Urteil des BVerwG vom 21.06.2005

Soldat, Irak, Nato, Befehl

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
Im Namen des Volkes
Urteil
BVerwG 2 WD 12.04
TDG N 1 VL 24/03
In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren
gegen
den …
…,
…,
hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts in der nichtöffentlichen
Hauptverhandlung am 21. Juni 2005, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Widmaier als Vorsitzender,
Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Frentz,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Deiseroth
sowie
Oberfeldarzt Marchler,
Oberstleutnant Börold
als ehrenamtliche Richter,
Leitender Regierungsdirektor …
als Vertreter des Bundeswehrdisziplinaranwalts,
Rechtsanwalt …, …,
als Verteidiger,
Justizangestellte …
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Unter Zurückweisung der Berufung des Wehrdisziplinaranwalts
wird auf die Berufung des Soldaten das Urteil der 1. Kammer des
Truppendienstgerichts Nord vom 9. Februar 2004 aufgehoben.
Der Soldat wird freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die dem Soldaten darin erwachse-
nen notwendigen Auslagen werden dem Bund auferlegt.
- 2 -
G r ü n d e :
I
Der heute 48-jährige Soldat schloss seine Schulausbildung im Juni 1976 mit der all-
gemeinen Hochschulreife ab und wurde zum 1. Juli 1976 zur Ableistung des Grund-
wehrdienstes zur 3. /J.bataillon … nach B. einberufen. Aufgrund seiner Einverständ-
niserklärung vom 20. August 1976 wurde er mit Wirkung vom 1. Januar 1977 unter
Berufung in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit zum Gefreiten OA ernannt.
Seine Dienstzeit wurde nach zwischenzeitlichen Festsetzungen auf drei und sieben
Jahre am 16. Februar 1982 auf 13 Jahre festgesetzt. Am 14. April 1983 wurde ihm
die Eigenschaft eines Berufssoldaten verliehen; seine Dienstzeit wird voraussichtlich
am 31. Mai 2013 enden. Die Beförderung zum Major erfolgte am 1. März 2000.
Nach der allgemeinen Grundausbildung wurde der Soldat unter Wechsel der Waf-
fengattung zum 1. Oktober 1976 zur 1./F.bataillon (F.Btl) … nach M. versetzt. Nach
verschiedenen Ausbildungsverwendungen in der H.staffel 203, im .Btl … wurde er
zum 1. Oktober 1977 zur 3./F.Btl … nach R. versetzt. Den vom 10. Januar bis
29. September 1978 besuchten Offizieranwärterlehrgang an der H.schule (H.S) in R.
bestand der Soldat mit der Note „befriedigend“.
Zum 2. Oktober 1978 wurde er zur Aufnahme des Studiums der Pädagogik an die
Hochschule der Bundeswehr … versetzt. Nach Zwischenkommandierungen zum
Fallschirmspringerlehrgang an die L.schule in A., den der Soldat unfallbedingt vorzei-
tig beenden musste, zum Lehrgangsbesuch der Schule F. in K. sowie zum Fall-
schirmsprungdienst in A. beendete er das Studium am 11. Dezember 1981 mit der …
Diplomhauptprüfung und wurde zum 4. Januar 1982 als Flugabwehrraketen- und
Zugführeroffizier zur 6./F.regiment (F.Rgt) … nach M. versetzt.
Den sich anschließenden, vom 20. April bis 1. Oktober 1982 absolvierten Offizier-
lehrgang - Teil A - an der O.schule in H. bestand der Soldat … Nach anschließender
Ausbildung zum Kommandant Flugabwehrraketenpanzer „Roland“, Teilnahme am
Offizierlehrgang - Teil B - unter zwischenzeitlicher Versetzung zur 5./F.Rgt … schloss
der Soldat im Dezember 1983 den S 2-Lehrgang an der Schule N., E., mit „gut“ ab.
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Nach Versetzung zum 1. Juli 1984 zur 1./F.Rgt 200 in M. als Flugabwehrraketenoffi-
zier und S 2-Offizier durchlief er im Sommer 1984 die Ausbildung zum Jugendoffizier,
der sich entsprechende Weiterbildungen in den Folgejahren anschlossen. Der Soldat
wurde zum 1. April 1987 unter vorangehender Kommandierung zur H.S nach R. als
Flugabwehroffizier und Hörsaalleiter versetzt.
Nach Bestehen des Grundlehrgangs Fortbildungsstufe C an der Führungsakademie
der Bundeswehr wurde er zum 1. Juli 1989 zur 2./G.regiment … nach T. als Flugab-
wehroffizier und Batteriechef versetzt. Zum 1. April 1991 erfolgte die Versetzung als
S 2-Offizier in den Stab der H.brigade … in D. Von dort wurde er zum 1. Januar 1993
zum Spezialstab ATV der H.S nach R. versetzt; zeitgleich bewarb er sich erfolglos
um Übernahme in den Polizeivollzugsdienst des Landes Bayern. Zum 1. Januar
1995 wurde er innerhalb der H.S zur Gruppe Weiterentwicklung versetzt und an-
schließend, nach Besuch verschiedener Lehrgänge an der F.schule in F. sowie des
Stabsdienstlehrgangs an der Führungsakademie der Bundeswehr vom 6. August bis
2. Oktober 1996, zum Datenverarbeitungs-Organisations-Stabsoffizier ausgebildet.
Zum 1. Oktober 1997 wurde er zum H.kommando nach Mö. und in Folge der Verle-
gung der Dienststelle ab 25. Januar 2000 zum Dienstort K. versetzt, wo er in der Ab-
teilung I Logistik als S 3- und Datenverarbeitungs-Organisations-Stabsoffizier im Be-
reich der Informationsverarbeitung verwendet wurde.
Seine Versetzung zum S. erfolgte zum 1. Oktober 2002. Dort war der Soldat in der G
6-Abteilung in der Gruppe „DV-Vorhaben Org-Grundlagen Bw“ mit Aufgaben im Rah-
men des IT-Projekts SASPF („Standard-Anwendungs-Software-Produkt-Familien“)
betraut, bis er am 7./8. April 2003 aufgrund der Vorfälle, die Gegenstand des vorlie-
genden Verfahrens sind, aus dem Dezernat herausgelöst und mit einer Sonderauf-
gabe in dem IT-Sektor betraut wurde. Unter vorangehender Kommandierung wurde
er zum 1. Oktober 2004 als Datenverarbeitungs-Organisations-, Organisations- und
Planungsstabsoffizier zum S.amt in M. versetzt.
In der letzten planmäßigen Beurteilung vom 5. September 2001 wurde er … beurteilt.
… Unter „herausragende charakterliche Merkmale, Kameradschaft, berufliches
Selbstverständnis, Bewährung im Einsatz und ergänzende Aussagen“ heißt es:
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„D ...“
Der Soldat ist berechtigt, sowohl das A. … als auch die S. … zu tragen.
Disziplinar ist er nicht vorbelastet; er erhielt am 19. Dezember 1986 eine förmliche
Anerkennung wegen vorbildlicher Pflichterfüllung, weil er mit privatem finanziellen
und zeitlichem Aufwand ein die Effizienz und Sicherheit erhöhendes Funksystem für
die Kasernenwache entwickelt hatte.
Darüber hinaus hat er im Jahr 1991 eine, im Jahr 2001 drei Anerkennungsurkunden
für seine Beteiligung am Vorschlagswesen der Bundeswehr erhalten, seine Verbes-
serungsvorschläge im Bereich der Datenverarbeitung sind dabei mit jeweils 200 DM,
zuletzt 300 DM, prämiert worden.
Der Auszug aus dem Bundeszentralregister weist keine Eintragung auf.
Der Soldat ist ledig. Er erhält ausweislich der vorliegenden Mitteilung der Wehrbe-
reichsverwaltung Süd Dienstbezüge der Besoldungsgruppe A 13, 10. Dienstalters-
stufe, in Höhe von 3.743,17 € brutto und 2.767,63 € netto.
