugunsten einer Zurückverweisung an
das Truppendienstgericht aus.
Abzuwägen ist auf der einen Seite das - von diesem auch betonte und vom Ge-
setzgeber in § 17 Abs. 1 WDO als Beschleunigungsgebot normierte - Interesse
des Dienstherrn und grundsätzlich auch des früheren Soldaten an einer das
gerichtliche Disziplinarverfahren zeitnah endgültig abschließenden Entschei-
dung und auf der anderen Seite das Recht des früheren Soldaten darauf, dass
über die vom Bund beantragte Disziplinarmaßnahme von den Wehrdienstge-
richten unter Beachtung der gesetzlichen, auch seinem Interesse dienenden
Verfahrensregelungen befunden wird.
a) Zwar hat der frühere Soldat in vollem Umfang Berufung eingelegt, sodass
der Senat eigene Tatsachen- und Schuldfeststellungen treffen könnte. Dadurch
unterscheidet sich das vorliegende disziplinargerichtliche Berufungsverfahren
von einem strafgerichtlichen Revisionsverfahren, bei dem der Verstoß gegen
§ 275 Abs. 1 StPO gemäß § 338 Nr. 7 Alt. 2 StPO deshalb als absoluter Revi-
sionsgrund ausgewiesen ist, weil das Revisionsgericht ansonsten auf der
Grundlage seiner Prüfung entzogener Tat- und Schuldfeststellungen eine Ent-
scheidung treffen müsste, obwohl sie wegen der verfristeten Niederlegung der
Urteilsgründe dubios erscheinen (Urteil vom 31. März 1978 a.a.O.). Da in der
WDO keine Revision vorgesehen ist, konnte der Gesetzgeber für einen Verstoß
gegen § 275 Abs. 1 StPO keine dem § 338 Nr. 7 StPO vergleichbare Regelung
treffen. Im Übrigen würde das Fehlen einer solchen Regelung jedoch lediglich
dagegensprechen, bei einem solchen Verstoß im disziplinargerichtlichen Beru-
fungsverfahren von einer Zurückverweisungspflicht des Rechtsmittelgerichts
auszugehen; es würde nichts darüber aussagen, von welchen Erwägungen sich
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das Rechtsmittelgericht bei seiner zu treffenden Ermessensentscheidung leiten
lassen muss. Dass gemäß § 328 StPO im strafgerichtlichen Berufungsverfah-
ren keine generelle Zurückverweisungsmöglichkeit bei schweren Verfahrens-
fehlern mehr besteht (so Meyer-Goßner a.a.O. § 328 Rn. 4), muss hier unbe-
rücksichtigt bleiben, da mit § 120 WDO für das gerichtliche Wehrdisziplinarver-
fahren eine spezielle Regelung gegeben ist.
b) Allein der Umstand, dass der Senat bei einer uneingeschränkt eingelegten
Berufung eigene Tat- und Schuldfeststellungen zu treffen hat (vgl. zu § 275
Abs. 1 StPO: Urteile vom 31. März 1978 a.a.O., vom 23. November 1989
- BVerwG 2 WD 50.86 - UA S. 93
218>, vom 8. Dezember 2010 - BVerwG 2 WD 24.09 - BVerwGE 138, 263 =
Buchholz 449.7 § 27 SBG Nr. 4 und vom 16. März 2004 a.a.O. S. 196), kann
die Ermessensausübung nicht dahingehend bestimmen, von einer Zurückver-
weisung (regelmäßig) abzusehen (anders noch: Urteile vom 23. November
1989 - BVerwG 2 WD 50.86 - UA S. 93, vom 3. Juli 2001 - BVerwG 2 WD
24.01 - UA S. 10 und vom 16. März 2004 - BVerwG 2 WD 3.04 - BVerwGE 120,
193 = Buchholz 235.01 § 93 WDO 2002 Nr. 1). Dies hätte zur Folge, dass Män-
gel des erstinstanzlichen Verfahrens weitgehend bedeutungslos würden. Da-
durch drohte nicht nur, dass zwingende gesetzliche Vorgaben - wie die des
§ 275 Abs. 1 StPO, aber auch des Art. 101 Abs. 1 GG (vgl. Beschluss vom
19. März 2013 - BVerwG 2 WD 13.12 - juris) - wie schlichte Ordnungsvorschrif-
ten behandelt würden; vor allem widerspräche dies der in § 120 Abs. 1, § 121
Abs. 2 WDO zum Ausdruck kommenden legislativen Wertung, dass das erstin-
stanzliche Verfahren im Rechtsmittelverfahren auch auf Verfahrensfehler zu
überprüfen ist und diese von solchem Gewicht sein können, dass eine Zurück-
verweisung angezeigt ist. Sowohl der angeschuldigte Soldat wie auch die
