Urteil des BVerwG vom 18.11.2010

Soldat, Munition, Mass, Disziplinarverfahren

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 2 WD 25.09
TDG S 5 VL 23/08
In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren
gegen
geboren am ... in ...,
...,
hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts in der
nichtöffentlichen Hauptverhandlung am 18. November 2010, an der
teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht Golze,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Burmeister,
ehrenamtliche Richterin Oberstabsarzt Dr. Seitz und
ehrenamtlicher Richter Hauptfeldwebel Kuntze,
Leitender Regierungsdirektor ...
als Vertreter des Bundeswehrdisziplinaranwalts,
Rechtsanwalt ...
als Verteidiger,
Geschäftsstellenverwalterin ...
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Berufung des Soldaten wird das Urteil der 5.
Kammer des Truppendienstgerichts Süd vom 22. Januar
2009 einschließlich der Kostenentscheidung aufgehoben,
soweit es den Soldaten betrifft.
Der Soldat wird freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens beider Instanzen einschließlich
der dem Soldaten darin erwachsenen notwendigen
Auslagen werden dem Bund auferlegt.
G r ü n d e :
I
1. Der Soldat wurde nach erfolgreichem Realschulabschluss zum
„Feinblechner“ ausgebildet. In der Ausbildungsfirma war er anschließend bis
zum Antritt des Grundwehrdienstes am 3. April 1989 beschäftigt. Im Juni 1989
erfolgte die Übernahme in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit für
zunächst vier Jahre und zwei Monate; nach stufenweisen Weiterverpflichtungen
wurde er 1999 Berufssoldat.
Er wurde regelmäßig befördert. Die Ernennung zum Hauptfeldwebel erfolgte im
April 2001. Nach der allgemeinen Grundausbildung und einer Ausbildung zum
„Panzerunteroffizier Leopard 2“ erfolgte seine Ausbildung zum
Kampfmittelbeseitiger. Er bestand den „Auswahllehrgang Feuerwerker“, den
Feldwebellehrgang „Munitionstechnik“ und den Lehrgang „Feuerwerker
Fortbildungsstufe A“. Weitere fachspezifische Fort- und Weiterbildungen
folgten, so u.a. die Lehrgänge „Fachkunde Munition im
Truppenübungsplatzdienst“, „Kampfmittelbeseitigung (EOD)“, „Weiterbildung
Fachkunde Munition“, „Feuerwerker Weiterbildung Fachkundiger gem. ZDV
34/210“, „Beseitigung behelfsmäßiger Sprengvorrichtungen“ sowie - im Rahmen
der Ausbildung für den Auslandseinsatz - die Spezialausbildung
„Kontingenteinweisung - Kampfmittelbeseitigungspersonal“.
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Nach Verwendungen als Feuerwerker auf verschiedenen Truppenübungs-
plätzen sowie im Zentralen Kampfmittelbeseitigungsdienst der Bundeswehr
wurde er zum 1. April 2005 zur Kommandantur des Truppenübungsplatzes H...
auf den Dienstposten eines Feuerwerkers und Kampfmittelbeseitigers versetzt.
2. In der Sonderbeurteilung des Soldaten vom 21. August 2009 wurde die
„Aufgabenerfüllung auf dem Dienstposten“ einmal mit „5“ und neunmal mit „4“
bewertet, woraus sich ein Durchschnittswert von 4,1 ergab. Er wird als
selbstbewusst auftretender Soldat beschrieben, der ein ausgeprägtes
berufliches Selbstverständnis habe, gelegentlich aber unzufrieden wirke. Im
letzten Auslandseinsatz habe er sich sehr gut bewährt. Insgesamt sei er ein
durchaus leistungsfähiger und auch leistungswilliger Portepeeunteroffizier, der
die ihm zugestandenen Freiräume nutze und in seinem Aufgabenbereich
kreativ und konstruktiv agiere. Nach dem Sprengunfall 2006 falle es ihm auch
und gerade im Hinblick auf das schwebende Disziplinarverfahren nicht immer
leicht, seine Eigenmotivation im erforderlichen Maße aufrecht zu halten.