II
Durch Abgabe nach § 33 Abs. 3 WDO an die Staatsanwaltschaft B. wurde im April
2003 gegen den Soldaten ein Ermittlungsverfahren eingeleitet (sachgleich zu An-
schuldigungspunkt 2). Die Staatsanwaltschaft beabsichtigte, das Ermittlungsverfah-
ren durch Verfügung vom 18. Mai 2003 nach § 170 Abs. 2 StPO einzustellen, da
dem Soldaten eine strafbare Gehorsamsverweigerung nach § 20 WStG nicht mit hin-
reichender Sicherheit nachgewiesen werden könne. Der Wehrdisziplinaranwalt, Lei-
tender Regierungsdirektor S., teilte daraufhin der Staatsanwaltschaft unter dem
18. Juni 2003 mit, dass er deren rechtliche Bewertung nicht zu teilen vermöge; für
die Annahme eines unvermeidbaren Irrtums des Soldaten i.S.d. § 22 Abs. 2 WStG
sehe er keinen Raum. Mit Schreiben vom 20. November 2003 und 11. Juni 2004 teil-
te die Staatsanwaltschaft dem Wehrdisziplinaranwalt mit, dass die Ermittlungen an-
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dauern. Dies ist immer noch der Fall, wie eine Anfrage des Senats vom 18. Mai 2005
bei der Staatsanwaltschaft ergeben hat.
In dem mit Verfügung des Amtschefs S. vom 22. April 2003, zugestellt am 23. April
2003, ordnungsgemäß eingeleiteten gerichtlichen Disziplinarverfahren legte der
Wehrdisziplinaranwalt dem Soldaten in seiner Anschuldigungsschrift vom 10. De-
zember 2003 folgendes Verhalten als schuldhafte Verletzung seiner Dienstpflichten
zur Last:
„1. Der Soldat teilte am Vormittag des 27. März 2003 im Besprechungs-
raum der Liegenschaft R. (Raum 243) den dort zusammengerufenen An-
gehörigen des vertretungsweise von ihm geführten Dezernats ‚Prozess-
management HP Organisation’ mit, dass er sich gezwungen sehe, den
Dezernatsangehörigen die Teilnahme an Sportausbildungen sowie an
Schul- und Gefechtsschießen einschließlich der Tätigkeit als Funktions-
personal zu untersagen, da die Durchführung dieser Befehle geeignet sei,
die seiner Ansicht nach rechtswidrige Beteiligung der Bundesrepublik
Deutschland an dem rechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak zu un-
terstützen.
2. Der Soldat verweigerte am 7. April 2003 zwischen 15.00 und 16.00 Uhr
im Dienstzimmer des Chefs des Stabes S. in dessen Anwesenheit die
durch seinen Vorgesetzten, Oberst i.G. M., Abteilungsleiter G 6, mündlich
erteilten und ihm anschließend schriftlich überreichten Befehle, nämlich
den mit seinem Dienstposten verbundenen Aufgaben im Projekt ‚SASPF’
(Standard-Anwendungs-Software-Produkt-Familien)
nach- zukommen sowie
als Vorgesetzter seine Untergebenen zur Erfüllung dieses Auftrags anzu-
halten und die Erfüllung dienstaufsichtlich zu überwachen, mündlich mit
dem Bemerken, er könne und dürfe diese Befehle nicht ausführen, da er
nicht ausschließen könne, damit die rechtswidrige Beteiligung der Bun-
desrepublik Deutschland an einem rechtwidrigen Angriffskrieg gegen den
Irak zu unterstützen.“
Die 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord hat den Soldaten am 9. Februar
2004 eines Dienstvergehens für schuldig befunden und ihn in den Dienstgrad eines
Hauptmanns (Besoldungsgruppe A 11) herabgesetzt.
Sie hat den in der Anschuldigungsschrift vorgeworfenen Sachverhalt aufgrund der
von ihr getroffenen tatsächlichen Feststellungen im Wesentlichen als erwiesen ange-
sehen, wobei sie den Soldaten zu Anschuldigungspunkt 1 allerdings von dem Vor-
wurf freigestellt hat, dem Oberleutnant B. - einem der ihm am 27. März 2003 vertre-
tungsweise unterstellten Soldaten - verboten zu haben, ein dienstliches Schießen
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vorzubereiten. Die Kammer hat das Verhalten des Soldaten als vorsätzlichen Ver-
stoß gegen die Pflichten zum treuen Dienen nach § 7 SG (Anschuldigungspunkte 1,
2), zur Dienstaufsicht nach § 10 Abs. 2 SG (Anschuldigungspunkte 1, 2), zum Ge-
horsam nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SG (Anschuldigungspunkt 2) sowie zur Achtungs-
und Vertrauenswahrung nach § 17 Abs. 2 Satz 1 (Anschuldigungspunkte 1, 2) ge-
würdigt und hat insgesamt ein Dienstvergehen gemäß § 23 Abs. 1 SG, § 18 Abs. 2
WDO als gegeben angesehen.
Dabei hat die Kammer ausgeführt, dass an der Rechtmäßigkeit der in der G 6-Ab-
teilung, speziell auch der Gruppe „DV-Verfahren Org-Grundlagen Bw“, zu leistenden
Dienste keine Zweifel bestünden und zwar unabhängig davon, ob der militärische
Einsatz der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) im Irak als Angriffskrieg zu wer-
ten sei und ob die Bundesrepublik Deutschland dazu Beihilfe geleistet habe. Denn
die von dem Soldaten und von allen Dezernatsangehörigen zur Tatzeit im Dezernat
zu leistende Arbeit habe weder unmittelbar noch mittelbar eine Unterstützung des
bewaffneten Eingreifens der USA im Irak dargestellt. Demzufolge sei auch der dem
Soldaten am 7. April 2003 erteilte Befehl rechtmäßig gewesen. Der Soldat habe sich
auch nicht in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden, denn es liege für je-
dermann auf der Hand, dass zwischen den von ihm geforderten dienstlichen Verrich-
tungen und denen seiner damaligen Untergebenen im Dezernat keinerlei Kausalzu-
sammenhang mit dem Irak-Konflikt bestünde. Dies habe der Soldat als langjähriger
Berufssoldat und als Stabsoffizier unschwer erkennen können und müssen.
Bezüglich der Ausführungen der Kammer zur Maßnahmebemessung wird auf die
Seiten 7 und 8 des angefochtenen Urteils verwiesen.
Gegen dieses, dem Soldaten am 18. Februar 2004 zugestellte, Urteil hat der Soldat
mit anwaltlichem Schriftsatz vom 15. März 2004, beim Bundesverwaltungsgericht
eingegangen am selben Tag, Berufung in vollem Umfang eingelegt und beantragt,
das Urteil des Truppendienstgerichts Nord aufzuheben und den Soldaten freizuspre-
chen.
Zur Begründung hat der Verteidiger des Soldaten zu Anschuldigungspunkt 1 im We-
sentlichen ausgeführt, dass der Soldat am 27. März 2003 tatsächlich nichts untersagt
habe, sondern lediglich vor Angehörigen des vertretungsweise von ihm geführten
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Dezernats mitgeteilt habe, dass er sich gezwungen sehe, den Dezernatsangehörigen
die Teilnahme an der Sportausbildung sowie an Schul- und Gefechtsschießen ein-
schließlich der Tätigkeit als Funktionspersonal zu untersagen.
Das Truppendienstgericht habe es versäumt, sich mit den Beweggründen des Solda-
ten auseinanderzusetzen. Der Soldat habe die rechtswidrige Verpflichtung, sich nicht
um gesetzliche Vorgaben zu kümmern, nicht akzeptieren können. Er habe das militä-
rische Vorgehen der USA gegen den Irak zutreffend als rechtswidrigen Angriffskrieg
und die Förderung des Krieges durch z.B. AWACS-Einsatz und die Wachgestellung
durch die Bundeswehr für amerikanische Kasernen an Stelle der für den Krieg benö-
tigten amerikanischen Soldaten als Beteiligung an einem Angriffskrieg angesehen.
Nur weil er das mit der Rechtslage und seinem Gewissen nicht habe verantworten
können, habe er folgerichtig und folgenlos erklärt, er sehe sich gezwungen, den Sol-
daten entsprechende Tätigkeiten zu untersagen. Diese Meinungsäußerung habe er
durch Art. 26 GG, § 80 StGB, § 5 WStG und § 11 Abs. 2 SG gedeckt gesehen, aus
denen er die Pflicht zum Nachdenken, Prüfen und zur Bekanntgabe seiner Meinung
gefolgert habe.