Wehrdisziplinaranwaltschaft haben Anspruch darauf, dass bereits im ersten
Rechtszug nach Maßgabe der prozessrechtlichen Vorschriften nicht nur alle
erforderlichen Maßnahmen zur hinreichenden Aufklärung der Sach- und
Rechtslage ordnungsgemäß getroffen und die erhobenen Beweise nachvoll-
ziehbar gewürdigt werden, sondern auch, dass das Ergebnis der Beweiswürdi-
gung in den Urteilsgründen niedergelegt wird. Nur so werden die Beteiligten in
die Lage versetzt, verantwortlich darüber zu befinden, ob Berufung eingelegt
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werden soll (vgl. bereits Beschluss vom 27. März 2012 - BVerwG 2 WD 16.11 -
Buchholz 450.2 § 84 WDO 2002 Nr. 6 Rn. 36). Bei einer Überschreitung der
Frist des § 275 Abs. 1 StPO ist Letzteres nach der Vermutung des Gesetzge-
bers nicht mehr gewährleistet. Als potenzieller Berufungsführer hat der Soldat
Anspruch darauf, dass der mögliche Gegenstand seines Rechtsmittels in den
Entscheidungsgründen das Ergebnis der Beratung dokumentiert, damit er auf
dieser Grundlage über die Einlegung eines Rechtsmittels entscheiden kann.
Dies kann der Senat auch bei einer uneingeschränkt eingelegten Berufung für
die Entscheidung der Vorinstanz nicht leisten.
c) Die Dauer des disziplinargerichtlichen Verfahrens ist allerdings auch bei ei-
nem Gesetzesverstoß der vorliegenden Art grundsätzlich geeignet, die gericht-
liche Abwägungsentscheidung dahingehend zu beeinflussen, von einer Zurück-
verweisung abzusehen. Das Beschleunigungsgebot ist nicht nur in § 17 Abs. 1
WDO einfachgesetzlich verankert. Der Gesetzgeber hat dort sowohl dem Inte-
resse des Dienstherrn an einer möglichst zeitnahen und damit wirkungsvollen
disziplinarischen Ahndung von Dienstvergehen als auch dem Interesse des
Soldaten an einer zügigen und für ihn somit möglichst schonenden Klärung der
gegen ihn erhobenen Anschuldigung Rechnung getragen und das Gebot effek-
tiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG und aus dem objektiv-rechtlichen
Rechtsstaatsgebot konkretisiert. Auch dieser abwägungsrelevante Aspekt ist
damit verfassungsrechtlich verankert und von hoher Bedeutung (Beschluss vom
19. März 2013 a.a.O. Rn. 25).
d) Vorliegend führt eine Zurückverweisung an die Vorinstanz sowohl wegen des
konkreten Gewichts des Gesetzesverstoßes als auch wegen der im Raum ste-
henden Disziplinarmaßnahme aber nicht zu einer unangemessenen Verzöge-
rung einer Sachentscheidung. Dies gilt umso mehr, als der durch das gerichtli-
che Disziplinarverfahren belastete frühere Soldat keine Einwände gegen eine
Aufhebung und Zurückverweisung geltend gemacht hat (vgl. Urteil vom 19. Ja-
nuar 2012 - BVerwG 2 WD 5.11 - Buchholz 450.2 § 121 WDO 2002 Nr. 2
Rn. 23).
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Die Überschreitung der gemäß § 275 Abs. 1 StPO zu wahrenden Frist von fünf
Wochen um mehr als zwei Wochen ist gravierend und dieser Gesetzesverstoß
auch keiner Heilung im Berufungsverfahren zugänglich. Im Raum steht darüber
hinaus eine Dienstgradherabsetzung, die für den im Ruhestand befindlichen
Soldaten eine dauerhafte Absenkung seiner Versorgungsbezüge bedeuten
würde. Bei einer derartig gravierenden Sanktion kommt der rechtsstaatlich ein-
wandfreien Durchführung des Verfahrens besondere Bedeutung zu.
3. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens und die Erstattung der
dem Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen bleibt der endgültigen
Entscheidung in dieser Sache vorbehalten, § 141 Abs. 1 und 2 WDO, wobei
das Truppendienstgericht dem Obsiegen des früheren Soldaten im Rechtsmit-
telverfahren Rechnung zu tragen hat.
Dr. von Heimburg
Dr. Burmeister
Dr. Eppelt
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