Urteil des BVerwG vom 09.01.2007

Soldat, Einstellung des Verfahrens, Reserve, Kaserne

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 2 WD 20.05
TDG N 6 VL 18/04
In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren
gegen
...,
...
hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts in der nichtöffentli-
chen Hauptverhandlung am 9. Januar 2007 an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht Golze,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Widmaier.
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Deiseroth
sowie
Oberstleutnant Reichenauer,
Leutnant Schünke
als ehrenamtliche Richter,
Leitender Regierungsdirektor ...
als Vertreter des Bundeswehrdisziplinaranwalts,
Rechtsanwalt ..., ...,
als Verteidiger
Geschäftsstellenverwalterin ...
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Berufung des früheren Soldaten wird das Urteil der
6. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 30. Juni
2005 aufgehoben.
Der frühere Soldat hat ein Dienstvergehen begangen.
Das Verfahren wird eingestellt.
Die Kosten des Verfahrens und die dem früheren Soldaten
erwachsenen notwendigen Auslagen werden dem Bund
auferlegt.
G r ü n d e:
I
Der 34 Jahre alte frühere Soldat erlangte 1994 die allgemeine Hochschulreife.
Aufgrund seiner Bewerbung für den freiwilligen Dienst in der Bundeswehr wur-
de er mit Wirkung vom 1. Juli 1995 in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf
Zeit berufen. Mit Wirkung vom 22. September 1995 wurde er zunächst als An-
wärter für die Laufbahngruppe der Unteroffiziere, am 1. April 1996 dann als
Anwärter für die Laufbahn der Offiziere der Reserve des Truppendienstes zuge-
lassen.
Die auf zwei Jahre festgesetzte Dienstzeit endete mit Ablauf des 31. März
1997. Anschließend absolvierte der frühere Soldat eine Ausbildung zum Versi-
cherungsfachmann. Diesen Beruf übte er bis zum 31. Dezember 2002 aus. Seit
dem 1. Januar 2003 ist er angestellter Verkaufsleiter in der Versicherungswirt-
schaft und leitet eine Gruppe mit etwa zehn selbständigen Außendienstmitar-
beitern.
In der Zeit vom 18. bis 22. Oktober 1999
sowie vom 31. Oktober bis
30. November 2001 leistete er Einzelwehrübungen ab.
Zum Leutnant der Reserve wurde der frühere Soldat mit Wirkung vom 1. April
1998 ernannt.
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Als Grundwehrdienstleistender war er am 3. April 1995 zur 3./P...Btl ... in M.
einberufen worden. In der Zeit vom 25. September 1995 bis 16. Februar 1996
nahm er erfolgreich am Unteroffizierlehrgang militärfachlicher Teil Geschütz-
dienst bei der 4./P...Btl ... in D. teil. Den Zugführerlehrgang Reserveoffizieran-
wärter/Offizieranwärter Rohrartillerie Geschützdienst an der A... in I. in der Zeit
vom 8. Oktober bis 6. Dezember 1996 absolvierte er mit der Abschlussnote „be-
friedigend. Den 19. Reserveoffizierlehrgang an der O... in H. schloss er mit der
Offizierprüfung („befriedigend“) ab.
In der letzten „Beurteilung bei Wehrübungen“ vom 22. Januar 2002, die an Stel-
le des sich für befangen haltenden Disziplinarvorgesetzten durch den damali-
gen Bataillonskommandeur, den Zeugen Oberstleutnant i.G. W., erstellt wurde,
erhielt er viermal die Wertung „3“ und siebenmal die Wertung „4“. In der freien
Beschreibung wurde u.a. ausgeführt, dass er ein nach außen korrekt auftreten-
der Offizier sei, der seine Aufgabe als Zugführer in der Allgemeinen Grundaus-
bildung bereitwillig und verantwortungsfreudig angetreten habe. Während der
Truppenwehrübung habe er stets Einsatzbereitschaft und persönliches Enga-
gement gezeigt. Es sei ihm aber nicht gelungen, das Vertrauen der ihm unter-
stellten Ausbilder zu gewinnen. Obwohl er sich in bemerkenswerter Weise um
die ihm unterstellten Rekruten gekümmert habe, habe er bei Gesprächen mit
ihm unterstellten Ausbildern - laut deren Aussagen - durch entsprechende Äu-
ßerungen erkennen lassen, dass es an der Bereitschaft mangele, den jungen
wehrpflichtigen Untergebenen als eigenständige Persönlichkeit ernst zu neh-
men. Der nächsthöhere Vorgesetzte gab mangels ausreichender eigener Er-
kenntnisse keine Stellungnahme dazu ab.
In der erstinstanzlichen Hauptverhandlung hat Major K., zur Zeit der Wehr-
übung Disziplinarvorgesetzter des früheren Soldaten, als Leumundszeuge über
ihn u.a. ausgesagt, dass er dessen Leistungen, in Noten ausgedrückt, mit „3“
bewerte. Der frühere Soldat habe im Dienst keine hervorstechenden Leistungen
gezeigt. Leistungsmäßig sei er im unteren Drittel der Offiziere einzustufen. Als
Schwäche sei sein Alkoholkonsum zu bezeichnen.
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Ausweislich der Auskunft vom 13. November 2006 liegen keine Eintragungen
im Zentralregister vor. Der frühere Soldat ist berechtigt, das Leistungsabzeichen
Truppendienst der Stufe III (Gold) zu tragen.
Der ledige Soldat lebt in einer festen Partnerschaft mit seiner Lebensgefährtin.
Er erzielt monatliche Nettoeinkünfte von ca. 2 500 bis 3 000 €. Seine wirtschaft-
lichen Verhältnisse sind nach seinen Angaben geordnet.
II
Mit Verfügung vom 22. August 2002, die dem früheren Soldaten am 24. August
2002 zugestellt wurde, leitete der Amtschef des Personalamts der Bundeswehr
nach vorheriger Anhörung des früheren Soldaten das gerichtliche Disziplinar-
verfahren gegen ihn ein. In der Anschuldigungsschrift vom 30. März 2004, ihm
zugestellt am 14. April 2004, wird ihm folgender Sachverhalt als Dienstverge-
hen zur Last gelegt:
„1. Am Vormittag des 03.11.2001, zu einem näher nicht
mehr bekannten Zeitpunkt, sagte er als Ausbilder der For-
malausbildung des ihm unterstellten III. Zuges der
4./P...Btl ... in der H.-Kaserne in M. im Beisein von SU Mi-
chael W. und SU Arne v. Wi., bezogen auf die auszubil-
denden Rekruten: ‚Die machen wir jetzt fertig, lassen Sie
die Rekruten vorm Block antreten und dann immer rein-
raus.’
2. Am Nachmittag des 03.11.2001 brüllte er als Leitender
der Waffenausbildung der Rekruten des ihm unterstellten
III. Zuges der 4./P...Btl ... in der H.-Kaserne in M. im Bei-
sein von SU Michael W. und U Stefan B. und bei Anwe-
senheit von namentlich nicht bekannten auszubildenden
Rekruten den SU Arne v. Wi., der die Ausbildung an der
von ihm geleiteten Station gemäß vorgesehenem Zeitplan
eingestellt hatte, mit den Worten: ‚SU v. Wi. zu mir! Los zu
mir, schneller, schneller, los, los, zu mir,’ so laut an, dass
alle anderen Soldaten des III. Zuges und auch des Nach-
barzuges es hörten. Als SU Arne v. Wi. vor ihm stand,
brüllte er ihn mit unveränderter Lautstärke an: ‚Was fällt
Ihnen ein, die Ausbildung einfach einzustellen?’ Dann be-
fahl er SU Arne v. Wi., an seinen Platz in der Gruppe zu-
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rückzukehren und die Ausbildungsstation wieder aufzu-
bauen.
3. Am 04.11.2001, am frühen Vormittag, zu einem näher
nicht mehr bekannten Zeitpunkt, als Leiter einer Ausbil-
dungsbesprechung des III. Zuges der 4./P...Btl ... in der H.-
Kaserne in M., bezeichnete er im Beisein von OFw Sven
H., SU Michael W., SU Arne v. Wi. und U Stefan B., nicht
näher bekannte leistungsschwache Soldaten der
4./P...Btl ..., insbesondere des ihm unterstellten III. Zuges,
als ‚KVD-Anwärter’ und sagte: ‚Die kleinen Versager, die
gehen alle zur FU 6, zur Clippo.’ Zudem äußerte er bei
dieser Besprechung im Beisein des SU Arne v. Wi. sowie
des U Stefan B., bezogen auf einzelne, näher nicht be-
kannte leistungsschwache Soldaten der benannten Ein-
heit: ‚Die kleine Made kriegen wir auch noch klein’ und
‚Der kleine Stricher hat hier nichts mehr zu lachen, dem
reißen wir den Arsch auf.’
