Urteil des BVerwG vom 29.09.2005

Soldat, Waffe, Pistole, Militärische Wache

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
Im Namen des Volkes
Urteil
BVerwG 2 WD 28.04
TDG N 5 VL 11/04
In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren
gegen
…,
…, …,
hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts in der nichtöffentlichen
Hauptverhandlung am 29. September 2005, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Widmaier als Vorsitzender,
Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Frentz,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Deiseroth
sowie
Oberstleutnant Patho,
Hauptfeldwebel Karafiat
als ehrenamtliche Richter,
Leitender Regierungsdirektor Sandbaumhüter
als Vertreter des Bundeswehrdisziplinaranwalts,
Rechtsanwalt …, …,
als Verteidiger,
Justizangestellte …
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Berufung des Soldaten wird das Urteil der 5. Kammer
des Truppendienstgerichts Nord vom 20. Oktober 2004 aufge-
hoben.
Der Soldat wird freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die dem Soldaten darin er-
wachsenen notwendigen Auslagen werden dem Bund auferlegt.
G r ü n d e :
I
Der 27 Jahre alte Soldat durchlief nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung
zum Fliesen-, Platten- und Mosaikleger, die er Ende August 1998 erfolgreich ab-
schloss. Mit Einberufungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes B. vom 8. Juli 1998
wurde er zum 1. September 1998 zum J…bataillon … in B. einberufen. Aufgrund der
danach erfolgten Bewerbung für den freiwilligen Dienst bei der Bundeswehr wurde er
am 18. Februar 1999 in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen. Seine
Dienstzeit wurde zunächst auf vier, später auf zwölf Jahre festgesetzt. Sie endet vor-
aussichtlich zum 31. August 2010.
Der Soldat wurde regelmäßig befördert, zuletzt mit Wirkung vom 12. Juli 2002 zum
Feldwebel.
Nach der Grundausbildung verblieb der Soldat beim J…bataillon …, wo er zunächst
als Jäger und Kraftfahrer, dann als Jägerunteroffizier eingesetzt war. Vom 2. März
bis 28. Mai 1999 nahm er am Unteroffizierlehrgang 1 bei der H…schule … in D. mit
der Abschlussnote „befriedigend“ teil und vom 7. August bis 8. Oktober 2000 am Un-
teroffizierlehrgang 2 Teil A bei der I…schule in H. mit der Abschlussnote „gut“. In der
Zeit vom 9. bis 27. Oktober 2000 besuchte er den Unteroffizierlehrgang 2 Teil B bei
der I…schule in H. Zum 1. April 2002 wurde er zur SichKp W…Btl … auf den Dienst-
posten Jägerfeldwebel und Gruppenführer versetzt.
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Der Soldat wurde einmal, am 30. Juli 2001, planmäßig beurteilt. In der Leistungsbe-
urteilung erhielt er einmal die Wertung Stufe „7“ (Einsatzbereitschaft), fünfmal die
Wertung Stufe „6“ (Eigenständigkeit, Belastbarkeit, Durchsetzungsverhalten, prakti-
sches Können, organisatorisches Können), viermal die Wertung Stufe „5“ (Auffas-
sungsgabe, Ausdruck, Zusammenarbeit, Dienstaufsicht) sowie einmal die Wertung
Stufe „4“ (Fürsorgeverhalten). In der freien Beschreibung wird er u.a. als pflichtbe-
wusster, offener und gesprächsbereiter Unteroffizier bezeichnet, der sich durch bei-
spielhafte Einsatzbereitschaft auszeichnet. In der Sonderbeurteilung vom 4. Februar
2005 wurden die Leistungen des Soldaten in den Einzelmerkmalen zweimal mit der
Stufe „7“, elfmal mit der Stufe „6“ und dreimal mit der Stufe „5“ bewertet. Unter „Her-
ausragende charakterliche Merkmale, Kameradschaft, berufliches Selbstverständnis,
Bewährung im Einsatz und ergänzende Aussagen“ wird ausgeführt:
„Das herausragende charakterliche Merkmal an Fw … ist seine Geradheit.
In direkter und unverblümter Sprache sagt er, was er denkt und steht ohne
Abstriche für dessen Konsequenzen ein. Dabei ist er kein ‚Leisetreter’. Er
führt gerne und nimmt seinen Führungsanspruch unmissverständlich
wahr. Er hat einen guten Blick dafür, wie mit gegebenen Mitteln das best-
möglichste Ergebnis erzielt werden kann. Fw … führt selbstverständlich
von vorne und teilt uneingeschränkt die Härten des Dienstes mit seinen
Männern. Er liebt seinen Beruf und ist Soldat aus Leidenschaft. Im Kreis
der Kameraden ist Fw … in höchstem Maße anerkannt. Seine Meinung
wird gehört und seine Offen- und Vertrauenswürdigkeit, aber auch ein
sehr humorvolles Wesen machen ihn neben einem hervorragenden Infan-
teriegruppenführer zu einem Kameraden, mit dem die Zusammenarbeit
großen Spaß macht.“
Der Disziplinarvorgesetzte des Soldaten, Hauptmann I., sagte als Leumundszeuge
aus, der Soldat sei ein Leistungsträger unter den Feldwebeln seiner Einheit. Der Sol-
dat habe auch während des Verlaufs des gerichtlichen Disziplinarverfahrens sehr
gute Leistungen erbracht. Der Soldat sei ein nicht immer bequemer Vorgesetzter, der
Disziplin einfordere, sich dabei aber korrekt verhalte.