In der Hauptverhandlung vor dem Truppendienstgericht sagte der als
Leumundszeuge vernommene nächste Disziplinarvorgesetzte, Hauptmann W...,
aus, der Soldat sei immer gewissenhaft und engagiert. Seine Leistungen lägen
im mittleren Bereich. Es gebe kein Ereignis, das den Soldaten als übereifrig
ausweise. Manchmal zeige er in einzelnen Fällen einen gehörigen Aktionismus
und wolle Dinge, die ihm wichtig erschienen, schnell realisieren; dann müsse er
etwas gebremst werden. Wenn der Soldat etwas sage, dann entspräche das
nach seinen Erfahrungen auch der Wahrheit. Der in der
Berufungshauptverhandlung vernommene Kommandant des
Truppenübungsplatzes H... und Disziplinarvorgesetzte, Oberstleutnant B..., hat
ausgesagt, der Soldat gehe nach seiner Einschätzung nicht vorschnell ein
Risiko ein. Nach dem Unfall habe sich der Soldat zwar verschlossener gezeigt,
seinen Dienst jedoch weiterhin „sauber“ und beanstandungsfrei verrichtet.
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3. Der Disziplinarbuchauszug enthält die Eintragung über die Erteilung einer
förmlichen Anerkennung im Juni 1994 wegen vorbildlicher Pflichterfüllung. Im
November 1999 wurde in Anerkennung dauerhaft herausragender
Gesamtleistungen des Soldaten eine Leistungsstufe festgesetzt. Der Soldat ist
berechtigt, u.a. das Abzeichen für „Leistungen im Truppendienst in Gold, Stufe
III“ und das „Ehrenkreuz der Bundeswehr in Bronze“ zu tragen. Außerdem
wurden ihm für die Auslandseinsätze mehrere Einsatzmedaillen verliehen. Der
Bundeszentralregisterauszug vom 30. Juli 2009 enthält keinen Eintrag.
Die Staatsanwaltschaft H... hat das wegen des Verdachts des Verstoßes gegen
das Wehrstrafgesetz und der fahrlässigen Körperverletzung im Amt gegen den
Soldaten sachgleich zum Disziplinarverfahren geführte Strafverfahren im Juni
2007 nach § 153 Abs. 1 StPO eingestellt.
4. Der Soldat ist verheiratet und hat drei Kinder im Alter von sechs, zehn und elf
Jahren. Er erhält Dienstbezüge der Besoldungsgruppe A 8 Z von monatlich
netto etwa 3 400 €.
II
1. Das gerichtliche Disziplinarverfahren gegen den Soldaten wurde nach seiner
Anhörung mit Verfügung des Befehlshabers im Wehrbereich IV vom 9. August
2007 eingeleitet. Die zuständige Wehrdisziplinaranwaltschaft legte dem
Soldaten mit Anschuldigungsschrift vom 14. Juli 2008 folgenden Sachverhalt
zur Last:
„1.
Der Soldat legte bereits am 19.06.2006 dem
Kommandanten Truppenübungsplatz H... (OTL B...) den
Entwurf einer Vernichtungsanordnung hinsichtlich nicht zur
Wirkung gelangter Munition zur Unterschrift vor. Hierbei gab
er wahrheitswidrig an, dass es sich bei der zur Vernichtung
bestimmten Munition um Sprengkörper der Munitionsart
„Mass“ gehandelt habe, obwohl es sich tatsächlich um eine
nicht in die Bundeswehr eingeführte Munition im Sinne der
ZDv 34/280 Ziffer 109 handelte (Munitionsart KKW Mass 81)
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und er keinen entsprechenden Nachweis über die Ausbildung
hieran besaß, was er auch wusste, zumindest jedoch hätte
wissen können und müssen. OTL B... ordnete gemäß der
Vorlage des Soldaten am 20.06.2006 die Vernichtung an.
2. Anschließend führte der Soldat auf dem Gelände des
Truppenübungsplatzes H... am 20.06.2006 gegen 16.00 Uhr
gemeinsam mit dem anderweitig verfolgten beteiligten
Soldaten Hauptfeldwebel M... einen Vernichtungsversuch der
Munitionsart „Mass“ mittels Abbrennen des Geschosses
durch, obwohl er wusste, zumindest jedoch als Feuerwerker
hätte wissen können und müssen, dass gemäß HDv 183/100
Ziffer 207 phosphorhaltige Munition (roter Phosphor)
ausschließlich durch Sprengung und nicht - wie von Ihm
vorgenommen - mittels Abbrennen zu vernichten ist.