4. Am 15.11.2001, gegen etwa 22.00 Uhr, im UBR der
4./P...Btl ... in der H.-Kaserne in M., bezeichnete er im Bei-
sein von OFw Nils Oliver L. und OFw Kai M. die ihm unter-
stellten Soldaten des III. Zuges als „Pisser“, „Wichser“ und
„Arschlöcher“.
5. Am 20.11.2001, gegen etwa 11.00 Uhr, während des
Rückmarsches vom ÜbRaum XI in der H.-Kaserne auf Hö-
he des Hubschrauberlandeplatzes K., in der Nähe von M.,
bezeichnete er im Beisein von OFw Nils Oliver L., OFw
Niels K. und OFw Sven H., einzelne leistungsschwache,
nicht näher bekannte Soldaten der 4./P...Btl ..., als ‚geneti-
schen Abfall’ und ‚menschlichen Müll’.
6. Am 22.11.2001, zwischen etwa 11.30 Uhr und
12.30 Uhr, auf der Standortschießanlage des P...Btl ... in
M., sagte er zu OFw Jörg K. und SU Thorsten E., dass er
davon ausginge, als nächsterreichbarer Offizier entspre-
chende Entscheidungen zur Unterstützung treffen zu kön-
nen, wenn Olt Sch. nächste Woche beim Schießen ge-
bunden sei und der Batteriechef 4./Pz...Btl ... an der H...
sei. Dabei sagte er unter anderem, dass es kein Problem
darstelle, den Dienstplan zu verlängern. Zudem äußerte
er, bezogen auf näher nicht bekannte, seiner Verantwor-
tung dann möglicherweise zugeordnete oder ihm unter-
stellte Soldaten, ‚Ich werde es auskosten, die kleinen
Arschlöscher werden es dann spüren,’ und ‚Die sollen sich
wunder(n), wenn ich nächste Woche Chef bin.’
7. Im Zeitraum vom 31.10. bis 23.11.2001, zu einem näher
nicht mehr bekannten Zeitpunkt, in der H.-Kaserne in M.
wurde er von StFw Jürgen S. mindestens zwei Mal auf
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seinen für die ersten Tage der Ausbildung den Rekruten
gegenüber zu lauten Führungsstil angesprochen. In diesen
Gesprächen bezeichnete er ihm unterstellte, näher nicht
bekannte Soldaten gegenüber StFw Jürgen S. mit den
Worten: ‚Diese Stricher’ und ‚Diese kleinen Maden’ und
äußerte mehrfach, ‚dass früher alles anders gewesen sei’
und ‚Dass das nicht mehr seine Armee sei.’
8. Zwischen dem 31.10. und 23.11.2001, zu näher nicht
mehr bekannten Zeitpunkten, in der H.-Kaserne in M.,
verwendete er OFw Niels K. gegenüber mehrfach den
Begriff ‚Fickfehler’, wenn er über einzelne, näher nicht be-
kannten Rekruten sprach.“
Die 6. Kammer des Truppendienstgerichts Nord hat dem früheren Soldaten mit
Urteil vom 30. Juni 2005 wegen eines Dienstvergehens den Dienstgrad „Leut-
nant der Reserve“ aberkannt.
Der frühere Soldat habe „durch sein Verhalten“ vorsätzlich und schuldhaft ge-
gen die Dienstpflichten verstoßen, als Offizier bei Äußerungen die Zurückhal-
tung zu wahren, die erforderlich ist, um das Vertrauen als Vorgesetzter zu er-
halten (§ 10 Abs. 6 SG), die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden
zu achten (§ 12 Satz 2 SG) sowie der Achtung und dem Vertrauen gerecht zu
werden, die sein Dienst als Soldat erfordert (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG). Er habe
sich dadurch eines Dienstvergehens schuldig gemacht. Wegen der Einzelheiten
der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.
Gegen das ihm am 7. Juli 2005 zugestellte Urteil hat der frühere Soldat durch
Schreiben seines Verteidigers
vom 5. August 2005, per Fax eingegangen am
selben Tag, beim Truppendienstgericht Nord - 6. Kammer - unbeschränkt Beru-
fung eingelegt. In der Berufungshauptverhandlung hat er die Berufung mit Zu-
stimmung des Vertreters des Bundeswehrdisziplinaranwalts auf die Maßnah-
mebemessung beschränkt.
Zur Begründung hat er im Wesentlichen vorgetragen: Das Urteil sei aufzuhe-
ben, weil die darin ausgesprochene Aberkennung des Dienstgrades „Leutnant
der Reserve“ nach der maßgeblichen Rechtslage unzulässig sei. Die von der
Truppendienstkammer zugrunde gelegte Regelung des § 66 WDO sei erst
durch das Zweite Gesetz zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts in die
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Wehrdisziplinarordnung eingeführt worden und ab dem 1. Januar 2002 in Kraft
getreten. Sämtliche hier zur Beurteilung anstehenden Sachverhalte hätten sich
im Jahr 2001, also davor ereignet. Eine auf § 66 WDO gestützte Verurteilung
widerspreche damit dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG, das auch
für die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gelte. Dies habe das Bundes-
verfassungsgericht nach der Entscheidung von 11. Juni 1969 (BVerfGE
26, 186 <203>) in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Da bei Angehörigen
der Reserve eine Dienstgradherabsetzung für Offiziere gemäß § 62 WDO nur
bis zum niedrigsten Offiziersdienstgrad in Betracht komme und er, der frühere
Soldat, lediglich den niedrigsten Offiziersdienstgrad bekleide, habe das Trup-
pendienstgericht eine Disziplinarmaßnahme nicht aussprechen dürfen. Viel-
mehr sei das Verfahren bei Feststellung eines Dienstvergehens einzustellen.
III
1. Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft, ihre Förmlichkeiten sind gewahrt
(§ 115 Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 WDO).
2. Das Rechtsmittel ist vom früheren Soldaten in der Berufungshauptverhand-
lung mit Zustimmung des Vertreters des Bundeswehrdisziplinaranwalts wirksam
auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkt worden. Der Senat
hat daher die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die rechtliche Würdigung der
Truppendienstkammer seiner Entscheidung zugrunde zu legen (§ 91 Abs. 1
Satz 1 WDO i.V.m. § 327 StPO).
Aufgrund der für den Senat verbindlichen Tatfeststellungen der Truppendienst-
kammer ist davon auszugehen, dass es während der von dem früheren Solda-
ten in der Zeit vom 31. Oktober bis zum 30. November 2001 abgeleisteten
Wehrübung, in der er in der Allgemeinen Grundausbildung als Zugführer des
III. Zuges der 4./P...Btl ... in M. eingesetzt wurde, „zu den ihm in den Anschuldi-
gungspunkten 1 bis 8 vorgeworfenen Tathandlungen“ kam, die der frühere Sol-
dat „als in objektiver und subjektiver Hinsicht richtig einräumte“ und dass damit
„der angeschuldigte Sachverhalt“ feststeht.
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Ferner steht aufgrund der wirksam erfolgten Berufungsbeschränkung fest, dass
sich der frühere Soldat „durch sein Verhalten“ eines „Dienstvergehens schuldig
gemacht (§ 23 Abs. 1 SG)“ hat, weil er „vorsätzlich und schuldhaft gegen seine
Dienstpflichten verstieß, als Offizier bei seinen Äußerungen die Zurückhaltung
zu wahren, die erforderlich ist, um das Vertrauen als Vorgesetzter zu erhalten
(§ 10 Abs. 6 SG), die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu ach-
ten (§ 12 Satz 2 SG) sowie der Achtung und dem Vertrauen gerecht zu werden,
die sein Dienst als Soldat erfordert (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG)“.