Bezüglich des Anschuldigungspunktes 2 habe der Soldat am 7. April 2003 keinen
Befehl verweigert. Es habe zwei Befehlsgruppen gegeben. Die erste sei abgewan-
delt, während die zweite in die Anschuldigungsschrift aufgenommen worden sei. Der
Soldat habe bekundet, dass er diesen Befehlen nachkommen könne. Es sei also
kein Befehl verweigert worden, sondern nur darauf hingewiesen worden, dass ein
„derart interpretierter Befehl, an der Parallelwertung in der Laiensphäre gemessen“,
an den vorgenannten Bestimmungen scheitern würde. Denn der Soldat sei als De-
zernatsleiter zur Mitarbeit an der Entwicklung des IT-Projekts SASPF eingesetzt ge-
wesen, einer Software, die der Optimierung von Instandhaltung, Instandsetzung,
Versorgung, Transport, Datenverarbeitung, Information, Führung, Lagefeststellung
und Rechnungswesen dienen solle. Die mit Hilfe dieses Programms von dem Solda-
ten zu erbringenden Dienstleistungen hätten in vielfacher Weise der Unterstützung
der Führung des Angriffskrieges der USA dienen können, z.B. auch bei der Entwick-
lung von DV-Gerät, mit dem die Abrechnung von Dienstreisen im Rahmen der Unter-
stützungsleistungen durchgeführt würde. Auch seine Vorgesetzten hätten den Solda-
ten in dieser Haltung bestärkt. So habe ihm z.B. Oberst i.G. M. versichert, dass das
IT-Projekt SASPF auch im Falle des Scheiterns der Anwendungssoftware SAP zur
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Optimierung der oben genannten Prozesse fortgeführt werde; damit werde er sich in
jedem Falle am Irak-Krieg indirekt beteiligen.
Der Wehrdisziplinaranwalt bei dem Truppendienstgericht Nord für den Bereich des S.
hat mit Schriftsatz vom 17. März 2004, eingegangen beim Truppendienstgericht Nord
am 18. März 2004, gegen das ihm am 19. Februar 2004 zugestellte Urteil Berufung
zuungunsten des Soldaten eingelegt, diese auf die Bemessung der Disziplinarmaß-
nahme beschränkt und beantragt, den Soldaten aus dem Dienstverhältnis zu entfer-
nen.
Zur Begründung hat der Wehrdisziplinaranwalt im Wesentlichen ausgeführt, dass der
Soldat - wie die Kammer zutreffend festgestellt habe - gegen soldatische Kernpflich-
ten verstoßen habe, was grundsätzlich mit der Entfernung aus dem Dienstverhältnis
angemessen zu ahnden sei.
Dem Soldaten könne entgegen der Auffassung der Truppendienstkammer nicht zu-
gute gehalten werden, dass er sich ernsthaft mit der Frage auseinandergesetzt habe,
ob er sich durch seine dienstliche Tätigkeit strafbar mache und gegebenenfalls Un-
tergebene dazu verleite. Denn dies sei eine Pflicht, die ohnehin jedem Befehlsemp-
fänger in der Bundeswehr obliege. Für die Maßnahmebemessung sei vielmehr we-
sentlich, dass der Soldat an seiner verfehlten Auffassung festgehalten habe, obwohl
ihm auf seine zahlreichen schriftlich gegenüber seinen Vorgesetzten vorgetragenen
Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der ihm erteilten Befehle die Rechtslage einge-
hend erläutert worden sei, zuletzt in der mehrstündigen Hauptverhandlung vor dem
Truppendienstgericht, in der der Soldat auf ausdrückliche Nachfrage des Wehrdiszip-
linaranwalts seine „abwegige Rechtsauffassung bekräftigt“ habe. Die völlige Unein-
sichtigkeit des Soldaten verbiete auch die vom Gericht vorgenommene günstige Zu-
kunftsprognose der Erwartung der Einsicht des Soldaten in sein Fehlverhalten.
Es seien keine in der Person des Soldaten liegende Milderungsgründe vorhanden,
die ein Absehen von der gebotenen Höchstmaßnahme rechtfertigten.
Mit Schreiben vom 17. Mai 2004, dem Senat vorgelegt durch den Bundeswehrdiszip-
linaranwalt am 25. Mai 2004, hat der Wehrdisziplinaranwalt drei nach der erstinstanz-
lichen Hauptverhandlung vom 9. Februar 2004 entstandene Beschwerdevorgänge
vorgelegt, die nach seiner Auffassung geeignet seien, seinen Vortrag über die Un-
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einsichtigkeit des Soldaten zu stützen. Im Kern geht es bei zweien dieser - in der Sa-
che auch vom Soldaten nicht in Zweifel gezogenen - Beschwerdevorgänge um sein
„Tatnachverhalten“. Der dritte Vorgang bezieht sich auf eine dienstliche Informations-
veranstaltung mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr (GenInsp) am 25. März
2004 im S. in B., in der der Soldat in der anschließenden Diskussion u.a. den Irak-
Krieg thematisierte. Seine Beschwerde gegen einzelne Äußerungen des GenInsp
blieb ohne Erfolg (Beschluss vom 6. April 2005 - BVerwG 1 WB 67.04 -).
In einem am 3. Juni 2004 beim Bundesverwaltungsgericht eingegangenen Schreiben
führt der Verteidiger des Soldaten ergänzend aus, dass weder die Berufungsbegrün-
dung des Wehrdisziplinaranwalts noch dessen Schreiben vom 17. Mai 2004 den Vor-
aussetzungen des § 116 WDO und der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom
19. Januar 1972 - BVerwG 2 WD 59.71 -) genügten; die Berufungsbegründung nebst
Ergänzung befasse sich nicht mit dem wesentlichen Inhalt des Urteils und beziehe
sich überwiegend auf außerhalb des Urteils liegende Umstände; die Berufung des
Wehrdisziplinaranwalts sei daher gemäß § 120 Abs. 1 Nr. 1 WDO als unzulässig zu
verwerfen.
III
1. Die Berufungen sind zulässig. Sie sind statthaft, ihre Förmlichkeiten sind gewahrt
(§ 115 Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 WDO).
Entgegen der Auffassung des Verteidigers ist die Berufung des Wehrdisziplinaran-
walts hinreichend begründet. Es liegt kein Verstoß gegen die Begründungsanforde-
rungen des § 116 Abs. 2 WDO vor.
Nach ständiger Rechtsprechung des Senats muss die Berufung mit substantiierten
Ausführungen begründet werden, insbesondere muss im Einzelnen dargelegt wer-
den, weshalb die tragenden Erwägungen der Begründung des angefochtenen Urteils
als unzutreffend oder angreifbar angesehen werden (vgl. u.a. Beschlüsse vom
18. Januar 1972 - BVerwG 2 WD 59.71 - und vom 19. April 1999 - BVerwG 2 WD
12.99 -
168>). Dies gilt auch für eine maßnahmebeschränkte Berufung, deren Begründung
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deutlich machen muss, weshalb die von der Kammer verhängte Disziplinarmaßnah-
me nach Auffassung des Berufungsführers als unangemessen angesehen wird. Aus-
reichend ist aber, wenn die Berufungsschrift in zumindest pauschaler Form erkennen
lässt, ob und inwieweit die von der Kammer verhängte Disziplinarmaßnahme als ver-
fehlt, unverhältnismäßig oder jedenfalls angreifbar angesehen wird, welchem der ge-
nannten persönlichen Milderungsgründe des Soldaten ein falsches Gewicht beige-
messen worden sein soll und inwieweit daraus Folgerungen für die begehrte Ände-
rung der Maßnahmebemessung gezogen werden, insbesondere weshalb die ange-
strebte Maßnahme im Verhältnis zu Eigenart und Schwere des Dienstvergehens als
unangemessen gesehen wird (vgl. Beschluss vom 19. April 1999 - BVerwG 2 WD
12.99 - ; Urteil vom 3. Juli 2001 - BVerwG 2 WD 24.01 -).
Diesen Anforderungen wird die Berufung des Wehrdisziplinaranwalts gerecht. Er hat
sich in seiner Berufungsschrift vom 17. März 2004 mit den Urteilsgründen bezüglich
der Maßnahmebemessung im Einzelnen auseinander gesetzt und begründet, warum
er der Wertung der Kammer in diesem Punkt nicht folgen könne (z.B. Gewichtung
der Frage der ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Thema; günstige Zukunfts-
prognose). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Urteilsgründe selbst, gerade an
dieser Stelle, sehr knapp gehalten sind und sich lediglich mit einer Spiegelstrichauf-
zählung begnügen, ohne die dort genannten und vom Wehrdisziplinaranwalt ange-
griffenen Gesichtspunkte näher zu begründen.
2. Das zuungunsten des Soldaten eingelegte Rechtsmittel des Wehrdisziplinaran-
walts ist ausdrücklich und nach dem maßgeblichen Inhalt seiner Begründung auf die
Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkt worden, während die Berufung
des Soldaten, die auf einen Freispruch gerichtet ist, in vollem Umfang eingelegt wor-
den ist. Als das weitergehende Rechtsmittel bestimmt mithin die Berufung des Solda-
ten den Umfang der Nachprüfung der angegriffenen Entscheidung. Der Senat hat
daher im Rahmen der erfolgten Anschuldigung (§ 123 Satz 3 i.V.m. § 107 Abs. 1
WDO) eigene Tat- und Schuldfeststellungen zu treffen, sie rechtlich zu würdigen und
gegebenenfalls die angemessene Disziplinarmaßnahme zu finden. Da auch der
Wehrdisziplinaranwalt Berufung eingelegt hat, ist der Senat an das Verschlechte-
rungsverbot (§ 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 331 Abs. 1 StPO) nicht gebunden.