Aufgrund der zu Ziffer 1 und 2 genannten Verhaltensweise
kam es im Rahmen des Sprengversuchs zu einer Deflagration
(heftiger Abbrand). Hierbei erlitt Hauptfeldwebel M...
erhebliche Verbrennungen ersten und zweiten Grades an
Armen und Schultern, eine Splitterverletzung am Kopf sowie
ein Hämatom im Unterleibsbereich.“
Im Abschnitt Ermittlungsergebnis nimmt die Anschuldigungsschrift weitgehend
auf den Abschlussbericht der Untersuchungskommission über das Besondere
Vorkommnis am 20. Juni 2006 Bezug.
2. Mit Urteil vom 22. Januar 2009 hat die 5. Kammer des Truppendienstgerichts
Süd gegen den Soldaten ein Beförderungsverbot für die Dauer von zwei Jahren
verhängt.
a) Den mitangeschuldigten Oberstleutnant B... hat die Kammer vom Vorwurf
eines Dienstvergehens freigesprochen und im Wesentlichen ausgeführt:
Bei der zu vernichtenden Munition habe es sich um eine andere Munitionssorte
gehandelt als von Oberstleutnant B... „vorausgesetzt“. Der Unterschied
zwischen den beiden Munitionsarten sei nicht so groß gewesen, dass es bei der
von Oberstleutnant B... „vorausgesetzten“ Munition technisch zwingend zu
einem anderen Verlauf hätte kommen können. Die Ursache für den Unfall sei
die unfachmännische, in grob fahrlässiger Weise gezeigte Vorgehensweise der
beiden Feuerwerker, nämlich des Soldaten und des Hauptfeldwebels M...,
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gewesen. Wie sich aus den Angaben des Soldaten ergebe, habe dieser in
seiner Eigenschaft als Beseitigungstruppführer den Hauptfeldwebel M...
angewiesen, sich trotz der zweifachen, von ihnen selbst verursachten
thermischen Belastung dem nunmehr in hohem Maß gefährlichen Sprengkörper
erneut zu nähern ohne den Sicherheitsabstand zu wahren. Aufgrund der für
Oberstleutnant B... nicht vorhersehbaren überschießenden Kausalität, wonach
sich Hauptfeldwebel M... dem zweifach thermisch belasteten Nebelwurfkörper
schließlich ein drittes Mal angenähert habe, sei eine unfallbezogene
Verantwortlichkeit des die Vernichtung anordnenden Oberstleutnant B...
ausgeschlossen. Hätten die beiden durchführenden Feuerwerker von
vornherein das mit dem Zeugen Bi..., Waffenbauingenieur der Firma R...
GmbH, besprochene Verfahren der thermischen Beseitigung mittels EOD-
Anzünder fachgerecht durchgeführt, wäre es nicht zu dem Unfall gekommen.
Die Aufforderung des Soldaten an den Hauptfeldwebel M..., sich vom Zustand
des belasteten Nebelwurfkörpers zu überzeugen, stelle eine vorhersehbare und
in jeder Weise fahrlässige Außerachtlassung der erforderlichen
Sorgfaltspflichten dar und begründe eine Fürsorgepflichtverletzung. Diese
Wirkung sei zwar für den Soldaten, nicht jedoch für Oberstleutnant B...
vorhersehbar gewesen. Letzterer habe davon ausgehen dürfen, dass zwei
ausgebildete Feuerwerker unter Beachtung aller Sorgfaltspflichten vorgehen
und die Beseitigung fachgerecht ohne Gefahr für sich selbst vornehmen
würden. Oberstleutnant B... sei daher vom Vorwurf, mit seiner Anordnung in
vorwerfbarer Weise die Verletzung eines Untergebenen verursacht zu haben,
freizustellen. Auch im Übrigen habe er auf die Richtigkeit der schriftlichen
Anmeldung durch die Firma und die Darstellung der beiden erfahrenen
Feuerwerker vertrauen dürfen.
b) Soweit es den Soldaten betrifft, hat das Truppendienstgericht im
Wesentlichen ausgeführt:
Durch die leichtsinnige Verfahrensweise und seine Befehlsgebung habe der
Soldat eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben eines Untergebenen und
Kameraden heraufbeschworen, die bei Hauptfeldwebel M... zu einem
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schweren, nachhaltigen körperlichen Schaden geführt habe. Der Soldat sei als
Beseitigungstruppführer Vorgesetzter des Hauptfeldwebel M... gewesen.