Der Soldat ist berechtigt, das Leistungsabzeichen in Gold sowie die Schützenschnur
in Gold zu tragen. Er erhielt am 20. Dezember 2000 und 7. Juli 2005 jeweils eine
förmliche Anerkennung wegen vorbildlicher Pflichterfüllung. Der Auszug aus dem
Disziplinarbuch vom 10. Januar 2005 enthält keine Eintragung über eine Disziplinar-
maßnahme. Ausweislich der Auskunft aus dem Zentralregister vom 12. Januar 2005
ist der Soldat nicht vorbestraft.
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Der Soldat ist ledig. Er erhält Dienstbezüge aus der Besoldungsgruppe A 7,
3. Dienstalterstufe, in Höhe von 1.897,27 € brutto, von denen tatsächlich 1.568,54 €
ausgezahlt werden. Seine Vermögensverhältnisse hat der Soldat als geordnet be-
zeichnet.
II
In dem mit Verfügung des Befehlshabers im Wehrbereich III vom 29. Januar 2004
ordnungsgemäß eingeleiteten gerichtlichen Disziplinarverfahren legte der Wehrdis-
ziplinaranwalt dem Soldaten in seiner Anschuldigungsschrift vom 29. Juni 2004 fol-
gendes Verhalten als schuldhafte Verletzung seiner Dienstpflichten zur Last:
„Am 19. Februar 2003, gegen 15.00 Uhr, zielte der Soldat entgegen den
Bestimmungen der ZDv 3/15 Nr. 612 erster, zweiter und dritter Spiegel-
strich sowie Nr. 1301 Abs. 7, die ihm bekannt waren bzw. die er hätte
kennen können und müssen, in den … in M. mit einer ungeladenen Pisto-
le P 8 auf den Oberkörper des Obergefreiten John M. und äußerte hierbei
die Worte: ‚Sie sind doof. Sie sind tot!’ bzw. ‚Sie sind dumm!’ wobei er den
Abzug mehrfach betätigte.
oder:
Am 19. Februar 2003, gegen 15.00 Uhr, zielte der Soldat entgegen den
Bestimmungen der ZDv 3/15 Nr. 612 erster und zweiter Spiegelstrich, die
ihm bekannt waren bzw. die er hätte kennen können und müssen, in den
… in M. mit einer ungeladenen Pistole P 8 auf den Oberkörper des Ober-
gefreiten John M. und äußerte hierbei die Worte: ‚Sie sind doof. Sie sind
tot!’ bzw. ‚Sie sind dumm!’, wobei er den Zeigefinger seiner rechten Hand
ausgestreckt am Abzugsbügel hielt.“
Mit ergänzendem Schreiben vom 9. August 2004 führte der Wehrdisziplinaranwalt
aus, dass die in der Anschuldigungsschrift enthaltenen Handlungsalternativen als
Haupt- und Hilfsanschuldigung zu werten sind.
Die 5. Kammer des Truppendienstgerichts Nord hat den Soldaten mit Urteil vom
20. Oktober 2004 eines Dienstvergehens für schuldig befunden und ihn in den
Dienstgrad eines Hauptgefreiten herabgesetzt.
Zur rechtlichen Würdigung hat die Truppendienstkammer ausgeführt, der Soldat ha-
be vorsätzlich die ihm obliegenden Dienstpflichten verletzt, für seine Untergebenen
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zu sorgen (§ 10 Abs. 3 SG), seinen Vorgesetzten zu gehorchen und ihre Befehle
nach besten Kräften vollständig, gewissenhaft und unverzüglich auszuführen (§ 11
Abs. 1 Satz 1 und 2 SG), die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu
achten (§ 12 Satz 2 SG) sowie der Achtung und dem Vertrauen gerecht zu werden,
die sein Dienst als Soldat erfordere (§ 17 Abs. 2 Satz 1, 2. Alternative SG). Insge-
samt habe der Soldat ein Dienstvergehen (§ 18 Abs. 2 WDO) gemäß § 23 Abs. 1 SG
begangen.
Bezüglich der Maßnahmebemessung wird auf die Ausführungen der Truppendienst-
kammer auf S. 6 bis 8 des Urteils verwiesen.
Gegen das ihm am 29. Oktober 2004 zugestellte Urteil hat der Soldat durch Schrift-
satz seines Verteidigers vom 29. November 2004, bei der Truppendienstkammer und
den Wehrdienstsenaten des Bundesverwaltungsgerichts eingegangen am 29. No-
vember 2004, Berufung in vollem Umfang eingelegt mit dem Antrag, das Urteil der
5. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 20. Oktober 2004 aufzuheben und
den Soldaten freizusprechen.
Zur Begründung hat der Verteidiger im Wesentlichen vorgetragen:
Das Truppendienstgericht gelange maßgeblich aufgrund einer unzutreffenden Be-
weiswürdigung zu der Auffassung, der Soldat habe den ihm zur Last gelegten Sach-
verhalt begangen. Das Gericht führe aus, der Soldat sei auf den Wachsoldaten M.
zugetreten, habe die Pistole P 8 einmal gespannt, die Waffe aus kurzer Distanz auf
M. in Höhe des Brustbereiches gerichtet, mehrfach den Abzug getätigt und dabei
sinngemäß geäußert: „M. Sie sind doof, Sie sind tot.“ Zu seiner Auffassung gelange
das Gericht im Wesentlichen dadurch, dass es den Aussagen der Zeugen S. und K.