- 11 -
3. Die Berufung des Soldaten hat Erfolg; das Rechtsmittel des Wehrdisziplinaran-
walts ist dagegen unbegründet und deshalb zurückzuweisen. Der Soldat ist gemäß
§ 108 Abs. 1 und 2 WDO freizusprechen, da er kein Dienstvergehen (§ 23 Abs. 1
SG) begangen hat. Hinsichtlich des Anschuldigungspunktes 1 ist der Tatvorwurf nicht
bestimmt genug (dazu 3.1); bezüglich des - hinreichend bestimmten (dazu 3.2) - An-
schuldigungspunktes 2 liegen keine Dienstpflichtverletzungen vor (dazu 3.3).
3.1 Im Hinblick auf den Anschuldigungspunkt 1 genügt die Anschuldigungsschrift des
Wehrdisziplinaranwalts nicht dem Bestimmtheitsgebot, sodass es insoweit an einer
hinreichenden Anschuldigung im Sinne des § 99 Abs. 1 WDO fehlt und der Soldat
deshalb von diesem Tatvorwurf freizustellen ist. Denn zum Gegenstand der Urteils-
findung dürfen gemäß § 123 Satz 3 i.V.m. § 107 Abs. 1 WDO nur diejenigen Pflicht-
verletzungen gemacht werden, die in der Anschuldigungsschrift (und gegebenenfalls
ihren Nachträgen) dem Soldaten als Dienstvergehen zur Last gelegt werden. Die An-
schuldigungsschrift muss dabei gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 WDO die Tatsachen, in
denen ein schuldhaftes Dienstvergehen erblickt wird, und die Beweismittel geordnet
darstellen. Zu diesen Tatsachen gehören auch die Umstände, die die subjektiven
Tatbestandsmerkmale einer Dienstpflichtverletzung erfüllen (Urteil vom 29. Juni 1978
- BVerwG 2 WD 18.78 -). Der dem Soldaten gegenüber erhobene Vorwurf muss in
der Anschuldigungsschrift so deutlich und klar sein, dass sich der Soldat in seiner
Verteidigung darauf einstellen kann (stRspr.: vgl. u.a. Urteile vom 14. April 1977
- BVerwG 2 WD 1.77 - , vom 19. Juli 1995 - BVerwG 2 WD
9.95 -
NVwZ-RR 1996, 213 = ZBR 1996, 58, insoweit nicht veröffentlicht>, vom 6. Mai 2003
- BVerwG 2 WD 29.02 -
31 = NVwZ-RR 2004, 46 = DokBer 2004, 1> , vom 18. September 2003 - BVerwG
2 WD 3.03 -
NZWehrr 2005, 122 = NVwZ-RR 2004, 426 = DokBer 2004, 141> und vom 16. März
2004 - BVerwG 2 WD 3.04 -
2002 Nr. 1 = NZWehrr 2004, 213 = HFR 2005, 363 = DokBer 2004, 294>). Dazu ge-
nügt es nicht, einen historischen Geschehensablauf zu schildern, ohne hinreichend
präzise erkennen zu lassen, welche „Pflichtverletzungen … dem Soldaten als
Dienstvergehen zur Last gelegt werden" (vgl. § 107 Abs. 1 WDO). Die Darlegung
eines konkreten und nachvollziehbaren Geschehensablaufs hinsichtlich des dem
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Soldaten zur Last gelegten Verhaltens muss zu dem daraus abgeleiteten Vorwurf
einer oder mehrerer Dienstpflichtverletzung(en) in Beziehung gesetzt werden, wobei
es nicht darauf ankommt, ob die dabei in der Anschuldigungsschrift zugrunde gelegte
Rechtsauffassung vom Gericht in seiner späteren Entscheidung geteilt wird oder
nicht. Entscheidend ist allein, dass in der konkreten Verknüpfung zwischen der Dar-
legung des historischen Geschehensablaufs und den daraus vom Wehrdisziplinar-
anwalt gezogenen Schlussfolgerungen der von diesem erhobene Vorwurf deutlich
wird. Die gesetzliche Vorgabe ist trotz der als Sollvorschrift gestalteten Fassung des
§ 99 Abs. 1 Satz 2 WDO zwingend, soweit sie sich auf diesen notwendigen Inhalt der
Anschuldigungsschrift bezieht (vgl. Dau, WDO, 4. Aufl. 2002, § 99 RNr. 5 m.w.N.).
Dies folgt insbesondere aus dem Regelungszweck und aus rechtsstaatlichen Grün-
den (Art. 20 Abs. 1 GG). Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. dazu etwa Urtei-
le vom 18. Mai 2001 - BVerwG 2 WD 42.00, 43.00 -
236.1 § 8 SG Nr. 3 = NJW 2002, 980 = DVBl 2002, 122 = ZBR 2002, 316> und vom
28. April 2005 - BVerwG 2 WD 25.04 -) hat die Anschuldigungsschrift einerseits die
Aufgabe, dem Betroffenen die Vorbereitung seiner Verteidigung zu ermöglichen. Au-
ßerdem bildet der darin niedergelegte Sachverhalt zugleich auch die unabänderliche
Grundlage für die Verhandlung und Entscheidung des zuständigen Wehrdienstge-
richts und bindet insoweit den Wehrdisziplinaranwalt. Die Wehrdienstgerichte können
und dürfen den vom Wehrdisziplinaranwalt angeschuldigten Sachverhalt weder er-
weitern noch einengen. Deshalb darf auch z.B. nicht offen bleiben, welche Bekun-
dungen von Zeugen als zutreffend angesehen oder welche Tatsachen aufgrund von
Zeugenaussagen und sonstigen Beweismitteln als erwiesen betrachtet werden und
aus der Sicht des Wehrdisziplinaranwalts einen Schuldvorwurf gegen den Betroffe-
nen rechtfertigen (Urteil vom 18. Mai 2001 - BVerwG 2 WD 42.00, 43.00 - ).
Aus dieser - rechtsstaatlich unverzichtbaren - doppelten Aufgabe der Anschuldi-
gungsschrift folgt mithin, dass ein Anschuldigungssatz nur dann hinreichend be-
stimmter Inhalt der Anschuldigungsschrift ist, wenn der in ihm erhobene Vorwurf ei-
nes schuldhaften Dienstvergehens in diesem Sinne aus der Sicht des Empfängers
der Anschuldigungsschrift bei objektiver Betrachtungsweise konkret und eindeutig zu
entnehmen ist. Verbleiben insoweit Zweifel, fehlt es an einer hinreichenden Anschul-
digung im Sinne des § 99 Abs. 1 WDO.
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Diese rechtlichen Anforderungen erfüllt die Anschuldigungsschrift im Anschuldi-
gungspunkt 1 nicht. Darin wird dem Soldaten vorgeworfen, er habe am Vormittag des
27. März 2003 im Besprechungsraum der vom S. genutzten Liegenschaft R. (Raum
243) in B. „den dort zusammengerufenen Angehörigen des vertretungsweise von ihm
geführten Dezernats ‚Prozessmanagement HP Organisation’ mitgeteilt, dass er sich
gezwungen sehe, den Dezernatsangehörigen die Teilnahme an Sportausbildungen
sowie an Schul- und Gefechtsschießen einschließlich der Tätigkeit als Funktionsper-
sonal zu untersagen, da die Durchführung dieser Befehle geeignet sei, die seiner
Ansicht nach rechtswidrige Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an dem
rechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak zu unterstützen“.