Daraus ergebe sich seine Verpflichtung zur Fürsorge diesem gegenüber. Der
Soldat hätte verhindern müssen, dass sich sein Untergebener dem gefährlichen
Wurfkörper erneut näherte. Stattdessen habe er ihn angewiesen, sich vom
Zustand der Munition zu überzeugen und ihn damit vorhersehbar einer hohen
Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt. Die Auswirkungen seien sowohl für den
Betroffenen als auch den Dienstherrn erheblich gewesen, was sich allein aus
dem längeren Krankenstatus und den Einschränkungen des Hauptfeldwebels
M... ergebe. Auch das Maß der Schuld sei nicht unerheblich, weil der Soldat in
einem Bereich versagt habe, der zu seinem Aufgabenbereich zähle.
Der Soldat habe durch sein Verhalten fahrlässig gegen die Pflichten verstoßen,
der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen, für seine Untergebenen zu
sorgen, die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten sowie
mit seinem Verhalten der Achtung und dem Vertrauen gerecht zu werden, die
sein Dienst als Soldat erfordere.
3. Das gegen Hauptfeldwebel M... sachgleich geführte gerichtliche
Disziplinarverfahren wurde durch die Einleitungsbehörde im März 2008 unter
Feststellung eines Dienstvergehens eingestellt.
4. Gegen das ihm am 12. März 2009 zugestellte Urteil hat der Soldat am 9.
April 2009 uneingeschränkt Berufung eingelegt und seinen Freispruch
beantragt. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, der Befehl von
Oberstleutnant B..., die belasteten Nebelwurfkörper durch Abbrennen zu
vernichten, sei richtig gewesen. Auch sei das Abbrennen korrekt durchgeführt
worden. Seine Bitte gegenüber dem Hauptfeldwebel M..., sich dem ersten
Nebelwurfkörper nochmals zu nähern, sei zudem zu einem Zeitpunkt erfolgt, als
dies nach der Vorschriftenlage erlaubt und vertretbar gewesen sei.
III
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Die zulässige Berufung des Soldaten ist begründet. Von einer
Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an
das Truppendienstgericht hat der Senat trotz eines erheblichen
Verfahrensfehlers abgesehen.
1. Die Anschuldigungsschrift bedarf der Auslegung.
a) Hinsichtlich des Anschuldigungspunktes 1 besteht wegen des Satzes 2
Auslegungsbedarf. In Satz 2 ist nicht nur erwähnt, dass es der Soldat
wahrheitswidrig unterlassen habe, den Kommandanten darüber zu informieren,
dass es sich um eine nicht in die Bundeswehr eingeführte Munition gehandelt
habe; Erwähnung findet auch, dass er keinen Ausbildungsnachweis hierfür
besessen habe. Isoliert betrachtet wird dadurch nicht deutlich, ob der Dienstherr
gegenüber dem Soldaten auch aus Letzterem einen disziplinarischen Vorwurf
ableitet. Zudem stellt sich in diesem Fall die weitere Frage, ob die am Ende des
Satzes 2 beschriebene Schuldform („... auch wusste, zumindest hätte wissen
können und müssen ...“) dann beide Vorwürfe erfassen soll.
b) Unklarheiten dieser Art begründen schon deshalb erhebliche rechtliche
Bedenken, weil zum Gegenstand der Urteilsfindung gemäß § 123 Satz 3 WDO
in Verbindung mit § 107 Abs. 1 WDO nur solche Pflichtverletzungen gemacht
werden „können“ (= dürfen), die in der Anschuldigungsschrift dem Soldaten als
Dienstvergehen zur Last gelegt werden.