Der Senat ist an diese Tat- und Schuldfeststellungen sowie die von der Trup-
pendienstkammer vorgenommene rechtliche Würdigung gebunden. Ob diese in
jeder Hinsicht rechtsfehlerfrei getroffen worden sind, kann und darf aufgrund
der wirksam erfolgten Berufungsbeschränkung und der dadurch insoweit einge-
tretenen Teilrechtskraft im Berufungsverfahren nicht mehr untersucht werden
(stRspr, vgl. u.a. Urteil vom 2. Dezember 1969 - BVerwG 1 WD 7.69 -; Dau,
WDO, 4. Aufl. 2003, § 116 Rn. 20; Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl. 2006, § 318
Rn. 31 und § 327 Rn. 5 f. jeweils m.w.N.).
Der Senat lässt offen, ob im Hinblick darauf, dass sich die von der Truppen-
dienstkammer vorgenommene rechtliche Würdigung lediglich pauschal auf das
„Verhalten“ des früheren Soldaten bezieht, ohne dabei hinsichtlich der einzel-
nen acht Anschuldigungspunkte und der unterschiedlichen Tathandlungen zu
differenzieren und ohne jeweils näher darzulegen und zu begründen, welche
Tatbestandsmerkmale insoweit im Einzelnen erfüllt sind, die materiellen Vor-
aussetzungen für eine Zurückverweisung nach § 121 Abs. 2 WDO vorliegen
(vgl. dazu u.a. Urteil vom 1. Juli 2003 - BVerwG 2 WD 34.02 - BVerwGE 118,
262 = Buchholz 235.01 § 108 WDO 2002 Nr. 2 = NZWehrr 2004, 36; Dau,
a.a.O., § 121 Rn. 5 i.V.m. § 120 Rn. 5). Denn er macht jedenfalls von der durch
diese Vorschrift ihm eröffneten Ermessensbefugnis zur Zurückverweisung im
berechtigten Interesse des Soldaten an einem baldmöglichen Abschluss des
Verfahrens und im Hinblick auf das für gerichtliche Disziplinarverfahren gelten-
de Beschleunigungsgebot (§ 17 WDO) keinen Gebrauch, zumal der frühere
Soldat nach anwaltlicher Beratung durch seinen Verteidiger in der Berufungs-
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hauptverhandlung gegen die tatsächlichen Feststellungen und die von der
Truppendienstkammer vorgenommene rechtliche Würdigung keine Einwände
erhoben hat.
Auf dieser Grundlage hat der Senat unter Beachtung des Verschlechterungs-
verbotes (§ 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 331 Abs. 1 StPO) lediglich über die
angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden.
3. Ungeachtet dessen, dass der frühere Soldat im festgestellten Umfang ein
Dienstvergehen begangen hat, ist die Verhängung der an sich gebotenen ge-
richtlichen Disziplinarmaßnahme einer Herabsetzung um (zumindest) zwei
Dienstgrade von Gesetzes wegen nicht zulässig (§ 61 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 57
Abs. 1 Satz 1 der im Tatzeitraum bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fas-
sung der WDO - WDO a.F.). Daher ist das Verfahren nach § 123 Satz 3 i.V.m.
§ 108 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 WDO einzustellen sowie festzustellen, dass der frü-
here Soldat ein Dienstvergehen begangen hat.
Art und Maß einer zu verhängenden Disziplinarmaßnahme sind abhängig von
der Eigenart und Schwere des Dienstvergehens, seinen Auswirkungen, dem
Maß der Schuld, der Persönlichkeit, der bisherigen Führung sowie den Beweg-
gründen des (früheren) Soldaten (§ 38 Abs. 1 i.V.m. § 58 Abs. 7 WDO).
a) Die „Eigenart und Schwere“ eines Dienstvergehens bestimmen sich nach
dem Unrechtsgehalt der Verfehlung, mithin also nach der Bedeutung der ver-
letzten Pflichten. Danach wiegt das Dienstvergehen des früheren Soldaten
schwer.
Sein besonderer Unrechtsgehalt ist dadurch gekennzeichnet, dass der frühere
Soldat mehrfach in erheblichem Maße gegen die Pflicht zur Kameradschaft
(§ 12 Satz 2 SG) verstoßen hat, indem er in beleidigenden und teils menschen-
verachtenden Worten (wie „kleine Maden“, „ Stricher“, „Pisser“, „Wich-
ser“, „Arschlöcher“, „genetischer Abfall“, „menschlicher Müll“, „Fickfehler“)
dienstgradniedrigeren Kameraden seine Geringschätzung der Rekruten der
Batterie kundtat.
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Bereits die durch eine ehrverletzende Äußerung begangene Verletzung der
Kameradschaftspflicht hat erhebliches Gewicht. Zu den Rechten, deren Schutz
ein Soldat gemäß § 6 Satz 1 SG in Anspruch nehmen kann, gehört die Achtung
seiner persönlichen Ehre. Ein Soldat kann danach verlangen, dass seine per-
sönliche Ehre, sein Ansehen und sein Ruf als Bürger und Soldat im Rahmen
der Gesetze uneingeschränkt respektiert und nicht geschädigt werden. Dieser
Ehrenschutz, der dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zuzuord-
nen ist und seine Grundlage in der verfassungsrechtlich verbürgten Achtung der
Menschenwürde und der freien Persönlichkeitsentfaltung findet (Art. 1 Abs. 1,
Art. 2 Abs. 1 GG), ist notwendig auch auf die Wahrung des Ansehens in der
Öffentlichkeit gerichtet sowie darauf, nicht einer ehrverletzenden Kritik oder Äu-
ßerung ohne rechtfertigenden Grund ausgesetzt zu werden (vgl. Beschlüsse
vom 23. April 1980 - BVerwG 1 WB 265.77 - BVerwGE 73, 4 <6> m.w.N. und
vom 22. Dezember 2004 - BVerwG 1 WB 30.04 -). Namentlich dürfen Äußerun-
gen nicht die Grenzen überschreiten, die das Strafrecht zum Schutz der persön-
lichen Ehre festlegt. Danach liegt ein Angriff auf die persönliche Ehre im Sinne
einer Beleidigung, vor der § 185 StGB schützen soll, vor, wenn dem Betroffe-
nen oder gegenüber Dritten in Bezug auf ihn die eigene Missachtung oder
Nichtachtung zum Ausdruck gebracht wird.
Dies ist vorliegend der Fall. Denn die Äußerungen des früheren Soldaten in den
Anschuldigungspunkten 3, 4, 5, 6, 7 und 8 (wie „kleine Maden“, „ Stri-
cher“,
„Pisser“,
„Wichser“,
Arschlöcher“,
„genetischer
Abfall“, „mensch-
licher Müll“, „Fickfehler“) wiesen durchweg einen ehrverletzenden Inhalt auf,
indem sie den sittlichen und personalen Geltungswert (vgl. dazu Urteile vom
29. Juni 2006 - BVerwG 2 WD 26.05 - DokBer 2007, 20 und vom 4. Mai 2006
- BVerwG 2 WD 9.05 - DÖV 2006, 1005; OLG Oldenburg, Urteil vom 18. Januar
1963 - 1 Ss 323/62 - NJW 1963, 920; BayObLG, Beschluss vom 25. April 1980
- RReg 3 St 140/78 - NJW 1980, 1969; Lenckner in: Schönke/Schröder, StGB,
27. Aufl. 2006, § 185 Rn. 2 m.w.N.) der betroffenen Rekruten der Batterie ne-
gierten. Der sittliche (moralische) Geltungswert wird einer Person abgespro-
chen, wenn ihr ein unsittliches oder rechtwidriges Verhalten vorgeworfen oder
angesonnen wird oder wenn ihr sonst die moralische Integrität generell oder in
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einer bestimmten Richtung abgesprochen wird (z.B. „Dieb“, „Verbrecher“, „Cha-
rakterschwein“). Der personale Geltungswert einer Person wird in Zweifel gezo-
gen oder negiert, wenn das Opfer mit dem Vorwurf elementarer menschlicher
Unzulänglichkeiten oder Schwächen (z.B. „Schwachsinniger“, „Krüppel“) kon-
frontiert wird, um es als menschliches Wesen abzuwerten und damit zu miss-
achten.
Darüber hinaus lag in den Worten „genetischer Abfall“ und „menschlicher Müll“
(Anschuldigungspunkt 5) sowie „Fickfehler“ (Anschuldigungspunkt 8) zugleich
auch ein Angriff auf die Menschenwürde der betroffenen Rekruten und geht
damit über eine „bloße“ Ehrverletzung hinaus. Dies wiegt besonders schwer.