Die in der Anschuldigungsschrift verwendete Formulierung („mitgeteilt, dass er sich
gezwungen sehe …“) lässt offen, ob dem Soldaten zum Vorwurf gemacht wird, den
versammelten Angehörigen seines Dezernats (lediglich) angekündigt zu haben, ih-
nen „die Teilnahme an Sportausbildungen sowie an Schul- und Gefechtsschießen
einschließlich der Tätigkeit als Funktionspersonal zu untersagen“ oder dass er einen
entsprechenden Befehl erteilt habe. Soweit ihm anschließend auch seine Äußerung
(vom 27. März 2003) zum Vorwurf gemacht wird, die Durchführung „dieser Befehle“
sei geeignet, „die seiner Ansicht nach rechtswidrige Beteiligung der Bundesrepublik
Deutschland an dem rechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak zu unterstützen“,
werden diese „Befehle“ nicht näher bezeichnet. Damit bleibt unklar, auf welche Be-
fehle sich dieser Vorwurf bezieht. Die beiden in der Anschuldigungsschrift wiederge-
gebenen Befehle des Abteilungsleiters Oberst i.G. M. vom 7. April 2003 können da-
mit nicht gemeint sein, da sie erst nach dem 27. März 2003 ergingen, auf den sich
aber der Anschuldigungspunkt 1 ausschließlich bezieht. Soweit dem Soldaten zum
Vorwurf gemacht werden sollte, er habe mit den angesprochenen „Befehlen“ solche
zur „Teilnahme an Sportausbildungen sowie an Schul- und Gefechtsschießen“ ge-
meint, bleibt unklar, welchen genauen Inhalt sie gehabt haben sollen und wann sie
von wem erteilt wurden. Darüber hinaus ist der Zeitfaktor auch im Übrigen unbe-
stimmt. Denn in der Anschuldigungsschrift wird offen gelassen, wann die „Teilnahme
an Sportausbildungen und/oder an Schul- und Gefechtsschießen“ erfolgen sollte, auf
die sich die Äußerungen des Soldaten vom 27. März 2003 bezogen haben sollen.
Weiterhin bleibt unklar, wie die Formulierung „den Dezernatsangehörigen“ zu verste-
hen ist, da diese nicht namentlich benannt sind, und ob diese mit den im Anschuldi-
- 14 -
gungspunkt 1 ebenfalls genannten „zusammengerufenen Angehörigen“ identisch
sind.
Auch das in der Anschuldigungsschrift wiedergegebene wesentliche Ergebnis der
Ermittlungen, das zur Auslegung des Anschuldigungssatzes herangezogen werden
kann, enthält keine hinreichenden Anhaltspunkte, die der Klärung des konkreten Tat-
vorwurfs dienen. Im Wesentlichen wird hier lediglich der verfügende Teil der An-
schuldigungsschrift wiederholt.
Außerdem werden die Anschuldigungspunkte 1 und 2 hinsichtlich des angeschuldig-
ten Tatverhaltens und der rechtlichen Würdigung in der Anschuldigungsschrift derart
undifferenziert zusammengefasst dargestellt, dass nicht zu erkennen ist, welches
Verhalten in Anschuldigungspunkt 1 zu welcher rechtlichen Würdigung des Wehrdis-
ziplinaranwalts in diesem Anschuldigungspunkt führt. In der Anschuldigungsschrift
heißt es im Anschluss an die im Anschuldigungssatz erfolgte Darstellung der beiden
Anschuldigungspunkte lediglich ganz allgemein, „durch sein Verhalten“ habe der
Soldat die ihm obliegenden Dienstpflichten verletzt, die dann durch Aneinanderrei-
hung von einzelnen Vorschriften des Soldatengesetzes aufgezählt werden. Welches
„Verhalten“ der Wehrdisziplinaranwalt meint, ist im Hinblick auf konkret zur Last ge-
legte Dienstpflichtverletzungen nicht zweifelsfrei feststellbar. Insbesondere bleibt of-
fen, ob der Vorwurf der Verletzung der in der Spiegelstrichaufzählung aufgeführten
Dienstpflichten sich sowohl auf den Anschuldigungspunkt 1 als auch den Anschuldi-
gungspunkt 2 oder lediglich auf Teile davon beziehen soll. Die nach Auffassung des
Wehrdisziplinaranwalts vorliegenden einzelnen Dienstpflichtverletzungen des Solda-
tengesetzes werden somit dem Anschuldigungspunkt 1 nicht konkret zugeordnet.
Eine solche Präzisierung ist aber aus rechtsstaatlichen Gründen unerlässlich, weil
anderenfalls insbesondere nicht in dem erforderlichen Maße gewährleistet ist, dass
sich der betreffende Soldat hinreichend verteidigen kann.
3.2 Im Anschuldigungspunkt 2 genügt die Anschuldigungsschrift dagegen den darge-
legten Anforderungen, da hinreichend klar erkennbar ist, was dem Soldaten vorge-
worfen wird.
- 15 -
3.3 In der Sache hat der Senat zu Anschuldigungspunkt 2 auf Grund der Einlassung
des Soldaten, soweit ihr gefolgt werden konnte, der gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO
i.V.m. § 249 Abs. 1 Satz 1 StPO zum Gegenstand der Berufungshauptverhandlung
gemachten Urkunden und Schriftstücke, der am 21. September 2004 beim Senat
eingegangenen amtlichen Auskünfte des Oberst i.G. R. vom 12. September 2004,
des Brigadegenerals Sch. vom 17. September 2004 und des Ministerialrates G. vom
(ohne näheres Datum) September 2004 sowie der Vernehmung der Zeugen
Oberst i.G. P., Oberst i.G. M. und des Richters am Truppendienstgericht (zuvor Lei-
tender Rechtsberater des S.) S. in der Berufungshauptverhandlung folgenden Sach-
verhalt festgestellt:
Der Soldat war zur Tatzeit bis zu seiner am 7./8. April 2003 erfolgten Ablösung von
seinem Dienstposten im S. mit Aufgaben zur Verwirklichung des IT-Projekts SASPF
beschäftigt. Ziel dieses Projekts ist die Neuordnung von Arbeitsabläufen durch Pro-
zessorientierung und die Verbesserung der IT-Unterstützung durch Schaffung einer
integrierten Datenverarbeitungslandschaft in der Bundeswehr. Grundelement ist die
Einführung des industrieüblichen Softwareprodukts R/3 (mySAP) der Firma SAP AG
in der gesamten Bundeswehr. Mit der Einführung des Softwareprodukts R/3 (my-
SAP) soll eine Vielzahl der bisher rund 1.200 Fachinformationssysteme (z.B. PER-
FIS, VOCON, EMIR u.v.m), die der Unterstützung logistischer und administrativer
Fachaufgaben im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung die-
nen, durch eine einheitliche und übergreifende Lösung ersetzt werden. Die Projekte
der Bundeswehr und entsprechende Entwicklungen in den Streitkräften anderer NA-
TO-Staaten, darunter der US-Navy und der US-Army, sollen die Basis für eine „um-
fassende abgestimmte Industry Solution Defense“ bilden (vgl. amtliche Auskünfte
vom September 2004). Als Voraussetzung für die Realisierung des IT-Projekts
SASPF müssen die Betriebsabläufe der Bundeswehr in diesen Bereichen („vernetzte
Hauptprozesse“, vgl. dazu u.a. Romes in Europäische Sicherheit Nr. 2/2001, 48 f.; te
Koning in „Y“ Nr. 1/2005, 94 f.) erfasst und umgesetzt werden.
Nach einer „Fokussierungsphase“ im Frühjahr 2003 wurde das Projekt zwischenzeit-
lich neu ausgerichtet. So wurden die Teilprojekte Pilotinstallation, Instandhaltungslo-
gistik, Personal (mit dem Anteil Personelles Meldewesen), Business Information Wa-
rehouse (erste Ausbaustufe) sowie Pilot Rechnungswesen (eingeschränkte Funktio-
- 16 -
nalität) ausweislich der erteilten amtlichen Auskünfte vom September 2004 „bereits
weitestgehend realisiert“. Die in dieser ersten Realisierungsphase noch fehlenden
Teilprojekte Infrastruktur/Umweltschutz, Sanitätsmaterialwirtschaft, Drehflügler und
Wirkverbund Marine werden gegenwärtig konzipiert bzw. realisiert. Weitere Teilpro-
jekte sind in Vorbereitung. Im September 2004 nutzten über alle Teilprojekte etwa
7.000 Nutzer in ca. 120 Dienststellen das IT-Projekt SASPF.
Dieses IT-Projekt SASPF soll nach den erteilten amtlichen Auskünften in der Lage
sein, die Einsätze der Bundeswehr innerhalb ihres „erweiterten Aufgabenspektrums“
zu unterstützen und damit führungsrelevante Informationen aus den Bereichen Lo-
gistik, Personal, Organisation, Rechnungswesen etc. „online“ und „überall“ zur Ver-
fügung zu stellen. Die Gesamtheit der sechs „Fähigkeitskategorien“ (Führungsfähig-
keit, Nachrichtengewinnung und Aufklärung, Mobilität, Wirksamkeit im Einsatz, Un-
terstützung und Durchhaltefähigkeit, Überlebensfähigkeit und Schutz) soll mit Hilfe
des IT-Projekts SASPF so ausgestaltet werden, dass die Streitkräfte schrittweise und
ihrer Zuordnung zu „Kräftekategorien“ entsprechend abgestuft zur Vernetzten Opera-
tionsführung (NetOpFü) befähigt werden. Dabei soll Interoperabilität mit den Streit-
kräften anderer Nationen „der Schlüssel zu gemeinsamen Einsätzen mit komplemen-
tärer Aufgabenverteilung (Burden Sharing)“ sein. Durch das IT-Projekt SASPF sollen
die Wirksamkeit und Effizienz der Streitkräfte der Bundeswehr „besonders im Rah-
men multinationaler Operationen“ gesteigert werden. Auf diese Weise wird „zukünftig
die Interoperabilität zu den USA, aber auch anderen Streitkräften der NATO und EU
sichergestellt werden“. Im September 2004 war das IT-Projekt SASPF noch in der
Phase der Erprobung; eine SASPF-bezogene Unterstützung internationaler Verbün-
deter war zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht möglich (Amtl. Auskunft, ebd. zu 6b).