Die Anschuldigungsschrift legt Umfang und Grenzen des Prozessstoffes fest
und bestimmt insoweit den Sachverhalt, der allein zum Gegenstand der
Urteilsfindung gemacht werden darf. Dementsprechend schreibt § 99 Abs. 1
Satz 2 WDO auch vor, dass die Anschuldigungsschrift die Tatsachen, in denen
ein Dienstvergehen erblickt wird, darzustellen hat. Die gesetzliche Vorgabe ist
trotz der als Sollvorschrift gestalteten Fassung des § 99 Abs. 1 Satz 2 WDO
zwingend, soweit sie sich auf diesen notwendigen Inhalt der
Anschuldigungsschrift bezieht. Dies folgt insbesondere aus dem
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Regelungszweck und aus rechtsstaatlichen Gründen. Die Anschuldigungsschrift
hat zum einen die Aufgabe, dem Betroffenen die Vorbereitung seiner
Verteidigung zu ermöglichen; zum anderen bildet der darin niedergelegte
Sachverhalt zugleich die unabänderliche Grundlage für die Verhandlung und
Entscheidung des Wehrdienstgerichts. Die Wehrdienstgerichte können und
dürfen den vom Wehrdisziplinaranwalt angeschuldigten Sachverhalt weder
erweitern noch einengen (Urteil vom 28. April 2005 - BVerwG 2 WD 25.04 -
NZWehrr 2007, 28).
Der Tatvorwurf muss unter anderem erkennen lassen, ob eine vorsätzliche oder
fahrlässige Verhaltensweise angeschuldigt ist. Dabei reicht es allerdings aus,
dass sich die angeschuldigte Schuldform aus der Fassung des Tatvorwurfs
ergibt (Beschluss vom 11. Februar 2009 - BVerwG 2 WD 4.08 - BVerwGE 133,
129 <131 f.> = Buchholz 450.2 § 99 WDO 2002 Nr. 2 m.w.N.). Zu den gemäß §
99 Abs. 1 Satz 2 WDO darzustellenden Tatsachen gehören auch die
Umstände, die die subjektiven Tatbestandsmerkmale einer
Dienstpflichtverletzung erfüllen (Urteile vom 29. Juni 1978 - BVerwG 2 WD
18.78 - und vom 22. März 2006 - BVerwG 2 WD 7.05 - Buchholz 450.2 § 107
WDO 2002 Nr. 2). Deshalb darf nicht offen bleiben, welche Bekundungen von
Zeugen als zutreffend angesehen oder welche Tatsachen aufgrund von
Zeugenaussagen und sonstigen Beweismitteln als erwiesen betrachtet werden
und aus der Sicht des Wehrdisziplinaranwalts einen Schuldvorwurf rechtfertigen
(Urteil vom 18. Mai 2001 - BVerwG 2 WD 42.00, 43.00 - BVerwGE 114, 258 =
Buchholz 236.1 § 8 SG Nr. 3).
Aus der doppelten Aufgabe der Anschuldigungsschrift folgt, dass ein
Anschuldigungssatz nur dann hinreichend bestimmter Inhalt der
Anschuldigungsschrift ist, wenn der in ihm erhobene Vorwurf eines
schuldhaften Dienstvergehens in diesem Sinne aus der Sicht des Empfängers
der Anschuldigungsschrift bei objektiver Betrachtungsweise konkret und
eindeutig zu entnehmen ist (vgl. Urteil vom 21. Juni 2005 - BVerwG 2 WD 12.04
- BVerwGE 127, 302 = Buchholz 236.1 § 11 SG Nr. 1 = NZWehrr 2005, 636
m.w.N.). Der dem Soldaten gegenüber erhobene Vorwurf muss in der
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Anschuldigungsschrift so deutlich und klar sein, dass sich der Soldat in seiner
Verteidigung darauf einstellen kann. Dazu genügt es nicht, einen historischen
Geschehensablauf zu schildern, ohne hinreichend präzise erkennen zu lassen,
welche Pflichtverletzungen dem Soldaten als Dienstvergehen zur Last gelegt
werden. Die Darlegung eines konkreten und nachvollziehbaren
Geschehensablaufs hinsichtlich des dem Soldaten zur Last gelegten Verhaltens
muss zu dem daraus abgeleiteten Vorwurf einer oder mehrerer
Dienstpflichtverletzung(en) in Beziehung gesetzt werden. Entscheidend ist,
dass in der konkreten Verknüpfung zwischen der Darlegung des historischen
Geschehensablaufs und den daraus vom Wehrdisziplinaranwalt gezogenen
Schlussfolgerungen der von diesem erhobene, regelmäßig in der
Anschuldigungsformel konzentriert zu fassende Vorwurf deutlich wird.