Die Menschenwürde, die nach Art. 1 Abs. 1 GG „unantastbar“ (Satz 1) und von
„aller staatlicher Gewalt“ zu achten und zu schützen ist (Satz 2), wird verletzt,
wenn die in Rede stehende Äußerung oder Handlung gegenüber dem Betroffe-
nen eine Verachtung oder Geringschätzung des diesem kraft seines Person-
Seins zukommenden Wertes zum Ausdruck bringt. Dem liegt die Vorstellung
vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf ange-
legt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten. Diese Frei-
heit versteht das Grundgesetz allerdings nicht als diejenige eines isolierten und
selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemein-
schaftsgebundenen Individuums. Dies bedeutet, dass auch in der Gemeinschaft
grundsätzlich jeder Einzelne als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert aner-
kannt werden muss. Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen
zum bloßen Objekt im Staate zu machen. Die Maxime „der Mensch muss im-
mer Zweck an sich selbst bleiben“ gilt uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete,
auch für den Bereich der Streitkräfte (vgl. u.a. Urteile vom 21. Juni 2005
- BVerwG 2 WD 12.04 - EuGRZ 2005, 636 <646> = NJW 2006, 77 und vom
4. Mai 2006 a.a.O. m.w.N.).
Nach der strafgerichtlichen Rechtsprechung ist bei Äußerungsdelikten ein An-
griff auf die Menschenwürde verwirklicht, wenn der angegriffenen Person „ihr
Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der staatlichen Gemeinschaft“
bestritten wird und sie als „unterwertiges Wesen“ behandelt wird (vgl. dazu all-
gemein BGH, Urteil vom 19. Januar 1989 - 1 StR 641/88 - BGHSt 36, 83 ff.).
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Das „Menschentum“ des Angegriffenen muss zur Tatbestandsverwirklichung
bestritten oder relativiert, der Betroffene im Kernbereich seiner Persönlichkeit
getroffen werden.
Dies war hier der Fall. Die angeführten Ausdrücke charakterisierten nach ihrem
objektiven Bedeutungsgehalt die gemeinten Rekruten als „unterwertige Wesen“.
Es wurde zum Ausdruck gebracht, dass sie als Menschen wenig oder nichts
wert seien, dass es besser wäre, wenn sie nicht gezeugt und nicht geboren
worden wären. Damit wurde ihr Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeiten
in Frage gestellt und mithin missachtet.
Die Pflichtverletzung erhält zudem dadurch ein besonderes Gewicht, dass der
frühere Soldat als Zugführer Vorgesetzter der betroffenen Soldaten war (§ 1
Abs. 5 Satz 2 SG a.F. i.V.m. § 1 Abs. 1 VorgV). Er trug zudem zum Zeitpunkt
der Dienstpflichtverletzungen einen Dienstgrad, der kraft Gesetzes (§ 1 Abs. 5
Satz 2 SG a.F. i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VorgV) seine Vorgesetzteneigen-
schaft gegenüber den betroffenen Soldaten der Kompanie begründete. Eine
ehrverletzende und entwürdigende Behandlung eines Untergebenen, die krimi-
nelles Unrecht darstellt (§ 185 StGB), ist gerade für einen Soldaten in Vorge-
setztenstellung ein sehr ernst zu nehmendes Fehlverhalten, auch wenn sie „le-
diglich“ in verbaler Form und - wie hier - in Abwesenheit des Betroffenen erfolgt.
Die nach Art. 1 GG zu achtende und zu schützende Würde des Menschen ist
von Verfassungs wegen in jeder Hinsicht unantastbar und bedarf im militäri-
schen Bereich mit seiner streng hierarchischen Gliederung besonderer Beach-
tung.
Auch die festgestellte Verletzung der in § 10 Abs. 6 SG normierten Pflicht eines
Offiziers, innerhalb und außerhalb des Dienstes bei seinen Äußerungen die Zu-
rückhaltung zu wahren, die erforderlich ist, um das Vertrauen als Vorgesetzter
zu erhalten, sowie der in § 17 Abs. 2 Satz 1 SG normierten Pflicht jedes Solda-
ten, der Achtung und dem Vertrauen gerecht zu werden, die sein Dienst als
Soldat erfordert, wiegt schwer.
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Daran ändert nichts, dass der Senat bisher in ständiger Rechtsprechung davon
ausgegangen ist, die Vorschrift des § 10 Abs. 6 SG, gegen deren Verfas-
sungsmäßigkeit angesichts der Einschränkbarkeit des Grundrechts der Mei-
nungsäußerungsfreiheit (Art 5 Abs. 1 GG) der Soldaten nach Art. 17a GG und
§ 6 Satz 2 SG keine durchgreifenden Bedenken bestehen (vgl. dazu auch
BVerfG, Beschluss vom 18. Februar 1970 - 2 BvR 746/68 - BVerfGE 28, 55
<62 f.> = NZWehrr 1970, 177), finde nur in Fällen Anwendung, in denen es um
einen „Kampf der Meinungen“, um „eine geistige Auseinandersetzung“ gehe,
„die immer ein Argumentieren, einen Austausch von Gedanken“ voraussetze
(vgl. u.a. Urteil vom 20. Mai 1981 - BVerwG 2 WD 9.80 - BVerwGE 73, 187
<191 f.>; ebenso Scherer/Alff, SG, 7. Aufl. 2003 § 10 Rn. 63). Denn der Senat
ist auch insoweit aufgrund der erfolgten Berufungsbeschränkung an die rechtli-
che Würdigung der Truppendienstkammer gebunden, wonach der frühere Sol-
dat mit seinem Verhalten (in allen acht Anschuldigungspunkten) § 10 Abs. 6 SG
verletzt hat. Zudem hält der Senat an seiner bisherigen Auslegung nicht mehr
fest. Die Vorschrift des § 10 Abs. 6 SG erfasst nach ihrem eindeutigen Wortlaut
- uneingeschränkt - alle „Äußerungen“ der näher bezeichneten Art innerhalb
und außerhalb des Dienstes, wobei allerdings die Schutzwirkungen des Art. 5
Abs. 1 GG zu beachten sind. Auch ehrverletzende und diffamierende Äußerun-
gen sind jedenfalls „Äußerungen“, die gegen die Pflicht zur Zurückhaltung ver-
stoßen (vgl. dazu auch Peterson, NZWehrr 1991, 12). Dafür spricht insbeson-
dere der Normzweck der Vorschrift. Sie soll verhindern helfen, dass Vorgesetz-
te ihre dienstliche Autorität selbst untergraben (vgl. dazu BVerfG, Beschluss
vom 18. Februar 1970 a.a.O.); sie verlangt die Zurückhaltung bei (allen) Äuße-
rungen, „um das Vertrauen als Vorgesetzter zu erhalten“. Dieser Zweck besteht
unabhängig davon, ob die in Rede stehende Äußerung im Rahmen eines inhalt-
lichen Meinungsstreits oder durch völlig unsachliche, ehrverletzende oder gar
die Würde des Untergebenen missachtende Äußerungen ohne Bezug auf einen
inhaltlichen Meinungsstreit erfolgt.
Es geht bei den in § 10 Abs. 6 SG und in § 17 Abs. 2 Satz 1 SG normierten
Dienstpflichten nicht um bloße Nebenpflichten. Denn beide haben wegen ihres
funktionellen Bezugs zur Erfüllung des grundgesetzmäßigen Auftrages der
Streitkräfte und zur Gewährleistung des ordnungsgemäßen militärischen
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- 14 -
Dienstbetriebs erhebliche Bedeutung. Ein Soldat, insbesondere ein Vorgesetz-
ter, bedarf der Achtung seiner Kameraden und Untergebenen sowie des Ver-
trauens seiner militärischen Vorgesetzten, um seine Aufgabe so zu erfüllen,
dass der gesamte Ablauf des militärischen Dienstes gewährleistet ist (vgl. Urtei-
le vom 16. Dezember 2004 - BVerwG 2 WD 15.04 - und vom 4. Mai 2006 a.a.O.
).