Die Einführung des IT-Projekts SASPF verlangt eine umfangreiche konzeptionelle
Weiterentwicklung von der Funktions- zur Prozessorientierung: Nicht mehr die gebil-
deten Aufbaustrukturen sollen die Prozesse bestimmen, sondern die Prozesse sollen
die Strukturen bestimmen (vgl. Romes, a.a.O.).
Konkret war der Soldat damit beauftragt, für das IT-Projekt SASPF als verantwortli-
cher Sachgebietsleiter „Material“ Beiträge zur Ausgestaltung des Feinkonzepts zum
Hauptprozess (HP) „Organisation“ (Org) zu erarbeiten sowie in Zusammenarbeit mit
anderen Prozessbeteiligten Schnittstellen zu definieren (innerhalb des HP Org sowie
- 17 -
u.a. zum HP „Logistik“ und anderen HP). Im Einzelnen bedeutete dies, die ablaufen-
den Prozesse hinsichtlich des insgesamt in der Bundeswehr gegenwärtig vorhande-
nen Materials für die IT-Projekt-Entwicklung zu bewerten und so konkret zu be-
schreiben, dass darauf aufbauend die Software SAP (oder gegebenenfalls eine an-
dere) programmiert werden kann.
Am 20. März 2003 suchte der Soldat einen Militärgeistlichen und einen Truppenarzt
des Sanitätszentrums B. auf, um beiden seine rechtlichen und ethischen Bedenken
gegen die Rolle der Bundesrepublik Deutschland im begonnenen Irak-Krieg der USA
und deren Verbündeter darzulegen und eine Bestätigung zu erhalten, dass die von
ihm der Presseberichterstattung entnommenen Meldungen über die Kriegsereignisse
und die daraus von ihm gezogenen Schlussfolgerungen keiner übertriebenen Wahr-
nehmung entsprangen. Der Arzt stellte den Soldaten einem Neurologen vor, auf des-
sen Anraten der Soldat in das Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz verbracht
wurde. Bei den bis zum 26. März 2003 andauernden Untersuchungen ergab sich
kein pathologischer Befund.
Am 27. März 2003 kehrte der Soldat gegen 10.00 Uhr in Zivilkleidung und mit ange-
steckter weißer Stoffblume in seine Dienststelle zurück. Vor Dezernatsangehörigen
äußerte er seine schweren Bedenken gegen den Irak-Krieg und die dabei einge-
nommene Rolle der Bundeswehr und erklärte, er halte zur Zeit dennoch seine Mitar-
beit am IT-Projekt SASPF für unbedenklich, da dieses wegen seiner Mängel ohnehin
nicht geeignet sei, Aktionen der deutschen Streitkräfte im Zusammenhang mit dem
Irak-Krieg zu unterstützen. Zugleich bat er Oberstleutnant H. und Hauptmann M., ihn
in den Besprechungsraum zu begleiten, um dort den Dezernatsangehörigen die
Gründe für seinen Krankenhausaufenthalt zu erklären. Anschließend erläuterte er im
Beisein auch von Hauptmann E. und Stabsunteroffizier B., dass das Eingreifen der
USA im Irak völkerrechtswidrig sei und dass seiner Ansicht nach die Bundesregie-
rung diesen Angriffskrieg in nicht vertretbarer Weise unterstütze. Er halte es dennoch
für unbedenklich, weiter im Dezernat Prozessmanagement HP Org zu arbeiten, da er
das laufende IT-Projekt SASPF ohnehin als „zum Scheitern verurteilt“ ansehe.
Ebenfalls am 27. März 2003 meldete sich der Soldat in Zivilkleidung bei dem Chef
des Stabes (ChdSt) S., dem Zeugen P. Er bat, ihn von der Verpflichtung zum Uni-
- 18 -
formtragen zu befreien, um nicht als Kombattant eines Angriffskrieges angesehen zu
werden, andernfalls werde er ein weißes Ärmelband oder eine vergleichbare Kenn-
zeichnung anlegen. Er führte aus, die Bundeswehr beteilige sich in verfassungswid-
riger Weise am Irak-Konflikt, und zwar vor allem durch die Stationierung von deut-
schen Soldaten in Kuwait, die Beteiligung deutscher Soldaten an AWACS-Flügen,
die Gewährung von Überflug- und Transitrechten für die im Irak operierenden Streit-
kräfte der USA und des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland
(UK) sowie die Bewachung von US-Liegenschaften in Deutschland durch deutsche
Soldaten. Der damalige Disziplinarvorgesetzte erkannte in dem Vorbringen des Sol-
daten einen Gewissenskonflikt und teilte ihm dies auch mit. Seine persönliche Mei-
nung sei, „dass die Sache mit dem Irak hätte anders laufen sollen“; ob gegen gelten-
des Recht verstoßen werde, könne er nicht sagen; er könne die Gedanken des Sol-
daten jedoch nachvollziehen. Der Zeuge P. sprach daraufhin einerseits mit dem Lei-
tenden Rechtsberater des S., dem Zeugen S., über die Rechtslage. Andererseits bat
er den Soldaten, dessen Sicht der Dinge möglichst bis zum nächsten Tag zu Papier
zu bringen. Als sich der Soldat am 28. März 2003 bei dem Zeugen P. meldete, befahl
dieser ihm, spätestens am 31. März 2003 in Uniform wieder zum Dienst zu erschei-
nen und dann seinen Dienst korrekt wahrzunehmen. Zugleich riet er ihm, den Leiten-
den Rechtsberater aufzusuchen, den er damit betraut hatte, dem Soldaten „die recht-
lichen Hintergründe zu erklären“, ihn über seine Rechte und Pflichten aufzuklären
und ihm die rechtlichen Konsequenzen aufzuzeigen, die sich aus seinem Verhalten
ergäben. Außerdem empfahl der Zeuge P. dem Soldaten, gegebenenfalls anwaltli-
che Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Gespräch des Soldaten mit dem Leitenden
Rechtsberater fand am 28. März 2003 statt. Es dauerte ca. zehn Minuten. Im An-
schluss daran suchte der Leitende Rechtsberater, der Zeuge S., den Zeugen P. auf
und teilte diesem mit, er habe den Soldaten über seine Rechte und Pflichten und die
rechtlichen Konsequenzen seines Verhaltens aufgeklärt; aus seiner Sicht sei mit dem
Soldaten kein Kompromiss zu erreichen. Kurze Zeit darauf suchte der Soldat erneut
den Zeugen P. auf und beschwerte sich erregt darüber, dass der Leitende Rechtsbe-
rater nicht konkret auf seine vorgetragenen Bedenken eingegangen sei und ihn auch
nicht über seine Rechte und Pflichten sowie über die Konsequenzen hinreichend
aufgeklärt habe.
- 19 -
Der Soldat bestand gegenüber dem Zeugen S. auf einer Diskussion über die völker-
rechtliche Bewertung des Themas. Hierzu sah sich aber der Zeuge, wie er glaubhaft
vor dem Senat ausgesagt hat, mangels insoweit hinreichender fachlicher Kompetenz
außer Stande. Der Zeuge S. wandte sich deshalb an das Bundesministerium der
Verteidigung und bat um eine entsprechende fachliche Stellungnahme. Das von dort
per Fax erhaltene und mit der Leitung des Ministeriums abgestimmte „Punktations-
Papier“ legte er dann seiner Belehrung des Soldaten zugrunde. Dieses Papier ist
dem Senat in der Berufungshauptverhandlung übergeben worden. Es hat folgenden
Wortlaut:
„Die Bundesregierung hat unmissverständlich klargemacht:
- Sie lehnt ein militärisches Vorgehen gegen den Irak ab.