folge. Deren Aussagen seien indes nicht glaubhaft. Auch habe der Hauptbelastungs-
zeuge M., auf den die Waffe gerichtet gewesen sein soll, in der mündlichen Verhand-
lung vor dem Truppendienstgericht erklärt, sich an den Vorgang nicht mehr erinnern
zu können. Wenn schon der Hauptbelastungszeuge M., der doch immerhin Opfer
des fraglichen Vorfalls gewesen sein soll, sich nicht daran erinnern könne, stehe es
um den Wahrheitsgehalt der übrigen Aussagen nicht zum Besten. Der Zeuge S. ha-
be vor dem Truppendienstgericht geäußert, er habe keine Zweifel, dass die Waffe
auf den Zeugen M. gerichtet worden sei. Er habe allerdings ebenfalls ausgesagt,
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dass er gesehen habe, wie der Soldat einmal abgedrückt habe, obgleich er sich nicht
100-prozentig sicher sei. Der Zeuge K. habe demgegenüber angegeben, der Soldat
habe dem Zeugen M. frontal auf die Brust gezielt, wobei ca. ein bis zwei Meter Ab-
stand zwischen den Soldaten gewesen sei. Demgegenüber hätten die Zeugen F., M.
und G., die mit den genannten Zeugen in einer Linie angetreten gewesen seien, um
den Waffenempfang durchzuführen, ausgesagt, nicht bemerkt zu haben, dass der
Soldat seine Pistole auf den Zeugen M. gerichtet habe. Das Truppendienstgericht
unterstelle dem Soldaten, er habe den Abzug mehrfach getätigt, obgleich sich der
Zeuge M. daran überhaupt nicht habe erinnern können, und der Zeuge S. nur von
einem einmaligen Abdrücken gesprochen habe. Soweit das Gericht ausführe, von
einem Motiv gegen den Soldaten könne keine Rede sein, habe die Beweisaufnahme
das Gegenteil ergeben. Der Zeuge M. sei einige Tage zuvor durch den Soldaten
selbst bei einem Wachvergehen erwischt worden, wobei sich aufgrund spielerischen
Umgangs mit einer Waffe ein Schuss im Wachlokal gelöst habe. Der Soldat habe
diesen Vorfall selbstverständlich gemeldet; der Vorgang habe für den Zeugen M. dis-
ziplinarische Folgen gehabt. Der Zeuge M. habe vor dem Truppendienstgericht aus-
gesagt, dass ihn diese disziplinarische Ahndung seine bis zu diesem Zeitpunkt ur-
sprünglich geplante Laufbahn als Unteroffizieranwärter bzw. Feldwebel gekostet ha-
be. Der Zeuge K. habe - aus seinem Blickwinkel - ebenfalls Anlass gehabt, gegen
den Soldaten einen Groll zu hegen. Er sei nämlich, wie sich in der Beweisaufnahme
vor dem Truppendienstgericht herausgestellt habe, wegen einer nicht abgegebenen
Verlustmeldung für seine Handschuhe mit dem Soldaten aneinander geraten, da er
bei einem befohlenen Vollzähligkeitsappell wahrheitswidrig gemeldet habe, keine
Ausrüstung verloren zu haben, obgleich er in Wirklichkeit seine Handschuhe verloren
habe. Der Zeuge K. habe mit dieser Falschmeldung bezweckt, sich die Handschuhe
nach Rückkehr in den Standort auf dem „kurzen Dienstweg“ über einen befreundeten
Kameraden bei der Kleiderkammer zu „organisieren“, um auf diese Weise zu verhin-
dern, Schadensersatz für einen von ihm zu vertretenen Verlust zahlen zu müssen.
Die Zeugen M., S. und K. hätten untereinander einen engen persönlichen Kontakt
gehabt. Zweifel an der Glaubwürdigkeit der genannten Belastungszeugen ergäben
sich auch daraus, dass diese in ihrer ursprünglichen Aussage sowohl dem Soldaten
als auch Dritten gegenüber weitere angebliche Verfehlungen angelastet hätten, z.B.,
abgestandenes Wasser trinken zu müssen. Im Zuge der daraufhin durchgeführten
disziplinarischen Ermittlungen hätten sich diese Vorwürfe als unzutreffend herausge-
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stellt, sodass das Verfahren gegen den Soldaten und dritte Beteiligte eingestellt wor-
den sei. Es sei darauf hinzuweisen, dass erhebliche Zweifel an der Glaubhaftigkeit
der Aussagen insbesondere der Zeugen S. und K. bestünden, zumal aus deren Sicht
durchaus Ansatzpunkte dafür vorlägen, um hier gegen den Soldaten auszusagen.
Schließlich sei der Grundsatz „in dubio pro reo“ zu erwähnen. Könne ein Vorfall nicht
völlig aufgeklärt werden und verblieben trotz Anhörung der Zeugen Zweifel, könnten
diese nicht zu Lasten des Angeschuldigten gehen. Des weiteren werde mit der Beru-
fung höchst vorsorglich das Disziplinarmaß angegriffen. Selbst für den Fall, dass
auch im Wege einer erneuten Beweisaufnahme in einem Berufungsverfahren das
Berufungsgericht die Vorwürfe als erwiesen erachte, sei die durch das Truppen-
dienstgericht ausgeworfene Maßnahme nicht tat- und schuldangemessen. Insoweit
sei darauf hinzuweisen, dass in der mündlichen Verhandlung vor dem Truppen-
dienstgericht selbst die Vertreterin der Wehrdisziplinaranwaltschaft „lediglich“ bean-
tragt habe, den Soldaten zu einem Beförderungsverbot von 18 Monaten und einer
Kürzung seiner Dienstbezüge um 1/20 für einen befristeten Zeitraum zu verurteilen.