Die Schwere und Eigenart des Dienstvergehens des früheren Soldaten sind
auch dadurch gekennzeichnet, dass sich seine Pflichtverletzungen gegen in der
Allgemeinen Grundausbildung befindliche Rekruten und damit gegen eine be-
sonders schutzbedürftige Zielgruppe richteten bzw. diese trafen. Die betroffe-
nen Soldaten hatten ihren Dienst erst kurze Zeit vorher angetreten. Sie unter-
standen seiner Befehlsgewalt. Der frühere Soldat musste damit rechnen, dass
sie angesichts der Kürze ihrer bisherigen Dienstzeit und ihres Ausbildungsstan-
des noch nicht hinreichend mit den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkei-
ten vertraut waren, um sich wirksam und nachdrücklich in der geeigneten und
gebotenen Form schwerwiegender Pflichtverletzungen der in Rede stehenden
Art wirksam zu erwehren.
Zu Lasten des früheren Soldaten fällt des Weiteren erschwerend ins Gewicht,
dass er die in Rede stehenden Pflichtverletzungen nicht nur einmal beging,
sondern in ähnlicher Form mehrfach in einem Zeitraum, der sich im Oktober/
November 2001 über mehrere Wochen hin erstreckte. Von einem einmaligen
Missgriff oder „Ausrutscher“ konnte keine Rede sein.
Mit seinem Fehlverhalten hat der frühere Soldat insgesamt nicht das von einem
Vorgesetzten gemäß § 10 Abs. 1 SG verlangte Beispiel in Haltung und Pflicht-
erfüllung, sondern im Gegenteil ein außerordentlich schlechtes Beispiel gege-
ben. Das muss er sich zurechnen lassen.
b) Die Auswirkungen des Dienstvergehens waren gravierend. Durch das Fehl-
verhalten wurden nicht nur die Ehre und Würde der davon betroffenen Soldaten
erheblich verletzt. Zu Lasten des früheren Soldaten sind auch die negativen
Auswirkungen seines Dienstvergehens auf den Dienstbetrieb sowie auf die Per-
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sonalplanung und die Personalführung im P...Btl ... zu berücksichtigen. Nach
Bekanntwerden der Pflichtverletzungen mussten durch die zuständigen Diszip-
linarvorgesetzten angesichts der Vielzahl der zu vernehmenden Zeugen und
der lange Zeit fehlenden Aufklärungs- und Mitwirkungsbereitschaft des früheren
Soldaten umfangreiche Ermittlungen durchgeführt werden, die nach den glaub-
haften Angaben des damals als Bataillonskommandeur damit befassten Zeu-
gen W. mehrere Tage und Nächte in Anspruch nahmen. Aufgrund der Vorfälle
musste der frühere Soldat zudem noch während der Wehrübung nach dem Da-
fürhalten der zuständigen Vorgesetzten von seiner Funktion als Zugführer ent-
bunden und für die verbleibende Zeit anderweitig im Bataillonsstab eingesetzt
werden.
c) Die des Weiteren bei der Maßnahmebemessung zu berücksichtigende
Schuld des früheren Soldaten ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er
nach den getroffenen Feststellungen seine Pflichten (wiederholt) vorsätzlich
verletzte.
Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass er zum Zeitpunkt des Dienstvergehens in
seiner Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB eingeschränkt oder gar im Sinne
des § 20 StGB schuldunfähig war, sind nicht ersichtlich. Auch der frühere Sol-
dat hat dies nicht geltend gemacht.
Selbst wenn angesichts des während der Wehrübung erfolgten häufigen Alko-
holgenusses des früheren Soldaten vom Vorliegen der Voraussetzungen des
§ 21 StGB auszugehen wäre, wäre die erhebliche Verminderung der Schuldfä-
higkeit des früheren Soldaten auf eine selbst verschuldete Trunkenheit zurück-
zuführen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. u.a. Be-
schluss vom 27. Januar 2004 - 3 StR 479/03 - NStZ 2004, 495), der der Senat
(Urteile vom 24. November 2005 - BVerwG 2 WD 32.04 - NVwZ 2006, 608 =
NZWehrr 2006, 127 und vom 16. Mai 2006 - BVerwG 2 WD 3.05 - NZWehrr
2006, 252) folgt, kommt in solchen Fällen eine Strafrahmenverschiebung nach
den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB in der Regel nicht in Betracht. Im Falle selbstver-
schuldeter Trunkenheit und dadurch bewirkter verminderter Schuldfähigkeit ei-
ne Maßnahmemilderung vorzunehmen, käme letztlich einer Prämierung des
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- 16 -
Fehlverhaltens nahe. Das lässt das Gesetz nicht zu (Urteile vom 24. November
2005 a.a.O. und vom 16. Mai 2006 a.a.O.).
Sonstige Milderungsgründe in den Umständen der Tat, die die Schuld des Sol-
daten mindern würden, liegen nicht vor. Sie sind nach der ständigen Recht-
sprechung des Senats (vgl. dazu u.a. Urteile vom 1. Juli 2003 - BVerwG 2 WD
51.02 - und vom Urteil vom 24. November 2005 a.a.O.
fentlicht> m.w.N.) dann gegeben, wenn die Situation, in der der Soldat versagt
hat, von so außergewöhnlichen Besonderheiten gekennzeichnet war, dass ein
an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet und daher
auch nicht vorausgesetzt werden konnte. Als solche Besonderheiten sind unter
anderem ein Handeln in einer ausweglos erscheinenden, unverschuldeten wirt-
schaftlichen Notlage, die auf andere Weise nicht zu beheben war, ein Handeln
unter schockartig ausgelöstem psychischem Zwang oder unter Umständen an-
erkannt worden, die es als unbedachte, im Grunde persönlichkeitsfremde Au-
genblickstat eines ansonsten tadelfreien und im Dienst bewährten Soldaten er-
scheinen lassen, sowie ein Handeln in einer körperlichen oder seelischen Aus-
nahmesituation (stRspr, vgl. u.a. Urteile vom 16. Oktober 2002 - BVerwG 2 WD
23.01, 32.02 - BVerwGE 117, 117 <124> und vom 24. November 2005 a.a.O.
m.w.N.). Die Voraussetzungen für das Vorliegen
dieser Milderungsgründe sind hier ersichtlich nicht erfüllt. Ebenso ist nicht er-
kennbar, dass der frühere Soldat mit einer außergewöhnlichen situationsge-
bundenen Erschwernis bei der Erfüllung eines dienstlichen Auftrags belastet
war (Urteil vom 6. Mai 2003 - BVerwG 2 WD 29.02 - BVerwGE 118, 161 =
Buchholz 235.01 § 107 WDO 2002 Nr. 1 ). An-
haltspunkte für ein den früheren Soldaten teilweise entlastendes Mitverschulden
von Vorgesetzten - etwa im Hinblick auf eine nicht hinreichende Wahrnehmung
der Dienstaufsicht (vgl. Urteile vom 17. Oktober 2002 - BVerwG 2 WD 14.02 -
Buchholz 236.1 § 12 SG Nr. 19 = NZWehrr 2003, 127) und vom 16. Mai 2006
a.a.O.) - sind nicht ersichtlich.
d) Zu den Beweggründen für sein Fehlverhalten hat sich der frühere Soldat in
der Berufungshauptverhandlung explizit nicht äußern wollen. Er hat jedoch
gleichzeitig im Rahmen seiner sonstigen Einlassungen gegenüber dem Senat
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- 17 -
mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass seinem Verhalten eine (damals) be-
sonders selbstzentrierte und unkritische Eigeneinschätzung seiner Person
zugrunde lag, die es ihm nach seinen Worten schwer machte, zwischen
„Selbstbild“ und „Fremdbildern“ zu unterscheiden. Er ging - auch im Dienst -
davon aus, wenn er etwas für richtig halte, müsse dies von anderen ebenso
gesehen und akzeptiert werden. Nach dem vom Senat in der Berufungshaupt-
verhandlung von ihm gewonnenen persönlichen Eindruck wollte der frühere
Soldat bei Begehung seiner Pflichtverletzungen mit seinen von ihm damals of-
fenbar als „Kraftausdrücken“ verstandenen Verbalinjurien einem starken Gel-
tungsbedürfnis Rechnung tragen, um damit Aufmerksamkeit auf sich zu lenken
und seinem Selbstwertgefühl Ausdruck zu verleihen. Wurde seinem Willen nicht
entsprochen, reagierte er mit Verärgerung und Unbeherrschtheit. Dabei hatte
- jedenfalls im Tatzeitraum während der Wehrübung - offenbar auch der von
ihm eingeräumte regelmäßige und nicht unerhebliche Alkoholkonsum für ihn
eine enthemmende Wirkung und verringerte seine Bereitschaft zur notwendigen
Selbstbeherrschung. Diese für sein Dienstvergehen maßgebliche Motivations-
lage wirkt sich nicht zugunsten des früheren Soldaten aus.
e) Zugunsten des früheren Soldaten spricht dagegen, dass er disziplinar- und
strafrechtlich nicht vorbelastet ist und dass er seit dem Jahre 1996 berechtigt
ist, das Abzeichen für Leistungen im Truppendienst in Gold zu tragen.