c) Bei Zweifeln über Gegenstand und Umfang des dem Soldaten durch die
Anschuldigungsschrift zur Last gelegten Fehlverhaltens ist die
Anschuldigungsschrift auszulegen, um ihren exakten Regelungsinhalt zu
ermitteln. Dabei sind die für die Auslegung von empfangsbedürftigen
Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts geltenden Rechtsgrundsätze (§§
133, 157 BGB) entsprechend anzuwenden. Danach kommt es nicht auf den
inneren Willen des Erklärenden, sondern darauf an, wie die abgegebene
Erklärung aus der Sicht des Empfängers bei objektiver Betrachtungsweise zu
verstehen ist. Verbleiben insoweit Zweifel, ist davon auszugehen, dass es an
einer hinreichenden Anschuldigung im Sinne des § 99 Abs. 1 WDO fehlt
(BVerwG, Urteil vom 28. April 2005 a.a.O.).
Nach Maßgabe dieser Grundsätze kann Anschuldigungspunkt 1 der
Anschuldigungsschrift noch dahingehend ausgelegt werden, dass dem
Soldaten nicht nur vorgehalten wird, den Kommandanten über das Vorliegen
einer nicht in die Bundeswehr eingeführten Munition (1. Alternative des
Anschuldigungspunktes 1), sondern auch über seinen fehlenden
Ausbildungsnachweis wahrheitswidrig vorsätzlich, jedenfalls aber fahrlässig
nicht informiert zu haben (2. Alternative des Anschuldigungspunktes 1).
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2. Soweit es den in der 2. Alternative des Anschuldigungspunktes 1
beschriebenen Vorwurf betrifft, ist der Soldat davon schon deshalb freizustellen,
weil er den Kommandanten des Truppenübungsplatzes schon nicht hat
täuschen können. Der als Zeuge vernommene Oberstleutnant B... hat insoweit
eindeutig ausgesagt, von der fehlenden Ausbildung des Soldaten gewusst zu
haben. Er sei davon ausgegangen, der zum Team des Soldaten gehörende
Zeuge Hauptfeldwebel M... habe über sie verfügt, was - wenn es sich denn um
in die Bundeswehr eingeführte Munition gehandelt hätte - nach gängiger
Truppenpraxis ausgereicht hätte. Vorschriften, die dem entgegenstünden, seien
ihm nicht bekannt. Dass dies der Truppenpraxis entspricht, haben auch die
Zeugen Oberst a.D. D..., Oberstleutnant V... und Hauptfeldwebel M... bestätigt.
3. Vom in der 1. Alternative des Anschuldigungspunktes 1 beschriebenen
Vorwurf ist der Soldat ebenfalls freizustellen.
Dass es sich bei der vom Soldaten zusammen mit dem Zeugen Hauptfeldwebel
M... vernichteten Munition KKW MASS 81 nicht um die in die Bundeswehr (dort
bei der Marine) bereits eingeführte Munition MASS 81 gehandelt hat, steht zwar
fest. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist jedoch erwiesen, dass der
Soldat dies weder wusste noch hätte wissen müssen. Es fehlt somit an einer
schuldhaft begangenen Dienstpflichtverletzung.
Fahrlässiges Handeln liegt dann vor, wenn der Soldat eine objektive
Pflichtwidrigkeit begeht, die er nach seinen subjektiven Kenntnissen und
Fähigkeiten hätte vorhersehen und vermeiden können (Urteil vom 19. Februar
2004 - BVerwG 2 WD 14.03 - BVerwGE 120, 166 <174> = Buchholz 235.01 §
38 WDO 2002 Nr. 16). Diese Voraussetzungen erfüllt das Verhalten des
Soldaten nicht.
Wie bereits im Abschlussbericht festgestellt und durch die Aussage vor allem
der Zeugen Oberstleutnant B... und S..., Qualitätstechniker bei der Firma R...
GmbH, bestätigt, ist durch die Schießanmeldung der Waffenfirma bei der
Truppe der Eindruck entstanden, es handele sich bei der Munition um in die
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Bundeswehr eingeführte Munition der Sorte MASS 81, obwohl es sich objektiv
um einen noch in der Entwicklung begriffenen Nebelwurfkörper handelte. Dieser
Eindruck bestand nicht nur beim Soldaten, sondern auch beim Zeugen
Hauptfeldwebel M... sowie bei den Vorgesetzten des Soldaten; er war darauf
zurückzuführen, dass die Waffenfirma in der Schießanmeldung als
Munitionssorte ausdrücklich „Mass 81mm“ angegeben hatte.