Demgegenüber habe das Truppendienstgericht den Soldaten zur Herabstufung in
den Dienstgrad eines Hauptgefreiten verurteilt. Ein derart gravierendes „Strafmaß“
sei für den Fall, dass die Vorwürfe als bewiesen anzusehen wären, in keiner Weise
gerechtfertigt. Der Soldat habe überdurchschnittliche gute dienstliche Beurteilungen
und zwei förmliche Anerkennungen wegen vorbildlicher Pflichterfüllung erhalten. Sein
Disziplinarvorgesetzter habe in der mündlichen Verhandlung vor dem Truppen-
dienstgericht ausgesagt, dass der Soldat weiterhin gute Leistungen erbringe und er
ihm im Übrigen den ihm zur Last gelegten Vorwurf nicht zutraue.
In der Berufungshauptverhandlung stellte der Verteidiger für den Fall, dass der Sol-
dat nicht freigesprochen würde, die folgenden „Hilfs-Beweisanträge“:
„1.
Ich benenne Herrn Oberfeldwebel D., S…kompanie W…bataillon …
als Zeugen dafür, dass die Wachübergabe des OvWA anlässlich
der M.-Wache zeitlich vor der Wachübergabe des Wachhabenden
bzw. der Wachsoldaten erfolgte und zu diesem Zeitpunkt die Pistole
P 8 des OvWA bereits teilgeladen war.
2.
Zum Beweis der Tatsache, dass StGefr d. R. Bernd S. die Aussage:
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‚Für mich haben schon zwei Unteroffiziere ihren Rock ausgezogen.’
bzw. HGefr Pierre K. die Aussage:
‚Wer einkaufen geht, muss auch bezahlen.’
getätigt haben, berufe ich mich auf das Zeugnis des Obergefreiten
G. und des Stabsunteroffiziers d. R. T.“
Der Vertreter des Bundeswehrdisziplinaranwalts führte hierzu aus, der Antrag zu Zif-
fer 1 könne „als wahr“ unterstellt werden, nicht dagegen der Antrag zu Ziffer 2.
III
1. Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft, ihre Förmlichkeiten sind gewahrt (§ 115
Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 WDO).
2. Das Rechtsmittel des Soldaten ist ausdrücklich und nach dem maßgeblichen In-
halt der Begründung in vollem Umfang eingelegt worden. Der Senat hat daher im
Rahmen der Anschuldigung (§ 107 Abs. 1 WDO i.V.m. § 123 Satz 3 WDO) eigene
Tat- und Schuldfeststellungen zu treffen, diese rechtlich zu würdigen und die sich
daraus ergebenden Folgerungen zu ziehen.
3. Die Berufung des Soldaten ist begründet.
Der Senat hat aufgrund der in der Berufungshauptverhandlung im Rahmen der Be-
weisaufnahme getroffenen Feststellungen, insbesondere bei der erforderlichen Ge-
samtwürdigung der Einlassung des Soldaten, der Aussagen der Zeugen Stabsgefrei-
ter d.R. Bernd S., Obergefreiter d.R. John M., Hauptgefreiter Pierre K. und Haupt-
mann Thomas I. sowie der gemäß § 123 Satz 1 WDO verlesenen Aussage des Zeu-
gen Obergefreiter d.R. Kevin G. und der zum Gegenstand der Berufungshauptver-
handlung gemachten Urkunden und Schriftstücke nicht die gemäß § 91 Abs. 1 WDO
i.V.m. § 261 StPO erforderliche Gewissheit gewinnen können, dass der Soldat das
ihm ihn der Anschuldigungsschrift vorgeworfene Fehlverhalten begangen hat. Weite-
re Beweismittel sind nicht ersichtlich. Demzufolge war der Soldat nach dem rechts-
staatlichen Grundsatz „in dubio pro reo“ freizusprechen, der nicht nur im Strafrecht
(vgl. Art. 6 Abs. 2 EMRK), sondern - wie sich außer aus Art. 20 Abs. 1 und 3 GG
(„Rechtsstaatsprinzip“) gerade aus der entsprechend anzuwendenden Vorschrift des
§ 261 StPO ergibt - auch im Wehrdisziplinarrecht gilt (stRspr.: Urteil vom 12. Februar
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2003 - BVerwG 2 WD 8.02 -,
NZWehrr 2003, 214 = DVBl 2003, 757> und Beschluss vom 21. Juni 1988 - BVerwG
1 WB 40.87 - ).
Der Senat ist dabei zu folgenden Feststellung gelangt:
Die S…Kp W…Btl … führte im Zeitraum vom 12. bis 27. Februar 2003 die Bewa-
chung der amerikanischen Kaserne „…“ in M. durch. Es wurde eine militärische Wa-
che nach den für die Bundeswehr geltenden Bestimmungen eingerichtet. Die Bewa-
chung führten Soldaten der S…Kp, unterstützt von anderen Soldaten des W…Btl …,
durch. Für den Zeitraum wurden insgesamt zwei Wachmannschaften jeweils mit den
entsprechenden Wachvorgesetzten, nämlich dem Wachhabenden, dem stellvertre-
tenden Wachhabenden sowie dem Offizier vom Wachdienst (OvWA) eingeteilt. Der
Dienst fand dergestalt statt, dass sich turnusmäßig jeweils 24 Stunden Wachdienst
und 24 Stunden wachfreie Zeit bzw. Zeit zur Wachvorbereitung abwechselten. Der
angeschuldigte Soldat war für eine dieser Wachmannschaften als OvWA eingeteilt.