Allerdings wurden seine dienstlichen Leistungen während der Wehrübung, die
in der Beurteilung vom 22. Januar 2002 sowie in der in die Berufungshauptver-
handlung eingeführten Aussage des Leumundszeugen Major K. vor dem Trup-
pendienstgericht zum Ausdruck kommen, allenfalls durchschnittlich bewertet.
f) Bei der gebotenen Gesamtwürdigung des Fehlverhaltens des früheren Solda-
ten ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats davon auszugehen,
dass bei einer durch einen Vorgesetzten begangenen ehrverletzenden und/oder
entwürdigenden Behandlung Untergebener im Regelfall die Dienstgradherab-
setzung um einen oder mehrere Dienstgrade, in schweren Fällen sogar die
Höchstmaßnahme verwirkt ist (vgl. zuletzt Urteile vom 17. März 2004 - BVerwG
2 WD 17.03 - NZWehrr 2005, 38 m.w.N., vom 26. Oktober 2005 - BVerwG
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2 WD 33.04 - NZWehrr 2006, 161 = NVwZ 2006, 947, vom 4. Mai 2006 a.a.O.
m.w.N. und vom 16. Mai 2006 a.a.O. ). Dieser
Maßstab gilt im Regelfall auch bei ehrverletzenden und/oder entwürdigenden
Äußerungen (vgl. dazu Urteil vom 4. Mai 2006 a.a.O. m.w.N.). Eine weniger
gravierende Disziplinarmaßnahme kommt lediglich bei leichteren Pflicht-
verletzungen oder bei Vorliegen besonderer Milderungsgründe in Betracht (vgl.
etwa Urteil vom 4. Mai 2006 a.a.O.).
Ein solcher minderschwerer Fall liegt hier nicht vor. Das Dienstvergehen ist
durch eine Vielzahl von Dienstpflichtverletzungen (ähnlicher Art) sowie zusätz-
lich durch eine besondere Derbheit und zum Teil einen menschenverachtenden
Charakter des Sprachgebrauchs gekennzeichnet. Besondere Milderungsgründe
in den Umständen der Tat oder in der Person greifen nicht ein. Die Einsicht des
früheren Soldaten in den Unrechtscharakter seines Fehlverhaltens stellte sich
erst sehr spät ein. Auch das dienstliche Leistungsbild fällt nicht zugunsten des
früheren Soldaten ins Gewicht.
Angesichts dessen erscheint - unter Abwägung aller be- und entlastenden As-
pekte - an sich eine Dienstgradherabsetzung um zumindest zwei Dienstgrade
als geboten und angemessen. Eine solche Dienstgradherabsetzung ist jedoch
im Falle des früheren Soldaten, der als Leutnant der Reserve den untersten
Dienstgrad der Laufbahngruppe der Offiziere trägt, nach dem Gesetz nicht zu-
lässig. Gleichzeitig ist auch die Verhängung der Höchstmaßnahme nicht gebo-
ten und nicht zulässig.
Maßgebend dafür ist die zum Tatzeitpunkt (Oktober/November 2001) geltende
Regelung des § 61 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 57 Abs. 1 Satz 1 WDO a.F., die bis
zum 31. Dezember 2001 in Kraft war. Dagegen findet die nunmehr geltende
Regelung des § 58 Abs. 3 WDO keine Anwendung.
Zwar ist in der Wehrdisziplinarordnung nicht ausdrücklich geregelt, ob im Falle
eines vor dem 1. Januar 2002 und damit vor dem Inkrafttreten der Neufassung
begangenen Dienstvergehens die zum Tatzeitpunkt geltende Regelung oder
aber die gegenwärtige Fassung der Wehrdisziplinarordnung Anwendung finden
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soll. Es liegt insoweit eine Regelungslücke vor, weil die Wehrdisziplinarordnung
weder in ihrer (einzigen) Überleitungsnorm (§ 147 WDO) noch sonst eine sol-
che Konstellation geregelt hat. Diese ist planwidrig, da weder aus dem Wortlaut
des § 147 WDO noch aus der Systematik der Schlussvorschriften (§§ 143 - 148
WDO) die Absicht des Gesetzgebers zu einer abschließenden Regelung ent-
nommen werden kann. Ebenso wenig ergibt sich diese aus der Entstehungsge-
schichte zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts (BTDrucks 14/4660, S. 38
zu Nr. 94 <§ 139a>) oder aus dem Normzweck des § 147 WDO. Es muss des-
halb davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber keine der Vorschrift
des § 2 Abs. 1 und 3 StGB vergleichbare Regelung in die Wehrdisziplinarord-
nung aufgenommen hat, weil er diese Konstellation nicht bedacht hatte oder
nicht für regelungsbedürftig hielt.
Diese planwidrige Regelungslücke ist verfassungskonform durch analoge An-
wendung des § 2 Abs. 1 und 3 StGB zu schließen.
Nach der Regelung des § 2 Abs. 1 StGB, der in materieller Hinsicht im Hinblick
auf Art. 103 Abs. 2 GG Verfassungsrang zukommt (vgl. Tröndle/Fischer, StGB,
53. Aufl. 2006, § 2 Rn. 2), bestimmen sich die (Kriminal-)Strafe und ihre Neben-
folgen nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. Art. 103 Abs. 2 GG bezieht
sich nicht nur auf Kriminalstrafen, sondern - allerdings mit gewissen Einschrän-
kungen, die sich aus der Natur des Rechtsgebiets ergeben - auch auf ehrenge-
richtliche und „Disziplinarstrafen“ (BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1969
- 2 BvR 518/66 - BVerfGE 26, 186 <203, 204> m.w.N.; BVerwG, Urteil vom
1. Juli 1992 - BVerwG 2 WD 14.92 - BVerwGE 93, 269 = NZWehrr 1993, 72).
Die „Disziplinarstrafe“ stimmt, so sehr sie sich im Übrigen von der Kriminalstrafe
unterscheidet, mit dieser darin überein, dass sie eine missbilligende hoheitliche
Reaktion auf ein schuldhaftes Verhalten ist. Art. 103 Abs. 2 GG soll auch im
Bereich des Disziplinarrechts solche hoheitlichen Reaktionen voraussehbar
machen. Wenn das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entschei-
dung des Gerichts geändert worden ist, ist nach § 2 Abs. 3 StGB „das mildeste
Gesetz“ anzuwenden (sog. Meistbegünstigungsklausel; vgl. dazu u.a. Lackner/
Kühl, StGB, 25. Aufl. 2004, § 2 Rn. 3 m.w.N.). Die Vorschrift des § 2 Abs. 3
StGB bezweckt, dem Täter, wenn das spätere Recht für den Täter günstiger ist
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als das zum Tatzeitpunkt geltende Recht, die neue (mildere) Bewertung des
Gesetzgebers nicht vorzuenthalten. Diese Beweggründe treffen - ungeachtet
der unterschiedlichen Zwecke des Strafrechts und des Disziplinarrechts - we-
gen des Sanktionscharakters auch auf das Disziplinarrecht zu. Eine insoweit
unterschiedliche Behandlung eines Soldaten im Disziplinarrecht einerseits und
im Strafrecht andererseits wäre mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Es ist kein
nachvollziehbarer Grund ersichtlich, warum ein Soldat bei einer erfolgten, im
Ergebnis für ihn günstigen Gesetzesänderung im Disziplinarrecht in dieser Hin-
sicht schlechter zu behandeln sein sollte als ein zu verurteilender Straftäter. § 2
Abs. 3 StGB ist deshalb auch im Wehrdisziplinarrecht entsprechend anzuwen-
den.