Auch nachdem der Soldat die Munition später in Augenschein genommen hatte,
musste er nicht erkennen, dass es sich um nicht in die Bundeswehr eingeführte
Munition handelte. Die (sachverständigen) Zeugen Oberst a.D. D... und
Oberstleutnant V... haben insoweit übereinstimmend ausgesagt, ein
Feuerwerker, der nicht den Lehrgang für die Marinemunition MASS 81 besucht
habe, hätte nicht erkennen können, dass es sich um unterschiedliche
Munitionsarten handelte. Da selbst dem Zeugen Hauptfeldwebel M..., der im
Gegensatz zum Soldaten den Lehrgang für die eingeführte Munition MASS 81
besucht hatte, der Unterschied nicht aufgefallen war, kann dies erst recht nicht
dem Soldaten vorgehalten werden. Dies gilt umso mehr, als auch der bei der
Waffenfirma angestellte Zeuge Bi... ausgesagt hat, jedenfalls ohne
Einsichtnahme in die Munitionsblätter, die dem Soldaten unstreitig nicht
vorgelegen haben, sei es nicht möglich, die Munitionsarten zu unterscheiden.
Dass auch die Beschriftung der Kisten, in denen die Munition zunächst gelagert
war, für den Soldaten kein Anlass sein musste, an der von der Waffenfirma
angegebenen Munitionsart zu zweifeln, steht ebenfalls fest. Der Zeuge Bi... hat
insoweit ausgeführt, auf der Verpackung seien zwar die Inhaltsstoffe der
Munition, nicht aber die Munitionsbezeichnung selbst zu lesen gewesen.
Zur Überzeugung des Gerichts steht auch nicht fest, dass der Soldat von
Mitarbeitern der Waffenfirma darüber informiert worden war, dass es sich um
nicht in die Bundeswehr eingeführte Munition handelte. Der Soldat hat dies
unwiderlegbar in Abrede gestellt. Die gegenteilige Aussage des Zeugen Bi...
hielt der Senat nicht für glaubhaft. Der Zeuge steht nicht nur im Dienst der
Waffenfirma, die die unzutreffenden Angaben über die Munitionssorte gemacht
hatte; seine Aussage steht vor allem auch im Widerspruch zu der des Zeugen
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Hauptfeldwebel M.... Dieser hat ausgesagt, nach seiner Erinnerung habe der
Zeuge Bi... erklärt, es handele sich um in die Bundeswehr eingeführte Munition,
die lediglich zivil, nämlich zum Schutz von Kernkraftwerken, eingesetzt werden
solle.
4. Freizustellen war der Soldat schließlich auch von dem unter
Anschuldigungspunkt 2 beschriebenen Schuldvorwurf.
a) Soweit das Truppendienstgericht hinsichtlich dieses Anschuldigungspunktes
ein Fehlverhalten mit der Begründung bejaht hat, der Soldat hätte verhindern
müssen, dass sich der Zeuge Hauptfeldwebel M... dem gefährlichen Wurfkörper
erneut nähere, stattdessen habe er ihn angewiesen, sich vom Zustand der
Munition zu überzeugen, kann die Feststellung schon deshalb zu keiner
disziplinarischen Ahndung führen, weil der Soldat eines solchen Verhaltens
nicht angeschuldigt worden ist. Wie sich aus den Ausführungen zur Bedeutung
der Anschuldigungsschrift (unter III.1.) ergibt, hätte ein solches Fehlverhalten
konkret bezeichnet werden müssen. Dies ist jedoch in der
Anschuldigungsformel nicht ansatzweise erfolgt. Selbst im Ermittlungsergebnis,
das im Übrigen ohnehin nur ergänzend zur Auslegung einer
Anschuldigungsformel herangezogen werden kann, wird dem Soldaten nicht
vorgehalten, den Zeugen Hauptfeldwebel M... angehalten zu haben, sich dem
Sprengkörper erneut zu nähern. Es steht somit lediglich die Anschuldigung
gegen den Soldaten im Raum, gegen Nr. 207 der HDv 183/100 dadurch
verstoßen zu haben, dass er die Munition verbrannt und nicht gesprengt hat.