Angehöriger der ihm unterstellten Wache war unter anderem auch der Zeuge M.,
damals Angehöriger der 2./W…Btl .... Am 19. Februar 2003 gegen 15.00 Uhr trat der
Zeuge M. gemeinsam mit den anderen eingeteilten Soldaten zur Wachübernahme
vor dem Wachcontainer in den „…“ an. Dabei fand auch die Ausgabe der Waffen
statt. Der Soldat hatte bereits eine Stunde zuvor die Aufgaben des OvWA von sei-
nem Vorgänger, Oberfeldwebel D., übernommen.
Der Soldat hat das ihm zur Last gelegte Fehlverhalten bestritten. Er hat ausdrücklich
in Abrede gestellt, am 19. Februar 2003 gegen 15.00 Uhr in den „…“ in M. mit einer
ungeladenen Pistole P 8 auf den Oberkörper des Zeugen M. gezielt und hierbei die
Worte: „Sie sind doof. Sie sind tot!“ bzw. „Sie sind dumm!“ geäußert zu haben. Eben-
so ist er dem Vorwurf entgegengetreten, den Abzug mehrfach betätigt oder den Zei-
gefinger seiner rechten Hand ausgestreckt am Abzugsbügel gehalten zu haben. Die-
se Einlassung hat dem Soldaten nicht mit der nach § 261 StPO erforderlichen Ge-
wissheit widerlegt werden können. Nach dieser Regelung hat das Gericht über das
Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhand-
lung geschöpften Überzeugung zu entscheiden. Dabei kommt es allein darauf an, ob
der Tatrichter die persönliche Überzeugung von einem bestimmten Sachverhalt er-
langt hat oder nicht. Das Gericht muss von der persönlichen Schuld des Angeschul-
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digten überzeugt sein. Der Begriff der Überzeugung schließt die Möglichkeit eines
anderen, auch gegenteiligen Geschehensablaufs nicht aus; denn im Bereich der vom
Tatrichter zu würdigenden Tatsachen ist der menschlichen Erkenntnis ein absolut
sicheres Wissen über den Tathergang, demgegenüber andere Möglichkeiten seines
Ablaufs unter allen Umständen ausscheiden müssten, verschlossen. Nach der ge-
setzlichen Regelung ist es allein Aufgabe des Tatrichters, ohne Bindung an feste ge-
setzliche Beweisregeln und nur nach seinem Gewissen verantwortlich zu prüfen und
zu entscheiden, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem
bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht (vgl. BGH, Urteile vom
9. Februar 1957 - 2 StR 508/56 -
441/78 - ). Die für die Überführung eines Angeschuldigten erfor-
derliche persönliche Gewissheit des Tatrichters erfordert ein nach der Lebenserfah-
rung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht
mehr aufkommen (Urteil vom 12. Februar 2003 - BVerwG 2 WD 8.02 - ;
Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. 2005, § 261 RNr. 2 m.w.N.; BGH, Urteil vom
8. Januar 1988 - 2 StR 551/87 - ). Zwar ist zur Überführung
des Angeschuldigten keine „mathematische“ Gewissheit erforderlich. Der Beweis
muss jedoch mit lückenlosen, nachvollziehbaren Argumenten geführt sein. Die Be-
weiswürdigung muss auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsichtigen Tatsa-
chengrundlage beruhen und muss erschöpfend sein. Der Tatrichter ist gehalten, sich
mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentli-
chen Gesichtspunkten auseinander zu setzen, wenn sie geeignet sind, das Beweis-
ergebnis zu beeinflussen, sowie diese Tatsachen und deren Würdigung in den Ur-
teilsgründen darzulegen (Urteil vom 12. Februar 2003 - BVerwG 2 WD 8.02 -
im Anschluss an die stRspr. des BGH zu § 261 StPO, vgl. u.a. Beschlüsse
vom 5. August 1997 - 5 StR 178/97 -, m.w.N. und vom
17. Januar 2002 - 3 StR 417/01 -, m.w.N.). Allein damit wird
die Unschuldsvermutung widerlegt (vgl. Urteil vom 12. Februar 2003 - BVerwG 2 WD
8.02 - ). Hängt die Entscheidung bei gegensätzlichen Aussagen des Ange-
schuldigten und von Zeugen allein davon ab, welchen Angaben das Gericht glaubt,
dann müssen, damit es nicht zu einer Verurteilung aufgrund einer subjektiven Fehl-
beurteilung der Zeugenaussage(n) kommt, alle Umstände, denen eine indizielle Be-
deutung für die Schuld oder Unschuld des Angeschuldigten zukommen kann, in die
Beweiswürdigung eingestellt und in den Urteilsgründen dargelegt werden (vgl. dazu
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BGH, Urteil vom 3. Februar 1993 - 2 StR 531/92 - m.w.N. und Be-
schluss vom 6. März 2002 - 5 StR 501/01 - m.w.N.).
Selbst wenn einzelne Indizien jeweils für sich genommen noch keine vernünftigen
Zweifel an der Richtigkeit einer den Angeschuldigten belastenden Aussage aufkom-
men lassen, so kann jedoch eine Häufung solcher Indizien bei einer Gesamtbetrach-
tung zu solchen Zweifeln führen (BGH, Urteile vom 16. Dezember 1987 - 2 StR
495/87 - und vom 19. Juli 1989 - 2 StR 182/89 -
m.w.N.).