Für eine (analoge) Anwendung des § 2 Abs. 3 StGB ist erforderlich, dass die
einschlägige Vorschrift der Wehrdisziplinarordnung, die bei Tatbeendigung galt,
vor der gerichtlichen Entscheidung geändert wurde. Das ist vorliegend der Fall,
weil zur Zeit der spätesten Dienstpflichtverletzung (spätestens) am
23. November 2001 (Anschuldigungspunkte 7 und 8) noch § 61 Abs. 1 WDO
a.F. anzuwenden war und weil nach Inkrafttreten der Neufassung der Wehrdis-
ziplinarordnung am 1. Januar 2002 nun § 58 Abs. 3 WDO die maßgebende
Norm ist.
Als Rechtsfolge ist damit das mildeste Gesetz anzuwenden. Darunter ist dasje-
nige zu verstehen, das im konkreten Einzelfall die dem Täter - bzw. hier dem
früheren Soldaten - günstigste Beurteilung zulässt. Auf einen abstrakten Ver-
gleich kommt es dabei nicht an (Lackner/Kühl, a.a.O.; Eser in: Schönke/
Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 2 Rn. 30 m.w.N.; Tröndle/Fischer, StGB,
53. Aufl. 2006, § 2 Rn. 10). Deshalb ist im vorliegenden Fall darauf abzustellen,
ob die seit dem 1. Januar 2002 geltende Vorschrift des § 58 Abs. 3 WDO ge-
genüber dem nach § 2 Abs. 1 StGB (analog) grundsätzlich anzuwendenden
§ 61 Abs. 1 Satz 1 WDO a.F. das mildere Gesetz ist. Nur dann wäre die aktuell
geltende Vorschrift des § 58 Abs. 3 WDO anwendbar.
53
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- 21 -
Dies ist jedoch zu verneinen. Dabei ist im vorliegenden Fall davon auszugehen,
dass hier - aus den oben dargelegten Gründen - an sich eine Dienstgradherab-
setzung geboten und angemessen ist.
Sowohl § 61 Abs. 1 Satz 1 WDO a.F. als auch § 58 Abs. 3 Nr. 1 WDO sehen
bei früheren Soldaten („Angehörige der Reserve“) die Zulässigkeit einer Dienst-
gradherabsetzung vor. Während diese nach § 58 Abs. 3 Nr. 1 WDO i.V.m. § 62
Abs. 1 Satz 1 und 2 WDO - ohne Ausnahme - lediglich bis zum niedrigsten Offi-
ziersdienstgrad zulässig ist, war nach § 61 Abs. 1 WDO a.F. in Satz 2 eine vom
Regelfall des Satzes 1 abweichende unbeschränkte Dienstgradherabsetzung
nur für den Fall vorgesehen, dass - fiktiv - bei einem Berufssoldaten oder Solda-
ten auf Zeit eine Entfernung aus dem Dienst gerechtfertigt gewesen wäre. Im
Gegensatz dazu eröffnet § 58 Abs. 3 Nr. 2 WDO darüber hinaus weitergehend
die Möglichkeit einer gänzlichen Aberkennung des Dienstgrades, die es bis zum
Inkrafttreten der Neufassung der Wehrdisziplinarordnung am 1. Januar 2002
noch nicht gab. § 58 Abs. 3 WDO ist danach nicht die mildere Vorschrift. Denn
sie sieht - bei gleicher Einstufung - gegenüber § 61 Abs. 1 WDO a.F. jedenfalls
keine günstigere Maßnahmebemessung vor.
Nach § 61 Abs. 1 Satz 2 a.F. wäre damit zwar - anders als nach der im vorlie-
genden Fall nicht anwendbaren Vorschrift des § 58 Abs. 3 WDO - keine Aber-
kennung des Dienstgrades des früheren Soldaten zulässig. Jedoch dürfte nach
§ 61 Abs. 1 Satz 2 WDO a.F. auch bei einem Leutnant der Reserve eine Her-
absetzung des Dienstgrades über die Beschränkungen des § 57 Abs. 1 Satz 1
WDO a.F. („bis zum niedrigsten Offizierdienstgrad“) hinaus bis in einen Mann-
schaftsdienstgrad nur dann verhängt werden, wenn bei einem Berufssoldaten
oder Soldaten auf Zeit die Entfernung aus dem Dienstverhältnis gerechtfertigt
wäre. An dieser Voraussetzung fehlt es jedoch im vorliegenden Fall.
Die Verhängung der Höchstmaßnahme wäre, wenn es sich bei dem früheren
Soldaten um einen Soldaten auf Zeit oder um einen Berufssoldaten handeln
würde, bei der Gesamtwürdigung aller be- und entlastenden Umstände nicht
geboten gewesen. Der Senat hat nicht feststellen können, dass der frühere
Soldat auch in Anbetracht der Schwere des Dienstvergehens, der Schuld und
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der eingetretenen Auswirkungen seines Fehlverhaltens - bei fiktiver Betrach-
tung - als Soldat auf Zeit oder als Berufssoldat für den Dienstherrn untragbar
wäre. Letzteres wäre (nur) dann der Fall, wenn der frühere Soldat durch sein
Dienstvergehen bei der gebotenen objektiven Betrachtung das Vertrauen des
Dienstherrn in seine persönliche Integrität und Zuverlässigkeit und damit eine
zentrale Grundlage des Dienstverhältnisses in besonders grobem Maße er-
schüttert und letztlich zerstört hätte (vgl. u.a. Urteil vom 19. Juli 1995 - BVerwG
2 WD 9.95 - BVerwGE 103, 265 = Buchholz 236.1 § 7 SG Nr. 4 = NZWehrr
1996, 164, vom 6. Mai 2003 a.a.O. und vom 27. November 2003 - BVerwG
2 WD 6.03 -). Daran fehlt es hier.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung dieser Frage ist dabei der Zeitpunkt,
zu dem das Wehrdienstgericht nach Maßgabe der § 58 Abs. 7 i.V.m. § 38
Abs. 1 WDO über die Verhängung der gebotenen gerichtlichen Disziplinarmaß-
nahme zu entscheiden hat. Zu diesem Zeitpunkt hat der Senat bei der gebote-
nen objektiven Betrachtung nicht (mehr) feststellen können, dass gegenwärtig
von einer besonders groben Erschütterung oder gar von einer Zerstörung des
Vertrauens des Dienstherrn in die persönliche Integrität und Zuverlässigkeit des
früheren Soldaten auszugehen ist, die bei einem Soldaten auf Zeit oder einem
Berufssoldaten die Verhängung der Höchstmaßnahme in Gestalt der Entfer-
nung aus dem Dienstverhältnis erforderlich machen würde.