- Deutschland wird sich daran nicht beteiligen.
- Wir bedauern, dass der Weg der friedlichen Abrüstung des Iraks nicht
weiter verfolgt wird.
Die Bundesregierung hat den USA und Großbritannien folgende Zusagen
gemacht:
- Überflugrechte
- Nutzung ihrer Einrichtungen in Deutschland
- Schutz dieser Einrichtungen
Die Bundesregierung hat außerdem dem weiteren Einsatz deutscher Sol-
daten in Awacs-Flugzeugen zur Überwachung des türkischen Luftraums
zugestimmt.
Mit diesen Zusagen hat die Bundesregierung ihren politischen Verpflich-
tungen Rechnung getragen, die sich aus dem NATO-Vertrag sowie den
entsprechenden Abkommen ergeben.
Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wurde über Jahrzehnte vor
allem durch die Solidarität unserer Bündnispartner gewährleistet.
Daraus ist auch für uns eine starke Verpflichtung zu solidarischem Verhal-
ten gegenüber unseren Partnern erwachsen.
Die Sicherheitsratsresolution 1441 droht ernsthafte Konsequenzen an für
den Fall, dass der Irak seinen Verpflichtungen zur Zerstörung der Massen-
vernichtungswaffen nicht nachkommt. Die Frage, ob zur Legitimation von
militärischen Zwangsmaßnahmen eine weitere Resolution des Sicherheits-
rats erforderlich ist, wurde bei der Verabschiedung der Resolution 1441
bewusst offen gelassen.
Vor diesem Hintergrund wird die Bundesregierung ihrer Verpflichtung zur
Solidarität mit ihren Partnern im Geiste des NATO-Vertrages und der da-
raus abzuleitenden politischen Verpflichtungen weiter nachkommen.“
Am 28. März 2003 wurde der Soldat auf seinen Antrag vom Dienst freigestellt und
erhielt danach eine Woche Erholungsurlaub.
- 20 -
Mit Schreiben vom 29. März 2003 wandte sich der Soldat an den Wehrbeauftragten
des Deutschen Bundestages und beschwerte sich u.a. über die Art, wie mit ihm seit
dem 20. März 2003 umgegangen worden sei. Während der Militärgeistliche ihm mit-
geteilt habe, dass auch er die „Meldungen über den Kriegsbeginn und die Auslegung
als Völkerrechtsbruch auch im WDR-Fernsehen“ so vernommen und die Entwicklung
sehr bedauert habe, habe der Truppenarzt ihn an den Neurologen überwiesen, der
ihn umgehend zur stationären psychiatrischen Untersuchung in das Bundeswehr-
zentralkrankenhaus Koblenz verbracht habe. Die missliche Lage sei aber kein
Grund, an seinem Verstand zu zweifeln und ihn auf diese Weise aus dem Verkehr zu
ziehen. Auch wenn die Einlieferung in die „Klapsmühle“ ungeheuerlich erscheine,
könne er dies aus Gründen der Fürsorgepflicht noch nachvollziehen. Ungeheuerlich
und in keinem Fall hinnehmbar sei dagegen, was man nach seiner Entlassung aus
dem Krankenhaus unternommen habe, um ihn, wie er meine, rechtswidrig „auf Kurs
zu bringen“. So habe der Rechtsberater gleich zu Beginn des Gesprächs, bevor er
seine schriftliche Meldung zur Kenntnis genommen habe, versucht, ihn einzuschüch-
tern, in dem er ihm grundlos Dienstpflichtverletzungen vorgeworfen und gesagt habe,
es gebe nur „eine“ klare Rechtsauffassung. Für den Fall, dass er sich der einzig ver-
bindlichen Rechtsauffassung widersetze, seien ihm negative Konsequenzen ange-
droht worden. Die einseitig einschüchternde Art des Rechtsberaters, insbesondere
ihm mit der Degradierung oder Entlassung zu drohen, sei unzulässig gewesen. Zu-
dem habe er, als er gefragt habe, was denn geschehe, wenn er seiner Pflicht konse-
quent nachkäme, sogar Hohn über sich ergehen lassen müssen („Held der Frie-
densbewegung“). Dem Rechtsberater sei es offensichtlich gar nicht um Beratung
oder Eröffnung von Rechten gegangen, sondern nur darum, geradezu demonstrativ
Druck auszuüben und jegliche objektive juristische Erläuterung abzulehnen. Außer-
dem hob der Soldat in diesem Schreiben hervor, er könne die Argumentation seines
Abteilungsleiters vom 27. März 2003, seine derzeitige Tätigkeit (Hauptauftrag) könne
sich entgegen der von ihm geäußerten Begründung durchaus auf die Beteiligung am
Krieg „positiv“ auswirken, zumindest formal nicht entkräften. Er, der Soldat, sehe sich
somit seither nicht mehr in der Lage, seinem Hauptauftrag nachzukommen. Auf die-
ses Schreiben erhielt der Soldat vom Wehrbeauftragten bislang lediglich eine Ein-
gangsbestätigung, jedoch keine Antwort in der Sache.
- 21 -
Ebenfalls am 29. März 2003 verfasste der Soldat im Nachgang zu einer vorherge-
henden „Meldung“ vom 27. März 2003 ein auf dem Dienstweg an den Bundeskanzler
adressiertes Schreiben, in dem er seine Rechtsauffassung zum Irak-Konflikt darlegte
und begründete, weshalb er auf seinem Dienstposten seinen dienstlichen Hauptauf-
trag nicht mehr ausführen könne. Wörtlich heißt es in diesem Schreiben u.a.:
„Die Argumentation meines Abteilungsleiters, meine derzeitige Tätigkeit
(Hauptauftrag) könne sich durchaus auf die Beteiligung am Krieg ‚positiv’
auswirken, kann ich nicht entkräften. Ich schließe mich nach reiflicher
Überlegung dieser zumindest formal begründeten Ansicht an. Damit kann
ich auch meinen Hauptauftrag voraussichtlich bis zu einer die Problematik
umfassenden Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht nicht
weiter ausführen.“
Oberstleutnant H. teilte dem Abteilungsleiter G 6 im S., dem Zeugen M., unter dem
3. April 2003 schriftlich mit, in dem Gespräch am 27. März 2003 habe der Soldat
ausgeführt, er könne es mit seinem Gewissen und seinem Eid nicht vereinbaren,
Handlungen vorzunehmen oder Befehle zu befolgen, die in irgendeiner Form geeig-
net seien, die Kriegshandlungen im Irak zu unterstützen.
Nach Rückkehr aus dem Urlaub am 7. April 2003 trug der Soldat wieder Uniform,
allerdings mit einer weißen Stoffrose in der Hand als Zeichen seiner Distanzierung.
Der Zeuge M., der (damalige) Disziplinarvorgesetzte des Soldaten, erteilte diesem
gegen 15.00 Uhr im Beisein des Zeugen P. im S. in B. zwei Befehle zur Erfüllung
seiner Dienstpflichten, die er ihm in Schriftform aushändigte. Diese Befehle lauteten:
„1. Befehl
Ich befehle Ihnen, auf Ihrem Dienstposten alle Arbeiten an Vorhaben der
Bw einschließlich SASPF so umfassend, so gut und so schnell wie mög-
lich zu leisten mit dem Ziel, die Arbeiten bzw. die Vorhaben zu einem
möglichst schnellen positiven Abschluss zu bringen, damit die Leistungs-
und Einsatzfähigkeit der Bw gesteigert wird. Ich befehle Ihnen, dies zuver-
lässig und unabhängig von Ihren persönlichen Überlegungen zum Irak-
Krieg und dem, wie Sie die Haltung der Bw dazu einschätzen, zu tun.
2. Befehl
Ich befehle Ihnen, als Vorgesetzter (aufgrund des DGr) und als stv DezLtr
alles zu tun, damit alle Untergebenen ihr Bestes tun können, um alle Ar-
beiten an allen Vorhaben, einschließlich SASPF, ohne Einschränkungen
und möglichst schnell zu einem erfolgreichen Abschluss führen können,
um damit die Leistungsfähigkeit der Bw zu stärken. Ich befehle, dass sie
nichts unternehmen, was Ihre Untergebenen daran hindern könnte, ihre
- 22 -
militärische Leistungsfähigkeit zu steigern - auch durch Sport- und
Schießausbildung und Leistungsmärsche. Ich befehle, dies zuverlässig
und unabhängig von Ihren persönlichen Überlegungen zum Irak-Krieg und
dem, wie Sie die Haltung der Bw dazu einschätzen, zu tun.“
Vor der Erteilung der schriftlichen Befehle hatte der Zeuge M. noch ein Gespräch mit
dem Soldaten geführt. Hierbei ging es um die Einstellung des Soldaten und um des-
sen Mitarbeit an dem IT-Projekt SASPF.