Nach Maßgabe dieser Anforderungen hat der Senat nicht die für die Überführung
des Soldaten erforderliche Gewissheit, d.h. ein nach der Lebenserfahrung ausrei-
chendes Maß an Sicherheit darüber gewinnen können, dass der Soldat die ange-
schuldigte Tat begangen hat. Vielmehr liegen auch nach Durchführung der Beweis-
aufnahme Umstände vor, die zu vernünftigen Zweifeln in für den Schuldspruch rele-
vanten Fragen Anlass geben und damit einer Verurteilung des Soldaten entgegen-
stehen.
Zunächst ist festzustellen, dass der Zeuge M. zwar in seiner „Meldung“ vom 28. März
2003 an den Kompaniechef der 2./W…Btl … zum Ausdruck brachte, der Soldat habe
seine Pistole P 8 mit leerem Magazin auf ihn gerichtet, dabei gesagt „Ich knall Sie
ab!“, den Abzugsbügel betätigt und hintereinander abgedrückt. Im Anschluss an die-
se Meldung hat der Zeuge M. jedoch während des disziplinaren Ermittlungsverfah-
rens und des gerichtlichen Disziplinarverfahrens Aussagen gemacht, die erhebliche
Schwankungen aufweisen und gravierende Zweifel an ihrer Glaubhaftigkeit aufwer-
fen. Im Rahmen der Ermittlungen sagte er ausweislich der vorliegenden und von ihm
unterzeichneten Niederschrift vom 31. März 2003 zunächst aus, der Soldat habe die
Pistole auf seinen, des Zeugen, Kopf gerichtet, abgekrümmt und gesagt: „M., ich
knall Sie ab!“ Bei seiner Vernehmung durch Oberstleutnant U. am 5. April 2003 gab
er dann jedoch ausweislich der vorliegenden Niederschrift eine andere Darstellung.
Nunmehr erklärte er, die Rohrmündung der Pistole habe in etwa auf die Höhe seines
Brustkorbes gezeigt, der Soldat habe etwas gesagt, was er aber akustisch nicht ver-
standen habe, und der Soldat habe den Zeigefinger am Abzugshahn der Pistole ge-
habt. In seiner späteren Vernehmung vom 19. Juni 2003 durch Major Gö. änderte er
sein Aussageverhalten erneut und bekundete nunmehr, hinsichtlich des Wortlauts
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des Soldaten müsse es so gewesen sein, wie er es in seiner Vernehmung vom
31. März 2003 geäußert habe („M., ich knall Sie ab!“), ansonsten sei der Sachverhalt
genau so, wie er es in seiner Vernehmung vom 5. April 2003 wiedergegeben habe,
abgelaufen, wobei er jedoch zusätzlich ergänzte, der Zeigefinger der rechten Hand
des Soldaten sei „ausgestreckt“ am Abzugsbügel gewesen. In seiner Vernehmung
vor dem Truppendienstgericht änderte der Zeuge M. wiederum sein Aussageverhal-
ten. Jetzt erklärte er, er könne nicht mehr hundertprozentig sagen, ob der Soldat die
Waffe auf ihn gerichtet habe. Seine unterschiedlichen Aussagen hat der Zeuge M. in
der Berufungshauptverhandlung nicht zu erklären vermocht. Auf ausdrückliches Be-
fragen hat er insoweit lediglich bekundet, er habe keine „Erklärung“ für seine unter-
schiedlichen Aussagen, bemerkte aber, er habe in seiner Kindheit epileptische Anfäl-
le gehabt, weswegen er teilweise an Erinnerungsstörungen leide. Der Zeuge M. hat
vor dem Senat seine vor dem Truppendienstgericht gemachte Aussage, wonach er
sich nicht mehr hundertprozentig sicher sei, bestätigt und weiter bekundet, die Mel-
dung erst deshalb am 28. März 2003 an seinen Kompaniechef gemacht zu haben,
weil er durch seinen damaligen Kompanieführer Oberleutnant B. hierzu aufgefordert
worden sei. Er, der Zeuge M., habe den Vorfall als nicht so brisant empfunden, dass
er ihn hätte melden müssen, auch habe er sich nicht ernsthaft bedroht gefühlt.
Zudem ergeben sich aus weiteren Umständen zusätzliche Zweifel, ob der Soldat das
angeschuldigte Verhalten begangen hat. Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die
Aussagen der Zeugen K. und S. jeweils für sich betrachtet nicht widerspruchsfrei und
darüber hinaus auch nicht deckungsgleich waren. Der Zeuge K. sagte im Rahmen
der disziplinaren Ermittlungen ausweislich der vorliegenden und von ihm unterzeich-
neten Niederschriften vom 31. März und 5. April 2003 aus, der Soldat habe den Ab-
zugshahn „mehrfach“ durchgezogen bzw. die Pistole „mehrfach“ abgekrümmt. In der
Vernehmung vom 10. Dezember 2003 durch Hauptmann A. gab der Zeuge K. dann
lediglich an, der Soldat habe die Waffe abgedrückt, im Unterschied zu seinen frühe-
ren Aussagen fehlte nunmehr der Hinweis „mehrfach“. In seiner Aussage vor dem
Truppendienstgericht - wie auch vor dem Senat - ist der Zeuge K. dann ausdrücklich
von seinen Angaben in den Vernehmungen vom 31. März und 5. April 2003 abge-
rückt, indem er jetzt bekundet hat, er könne nicht sagen, wie oft die Waffe abge-
drückt worden sei. Widersprüchlich bleiben auch die Aussagen des Zeugen K. im
Hinblick darauf, welche Worte der Soldat gebraucht habe, als er die Pistole auf den
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Zeugen M. gerichtet habe. Während der Zeuge K. in seiner Vernehmung vom 5. April
2003 erklärte, „es fiel auf alle Fälle die Aussage: M., Sie sind dumm“, hat er sowohl
vor dem Truppendienstgericht als auch in der Berufungshauptverhandlung unmiss-
verständlich bekundet, er könne nicht mehr sagen, ob der Soldat irgendwelche Worte
geäußert habe. Der Zeuge K. hat sich in der Berufungshauptverhandlung auch nicht
mehr mit Bestimmtheit daran zu erinnern vermocht, ob der Soldat die Waffe „ge-
spannt“ gehabt habe. Zuvor hatte er allerdings in seinen Vernehmungen vom 5. April
und 10. Dezember 2003 angegeben, gesehen zu haben, dass der Soldat die Waffe
gespannt habe. Weitere Widersprüche im Aussageverhalten des Zeugen K. ergeben
sich daraus, dass er in seiner Vernehmung vom 10. Dezember 2003 durch Haupt-
mann A. angab, der Soldat habe „in der Tür“ des Wachlokals gestanden, vor dem
Truppendienstgericht aber ausgesagt hat, er habe gesehen, dass der Soldat „vor“
dem Wachlokal die Pistole auf den Zeugen M. gerichtet habe. Ferner hat der Zeuge
K. in der Berufungshauptverhandlung ausgesagt, der Pistolen-Vorfall sei ein „Scherz“
gewesen, vor dem Truppendienstgericht hat er jedoch bekundet, den „Anlass“ des
Vorfalls nicht gekannt zu haben.