Dagegen spricht bereits der Inhalt der vom damaligen Bataillonskommandeur,
dem Zeugen Oberstleutnant i.G. W., unter dem 22. Januar 2002, also nach dem
während der Wehrübung erfolgten Dienstvergehen über den früheren Soldaten
verfassten Beurteilung („Beurteilung bei Wehrübungen“). Darin wird zwar zum
Ausdruck gebracht, der frühere Soldat habe trotz seiner guten Kenntnis der
persönlichen Situation der ihm während der Wehrübung unterstellten Rekruten
und seines erfolgreichen Bemühens, sich im Einzelfall um diese zu kümmern,
„bei Gesprächen mit ihm unterstellten Ausbildern - laut deren Aussagen - durch
entsprechende Äußerungen erkennen lassen, dass es (bei ihm) an der Bereit-
schaft“ mangele, „den jungen wehrpflichtigen Untergebenen als eigenständige
Persönlichkeit ernst zu nehmen“. Zu Recht hat der Vertreter des Bundeswehr-
disziplinaranwalts in der Berufungshauptverhandlung unter Hinweis auf diese
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Beurteilung sowie die damit übereinstimmenden Bekundungen des von der
Truppendienstkammer vernommenen Zeugen Major K. sowie des vom Senat
vernommenen Zeugen Oberstleutnant i.G. W. auch darauf hingewiesen, dass
sich in dem von dem früheren Soldaten im Tatzeitraum Oktober/November
2001 gezeigten Fehlverhalten erkennbar ein eklatanter Mangel in der Fähigkeit
offenbarte, Menschen zu führen. Zugleich wird dem früheren Soldaten in dieser
Beurteilung vom 22. Januar 2002 - in Kenntnis seines vorerwähnten Fehlverhal-
tens und seiner Schwächen bei der Menschenführung - jedoch attestiert, „das
während der Wehrübung gezeigte Leistungsbild in Verbindung mit seiner sehr
guten geistigen Auffassungsgabe“ befähigten ihn „eher zu einer Tätigkeit im
Stabsdienst bzw. zur Führung einer Teileinheit - vergleichbar dem Beobach-
tungstrupp - denn eines Zuges“. Damit übereinstimmend unterbreitete der Zeu-
ge W. in seiner Eigenschaft als beurteilender Bataillonskommandeur in Ab-
schnitt H. dieser Beurteilung vom 22. Januar 2002 „Verwendungsvorschläge“,
die erkennen lassen, dass er auch damals noch eine weitere Verwendung des
früheren Soldaten als Offizier in der Bundeswehr als möglich ansah. Anderen-
falls hätte er von Verwendungsvorschlägen jeder Art Abstand genommen. Kon-
kret schlug er vor, den früheren Soldaten bei einer „Mob-Verwendung“ als S 2-
Offizier im Bataillon oder auf „vergleichbare(n) Dienstposten“, als Beobach-
tungsoffizier Artillerie oder auf dem Offiziersdienstposten eines „FUO II“ einzu-
setzen. Er hielt ihn damit aus seiner Sicht als beurteilender Disziplinarvorge-
setzter für eine weitere Verwendung als Offizier in der Bundeswehr jedenfalls
nicht für generell ungeeignet und dem Dienstherrn unzumutbar. In der Beru-
fungshauptverhandlung hat der Zeuge W. seine damalige Bewertung bestätigt
und ausgeführt, er habe den früheren Soldaten für Stabsverwendungen weiter-
hin als verwendungsfähig und einsetzbar eingeschätzt. Gleichzeitig hat er aller-
dings zum Ausdruck gebracht, wenn sich die damals gegen den früheren Sol-
daten erhobenen Vorwürfe vor Gericht bestätigen sollten, hätten damals sowohl
die „Divisionsebene“ als auch er den Soldaten für Wehrübungen und mögli-
cherweise auch als Soldaten auf Zeit für „nicht mehr tragbar“ gehalten. Näher
begründet hat er dies allerdings nicht.
Entscheidend ist jedoch, dass es nach den Feststellungen, die der Senat auf-
grund des Ergebnisses der Berufungshauptverhandlung zur Persönlichkeit des
61
- 24 -
früheren Soldaten getroffen hat, zum hier allein maßgeblichen Zeitpunkt der
Entscheidung des Senats an hinreichenden Anhaltspunkten für die Schlussfol-
gerung fehlt, die persönliche Integrität und die Zuverlässigkeit des früheren Sol-
dat seien (auch heute noch) in einem solchen Maße in Frage gestellt, dass je-
des Vertrauen des Dienstherrn in eine künftig ordnungsgemäße Dienstaus-
übung in besonderem Maße erschüttert oder gar zerstört sei.
Bei der Beurteilung der Persönlichkeit des früheren Soldaten ist zu berücksich-
tigen, dass er durch seinen Verteidiger - nach anfänglichem Bestreiten nahezu
aller Vorwürfe - im Frühjahr 2005 noch vor Beginn der Verhandlung vor der
Truppendienstkammer sämtliche ihm zur Last gelegten Anschuldigungspunkte
„in objektiver und subjektiver Hinsicht“ eingeräumt hat und jedenfalls seitdem
sein Fehlverhalten nicht mehr in Zweifel zieht oder bagatellisiert. Nach dem
vom früheren Soldaten gewonnenen persönlichen Eindruck des Senats war
dieses Geständnis zunächst zwar möglicherweise nicht primär von Reue und
Einsicht geprägt, sondern - verfahrenstaktisch - eher darauf ausgerichtet, eine
Einstellung des Verfahrens zu erreichen.
Der frühere Soldat hat jedoch in der Berufungshauptverhandlung durch sein
besonnenes und glaubwürdiges Auftreten sowie seine glaubhaften Einlassun-
gen dem Senat die hinreichende Überzeugung vermittelt, dass er - auch auf-
grund seiner zwischenzeitlichen beruflichen Erfahrungen - offenkundig einen
erheblichen persönlichen Reifungsprozess durchlaufen hat, der ihn zu einer
realistischeren Einschätzung seiner Persönlichkeit, seiner Fehlhandlungen und
zur Einsicht in die für ihn daraus zu ziehenden Konsequenzen geführt hat. Die
Ergebnisse und Auswirkungen dieses erfolgten Reifungsprozesses für die Per-
sönlichkeit des früheren Soldaten haben sich ersichtlich hinreichend stabilisiert.
Sie lassen nicht erwarten, dass er bei einer erneuten dienstlichen Verwendung
in der Bundeswehr sein früheres Verhalten fortsetzen würde. Er hat unumwun-
den eingeräumt, dass sein angeschuldigtes Verhalten im Tatzeitraum gegen-
über seinen damaligen Untergebenen „nicht in Ordnung“ und "unakzeptabel"
gewesen sei und dass es ihm sehr leidtue. Er könne sich dafür heute „nur ent-
schuldigen“. Es sei allerdings für ihn „nicht so einfach“ gewesen, sich selbst die
Verantwortlichkeit für die von ihm gemachten schwerwiegenden Fehler einzu-
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- 25 -
gestehen. Er habe erst lernen müssen, die Tragweite seines Fehlverhaltens
realistisch und sachgerecht zu bewerten. Dies habe ihn bis heute schwer be-
lastet, was durch die lange Verfahrensdauer und die damit verbundenen Unge-
wissheiten noch verstärkt worden sei. Der Senat hat keine konkreten Anhalts-
punkte dafür gewinnen können, dass der frühere Soldat diese Entwicklung sei-
ner Persönlichkeit lediglich vorgespiegelt hat. Seine Einlassungen waren in sich
schlüssig, widerspruchsfrei und von großer Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit
bestimmt. Auf Einwände und Nachfragen ist er jeweils konkret eingegangen,
auch wenn er dabei Schwächen und Unsicherheiten einräumen musste. Für
den Senat ist auf der Grundlage der in der Berufungshauptverhandlung getrof-
fenen Feststellungen und des vom früheren Soldaten gewonnenen persönli-
chen Eindrucks deutlich erkennbar geworden, dass dieser aus seinem Fehlver-
halten nicht nur beruflich, sondern auch in seinem Verhältnis zur Bundeswehr
die notwendigen Schlussfolgerungen gezogen hat. Bei der gebotenen objekti-
ven Betrachtung liegen angesichts dessen zum gegenwärtigen Zeitpunkt in An-
sehung des im Jahre 2001 erfolgten, mithin mehr als fünf Jahre zurückliegen-
den Dienstvergehens für den Dienstherrn keine hinreichenden Gründe vor, die
persönliche Integrität und Zuverlässigkeit des früheren Soldaten (weiterhin) als
in besonderem Maße erschüttert oder gar als zerstört zu betrachten. Im Rah-
men der erforderlichen Gesamtwürdigung ist der Senat deshalb zu der Über-
zeugung gelangt, dass damit die Voraussetzungen des § 61 Abs. 1 Satz 2
Halbs. 1 WDO a.F. nicht (mehr) vorliegen, sodass bei der an sich gebotenen
Herabsetzung des Dienstgrades die Beschränkung des § 57 Abs. 1 Satz 1
WDO a.F. eingreift. Da der frühere Soldat als Leutnant der Reserve bereits den
niedrigsten Offiziersdienstgrad seiner Laufbahn trägt, ist mithin eine Dienst-
gradherabsetzung nach dem Gesetz ausgeschlossen.
Angesichts dessen ist das angefochtene Urteil der Truppendienstkammer auf-
zuheben und das Verfahren nach § 123 Satz 3 i.V.m. § 108 Abs. 3 Satz 1 WDO
einzustellen.
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4. Gemäß § 138 Abs. 3 Alt. 2 i.V.m. Abs. 4 WDO sind dem Bund die Kosten des
Verfahrens aufzuerlegen, der auch die dem Soldaten darin erwachsenen not-
wendigen Auslagen zu tragen hat (§ 140 Abs. 1 Alt. 2 WDO).
Golze Prof. Dr. Widmaier Dr. Deiseroth
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