b) Das Truppendienstgericht hat den Soldaten damit unter Verstoß gegen § 107
Abs. 1 WDO wegen eines nicht angeschuldigten Verhaltens verurteilt und
wegen des tatsächlich angeschuldigten Verhaltens unter Verstoß gegen § 106
Abs. 1 WDO keine Feststellungen getroffen. Trotz dieser erheblichen Mängel
war von einer Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an das Truppendienstgericht nach § 121 Abs. 2 WDO abzusehen, weil dem
Senat eine abschließende Sachverhaltsaufklärung möglich war und das
Disziplinarverfahren den Soldaten bereits seit August 2007 belastet (vgl. Urteil
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vom 24. März 2010 - BVerwG 2 WD 10.09 - juris). Der Senat hat im Rahmen
seiner Ermessensentscheidung gemäß § 121 Abs. 2 WDO insoweit dem
Beschleunigungsgebot (§ 17 Abs. 1 WDO) Vorrang eingeräumt.
aa) Soweit es das tatsächlich angeschuldigte Verhalten des Soldaten betrifft,
fehlt es an einer schuldhaft begangenen Pflichtverletzung. Dabei kann
dahingestellt bleiben, ob der Soldat überhaupt gegen die HDv 183/100
verstoßen und den objektiven Tatbestand des angeschuldigten Fehlverhaltens
verwirklicht hat. Zweifel daran bestehen deshalb, weil Nr. 207 der HDv 183/100
von „Granaten“ (mit rotem Phosphor/HC) spricht und selbst unter den
sachverständigen Zeugen unterschiedliche Auffassungen darüber bestanden,
ob die vom Soldaten verbrannte Munition unter diesen Begriff zu subsumieren
ist. Während der Zeuge Oberstleutnant B... dies verneinte, hat der Zeuge
Hauptmann W... - als dessen Stellvertreter - dies bejaht. Das Gericht brauchte
diese Frage jedoch nicht abschließend zu entscheiden, weil jedenfalls der
subjektive Tatbestand einer Dienstpflichtverletzung nicht erfüllt ist:
bb) Als Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts
fest, dass der Soldat nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten
nicht hätte vorhersehen müssen, mit seiner Handlung gegen Nr. 207 der HDv
183/100 zu verstoßen. Denn selbst die Vorgesetzten des Soldaten haben
unterschiedlich beurteilt, ob die HDv 183/100 das Verbrennen der
Munitionssorte Mass 81 strikt verbietet.
Der Zeuge Oberstleutnant B... als Kommandant des Truppenübungsplatzes hat
unter Hinweis auf Nr. 406 der HDv angenommen, das Abbrennen der sich nach
seiner Einschätzung nicht detonativ umsetzenden Munition sei mittels EOD
zulässig gewesen; erst auf Nachfrage des Gerichts hat er eingeräumt, es sei
dann allerdings widersprüchlich, dass in der Vorbemerkung Nr. 5 die HDv bei
EOD für nicht einschlägig erklärt werde. Im Gegensatz dazu hat der Zeuge
Hauptmann W... die Nr. 207 der HDv 183/100 für maßgeblich und deren Nr.
406 deshalb nicht für einschlägig gehalten, weil durchaus eine detonative
Umsetzung erfolge. Verbunden mit den Aussagen des Zeugen Hauptmann W...
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zum unklaren Begriff der EOD-Technik und der Aussage des mit der
Vernichtung von Munition ebenfalls vertrauten Zeugen Hauptfeldwebel M..., die
Verbrennung mittels EOD sei mit der HDv 183/10, jedenfalls aber mit der ZDv
40/11 vereinbar, ergab sich damit für das Gericht das Bild von einer insgesamt
unklaren Vorschriftenlage. Da der Soldat zudem auf der Grundlage der
Vernichtungsanordnung des Kommandanten vom 19. Juni 2006 handelte und
er diesen Befehl auch nicht durch eine Dienstpflichtverletzung erwirkt hat, kann
ihm auch hinsichtlich dieses Anschuldigungspunktes nicht vorgehalten werden,
schuldhaft gehandelt zu haben.
5. Da das Rechtsmittel des Soldaten Erfolg hatte, sind die Kosten beider
Instanzen einschließlich der dem Soldaten darin erwachsenen notwendigen
Auslagen dem Bund aufzuerlegen (§ 138 Abs. 3 und 4, § 139 Abs. 1 Satz 1, §
140 Abs. 1 WDO).
Golze
Dr. Müller
Dr. Burmeister
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