Auch die den Soldaten belastenden Aussagen des Zeugen S. sind nicht frei von Wi-
dersprüchen. Während er in seiner Vernehmung vom 10. Dezember 2003 durch
Hauptmann A. ausweislich der vorliegenden Niederschrift erklärte, er wisse noch,
dass die Waffe des Soldaten nicht fertiggeladen gewesen sei, hat er vor dem Trup-
pendienstgericht ausgesagt, er sei sich sicher, dass der Soldat die Waffe „einmal
fertiggeladen“ habe. Für den Senat war insbesondere nicht nachvollziehbar, weshalb
der Zeuge den angeschuldigten Vorfall erst mit Schreiben vom 27. März 2003 sei-
nem Kompaniechef und stellvertretenden Kompaniechef zur Kenntnis brachte. Der
Zeuge S. spricht insoweit nämlich in dem Schreiben von einem „schlimmsten Ver-
stoß“, der sich am 19. Februar 2003 ereignet habe und führt hierin weiter aus, die
Dienstwaffe des Soldaten habe sich in einem für den Zeugen M. „nicht erkennbaren
Ladezustand“ befunden. Erst nachdem der Soldat seine Waffe entsichert und mehr-
fach abgekrümmt habe, sei für den Zeugen M. klar gewesen, dass die Waffe nicht
geladen gewesen sei. Es widerspricht der Lebenserfahrung, dass ein solch unge-
wöhnlicher und bedrohlicher Vorgang erst ca. sechs Wochen später den Vorgesetz-
ten mitgeteilt wird, zumal in M. jederzeit, wie der Zeuge S. selbst in der Berufungs-
hauptverhandlung bestätigt hat, ein Vorgesetzter erreichbar war. Die von dem Zeu-
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gen S. gegebene Begründung, den Vorfall deshalb so spät mitgeteilt zu haben, weil
er sich nicht sicher gewesen sei, an welche Stelle er sich habe wenden bzw. ob er
überhaupt etwas habe melden müssen, er zudem noch mit der Vertrauensperson
gesprochen habe und dann 14 Tage im Urlaub gewesen sei, erscheint nicht ausrei-
chend und angesichts der dargelegten Widersprüche im Aussageverhalten des Zeu-
gen zudem wenig glaubhaft. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen,
dass der Zeuge S. in seiner Vernehmung vom 10. Dezember 2003 durch Hauptmann
A. - entgegen seiner ursprünglichen Angabe im Schreiben vom 27. März 2003, es
habe sich für den Zeugen M. um einen „nicht erkennbaren Ladezustand“ gehandelt -
aussagte, es sei kein Magazin in der Waffe des Soldaten eingesetzt gewesen. Auch
der Zeuge M. sprach insoweit von einem „leeren Magazin“ in seiner Meldung vom
28. März 2003. Außerdem gab der Zeuge M. in seiner Vernehmung vom 5. April
2003 durch Oberstleutnant U. an, er habe sich nicht ernsthaft bedroht gefühlt. Diese
Aussage ist mit der Angabe des Zeugen S. zu dem für den Zeugen M. „nicht erkenn-
baren Ladezustand“ schwerlich in Einklang zu bringen. Soweit der Zeuge S. in der
Berufungshauptverhandlung Wert darauf gelegt hat, es habe sich bei seinem Schrei-
ben vom 27. März 2003 nicht um eine „Meldung“, sondern um einen „Erfahrungsbe-
richt“ gehandelt, ist ihm entgegenzuhalten, dass er selbst in seiner - von ihm geneh-
migten - Vernehmung vom 31. März 2003 durch Hauptmann A. erklärt hat „den Inhalt
meiner Meldung vom 27.03.03 halte ich weiter im vollen Umfang aufrecht“. Vor dem
Truppendienstgericht hat er ebenfalls von einer „Meldung“ bzw. sogar von einer „Be-
schwerde“ gesprochen.
Unterschiedliche Aussagen zur Frage des Abstandes der Pistole zu dem Körper des
Zeugen M. machten die Zeugen S. und K. Diese Widersprüche sind auch im Rah-
men der Berufungshauptverhandlung nicht aufgelöst und aufgehoben worden. Der
Zeuge S. sagte im Rahmen seiner Vernehmung durch das Truppendienstgericht aus,
der Abstand der Waffe zu dem Zeugen M habe „10 cm“ betragen bzw. die Pistole sei
„deutlich nah“ am Körper des Zeugen M. gewesen, der Zeuge K. gab dagegen „ca.
1 Meter“ an. Nicht deckungsgleich sind ferner die Aussagen der beiden Zeugen vor
dem Truppendienstgericht zum Standort des Soldaten. Während der Zeuge S. be-
kundet hat, der Soldat habe sich „im Türrahmen“ aufgehalten, erklärte der Zeuge K.,
der Soldat habe „vor dem Wachlokal“ gestanden. Außerdem stimmen die Angaben
der beiden Zeugen in der Frage nicht überein, ob sie sich miteinander unterhielten,
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als sie in einer Reihe vor dem Wachlokal standen und die Waffen ausgegeben wur-
den. Der Zeuge S. sagte aus, K. und er hätten sich unterhalten; der Zeuge K. bekun-
dete dagegen, nicht mehr zu wissen, ob Ruhe geherrscht oder ob man sich unterhal-
ten habe. Das Truppendienstgericht ist im Rahmen seiner Beweiswürdigung zu der
Feststellung gelangt, die wachhabenden Soldaten hätten sich unterhalten; es hat
allerdings die unterschiedlichen Aussagen der Belastungszeugen K. und S. hierzu
nicht gewürdigt.
Schließlich ist angesichts der damals bestehenden Spannungen zwischen den Zeu-
gen S., K. und M. einerseits und dem Soldaten andererseits nicht gänzlich auszu-
schließen, dass die drei Zeugen jeweils ein Motiv haben konnten, gegen den Solda-
ten einen Groll zu hegen und ihm ein Fehlverhalten anzulasten. Die drei Zeugen ent-
stammten als einzige der Wachmannschaft nicht der Kompanie des Soldaten, näm-
lich der S…Kp, sondern der ersten bzw. zweiten Kompanie. Sie hatten damals un-
tereinander einen engen persönlichen Kontakt, wie sie in der Berufungshauptver-
handlung unabhängig voneinander bestätigt haben. Der Zeuge M. ging wenige Tage
vor dem 19. Februar 2003 nicht vorschriftsmäßig mit seiner Waffe um, wobei sich ein
Schuss im Wachlokal löste. Der Soldat meldete diesen Vorfall, und es wurden dis-
ziplinare Ermittlungen gegen den Zeugen M. aufgenommen. Möglicherweise führte
dieser Vorfall dazu, dass der Zeuge nicht, wie ursprünglich von ihm beabsichtigt,
länger Dienst in der Bundeswehr leisten konnte. Der Zeuge K. hatte, wie er vor dem
Truppendienstgericht und in der Berufungshauptverhandlung ausgesagt hat, einen
„Konflikt“ mit dem Soldaten, der sich daraus ergab, dass der Zeuge seine Handschu-
he verloren hatte, und der Soldat ihm daraufhin befahl, über den Verlust dieser Aus-
rüstungsgegenstände eine Schadensmeldung zu schreiben, was der Zeuge aber
nicht tat. Nach Aussage des Zeugen S. in der Berufungshauptverhandlung bestan-
den zwischen ihm und dem Soldaten zunächst Differenzen, später sei man dann a-
ber gut miteinander ausgekommen. Vor dem Truppendienstgericht hat der Zeuge S.
jedoch angegeben, er habe sich durch den Soldaten „ungerecht behandelt“ gefühlt,
ihm aber nicht „etwas auswischen“ wollen. Nach dem vom Zeugen S. gewonnenen
persönlichen Eindruck und nach seinem Aussageverhalten ist dies jedoch nicht ü-
berzeugend. In diesem Zusammenhang ist auch die in der Berufungshauptverhand-
lung verlesene Aussage des damaligen Obergefreiten G. von Bedeutung, der aus-
weislich der vorliegenden und von ihm unterzeichneten Niederschrift vom 28. März
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2003 zum Ausdruck brachte, dass es zwischen dem Zeugen S. und dem Soldaten
erhebliche Differenzen gab, und der Zeuge S. u.a. geäußert habe: „Für mich haben
bereits zwei Uffze ihre Jacke ausgezogen.“
Angesichts dessen verbleiben aus den dargelegten Gründen zu viele nicht ausge-
räumte Zweifel daran, dass der Soldat tatsächlich mit einer ungeladenen Pistole auf
den Oberkörper des Zeugen M. zielte, hierbei die Worte äußerte: „Sie sind doof! Sie
sind tot!“ bzw. „Sie sind dumm!“ und den Abzug mehrfach betätigte oder den Zeige-
finger seiner rechten Hand ausgestreckt am Abzugsbügel hielt.
Der Soldat war daher insgesamt von dem Vorwurf eines Dienstvergehens freizuspre-
chen. Damit war über die Hilfs-Beweisanträge nicht zu entscheiden, weil die in ihren
unter Beweis gestellten Tatsachenbehauptungen nicht (mehr) beweiserheblich wa-
ren.
4. Da die Berufung des Soldaten vollen Erfolg hatte, waren die Kosten des Verfah-
rens gemäß § 138 Abs. 3 und 4 WDO und die ihm darin erwachsenen notwendigen
Auslagen gemäß § 140 Abs. 1 WDO dem Bund aufzuerlegen.
Prof. Dr. Widmaier
Dr. Frentz
Dr. Deiseroth
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