Wie sich aus den glaubhaften Bekundungen des Zeugen M. in der Berufungshaupt-
verhandlung ergibt, wollte der Soldat zunächst am IT-Projekt SASPF weiter arbeiten,
weil nach seiner Auffassung dadurch ohnehin die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr
nicht gesteigert würde. Dem hatte der Zeuge mit den Worten widersprochen, das
Programm erhöhe durchaus die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Ferner hatte er
zum Ausdruck gebracht, dass er Teile des Konflikts, in dem sich der Soldat befinde,
nachvollziehen könne, allerdings „nicht in letzter Konsequenz“.
Nach der glaubhaften Bekundung des Zeugen M. hat der Soldat vor der Aushändi-
gung der Befehle vom 7. April 2003 noch nie die Ausführung eines Befehls verwei-
gert. In der Folgezeit wurde dem Zeugen von Dritten übermittelt, dass der Soldat in
dem Gespräch mit dem Rechtsberater auf die Konsequenzen seines Verhaltens hin-
gewiesen wurde.
Wie sich aus dem glaubhaften Vorbringen des Zeugen M. des Weiteren ergibt, war
der Soldat für seinen Aufgabenbereich noch nicht vollständig ausgebildet und befand
sich noch im Stadium der Einarbeitung.
Nach der Übergabe der schriftlichen Befehle erklärte der Soldat gegenüber dem Zeu-
gen M., dass er jeden einzelnen Befehl prüfen werde. Es war nicht die Absicht des
Zeugen M., den Soldaten von der Prüfung gegebener Befehle abzuhalten. Er wollte
jedoch verbindlich wissen, ob der Soldat am IT-Projekt SASPF weiter arbeite oder
nicht. Der Soldat stellte ihm daraufhin seinerseits die Frage, ob er ausschließen kön-
ne, dass das IT-Projekt SASPF einen Beitrag zum Irak-Krieg leisten könne. Der Zeu-
ge M. konnte dies nicht ausschließen.
- 23 -
Der Soldat erklärte daraufhin, die Befehle, zumindest bis zum Ende des Konflikts
oder bis zur Klärung der Rechtslage z.B. durch das Bundesverfassungsgericht nicht
ausführen zu können.
Nach der Ablösung vom bisherigen Dienstposten am 7. April 2003 erhielt der Soldat
am 8. April 2003 einen neuen Auftrag, mit dessen Ausführung er einverstanden war,
weil nach seiner Auffassung mit dieser neuen Aufgabe eine indirekte Beteiligung am
Irak-Krieg nicht verbunden war.
In einem Vermerk vom 8. April 2003 hat der Zeuge P. u.a. festgehalten, seine Bemü-
hungen in den vorangegangenen Gesprächen mit dem Soldaten, ihn von seiner
„rechtsirrigen Einstellung“ abzubringen und ihn aufzufordern, seinen Pflichten als
Offizier und Vorgesetzter nachzukommen, betrachte er als erschöpft. Angesichts des
im Vorfeld erteilten fürsorglichen Hinweises, die ausdrückliche Verweigerung des
Gehorsams auf ihm erteilte Befehle begründe den Verdacht einer Straftat nach § 20
WStG, sah er die Abgabe an die Staatsanwaltschaft nach § 33 Abs. 3 WDO nunmehr
als gebotene Konsequenz an.
In dem Abgabeschreiben des Zeugen P. an die Staatsanwaltschaft Bonn vom
14. April 2003 wird u.a. ausgeführt:
„Der Offizier wurde durch seinen Vorgesetzten vor Befehlserteilung da-
rüber aufgeklärt, dass ein Ungehorsam gegenüber diesen Befehlen als
Tatbestand der Gehorsamsverweigerung nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 WStG
(‚Auflehnung in Wort oder Tat’) an die Staatsanwaltschaft abgegeben wer-
de.“
Die Staatsanwaltschaft B. teilte dem Wehrdisziplinaranwalt unter dem 18. Mai 2003
mit, sie beabsichtige, das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO einzustellen, zumal
sich der Soldat in den zur Tatzeit vorherrschenden politischen und medialen Veröf-
fentlichungen „insbesondere auch keine eindeutige Belehrung“ habe verschaffen
können. Auf diese Mitteilung erwiderte der Zeuge S. in seiner damaligen Eigenschaft
als Wehrdisziplinaranwalt mit Schreiben vom 18. Juni 2003 an die Staatsanwalt-
schaft, dass er deren rechtliche Bewertung nicht zu teilen vermöge. Der Soldat habe
den Straftatbestand der Gehorsamsverweigerung gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 WStG
verwirklicht. In diesem Schreiben des Zeugen S. vom 18. Juni 2003 heißt es u.a.:
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„Eine eindeutige Belehrung über die fehlende strafrechtliche Relevanz der
Ausübung seines Dienstes auf seinem Dienstposten und damit einherge-
hend die Verbindlichkeit entsprechender Befehle erhielt der Soldat da-
rüber hinaus auch durch mich in meiner Funktion als Leitender Rechtsbe-
rater des S. in einem Gespräch am 28. März 2003. Auch diese Belehrung
erfolgte somit noch vor der Verweigerung der dem Soldaten am 7. April
2003 erteilten Befehle.“
In der Zeit nach Beginn des Irak-Krieges trug der Soldat mehrfach - auch in der
Hauptverhandlung vor dem Truppendienstgericht vom 9. Februar 2004 - eine äußer-
lich sichtbare weiße Stoffrose als Zeichen seiner persönlichen Distanzierung vom
Irak-Krieg. Nachdem ihm am 26. März 2004 das Tragen der Rose zur Uniform durch
seinen Disziplinarvorgesetzten verboten worden war, trug der Soldat nunmehr statt-
dessen ein etwa postkartengroßes Schild mit aufgemalter Rose und den Textzusät-
zen „Für das Recht und die Freiheit“ sowie „Ich beteilige mich nicht am Irak-Krieg“.
Dieses wurde ihm mit schriftlichem Befehl vom 7. April 2003 verboten, wogegen er
sich beschwerte, weil er u.a. seine Meinungsfreiheit eingeschränkt sah. Die Be-
schwerde wurde von der 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord zurückgewie-
sen (Beschluss vom 7. Juli 2004 - N 1 BLa 5/04 -). Dagegen hat der Soldat Verfas-
sungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben.
In seiner Einlassung vor dem Senat hat sich der Soldat bei der Darlegung seiner Hal-
tung, jede Teilnahme an Unterstützungshandlungen für den Irak-Krieg abzulehnen,
auf seine Pflichten als Soldat nach dem Grundgesetz und auf sein Gewissen beru-
fen. Er hat ausgeführt, er habe am 7. April 2003 keinen Befehl verweigert, sondern
darauf hingewiesen, dass ein derartiger Befehl nach seiner Parallelwertung in der
Laiensphäre an den gesetzlichen Bestimmungen des Art. 26 GG, § 80 StGB, § 5
WStG und § 11 Abs. 2 SG scheitern müsse. Darüber hinaus hat er vorgetragen, der
Rechtsberater, der Zeuge S., der ihn auf Anraten des Zeugen P. über seine Rechte
und Pflichten hätte belehren sollen, habe sich geweigert, ihn umfassend über die
Rechtslage zu belehren. Er, der Soldat, habe erwartet, dass der Zeuge S. zumindest
seine Begründung anhöre und in eine Prüfung eintrete. Der Zeuge habe aber nicht
einmal seine Argumente in dem schriftlichen Papier gelesen, sondern ihn einge-
schüchtert und mit Worten wie „Degradierung“, „Entlassung“ und „es gäbe nur eine
klare Rechtsauffassung“ unter Druck gesetzt. Der Soldat hat weiterhin ausgeführt,
dass er im Rahmen seiner Offizierausbildung unter Verweis auf die Verfassung und
- 25 -
die strafrechtlichen Bestimmungen darüber belehrt worden sei, mit aller Kraft gegen
einen rechtswidrigen Angriffskrieg Widerstand leisten zu müssen. Andererseits stehe
er in der soldatischen Pflicht, seine dienstlichen Aufgaben erfüllen zu müssen, bei
deren Ausführung aber nicht auszuschließen sei, dass damit auch zur Beteiligung an
einem rechtswidrigen Angriffskrieg beigetragen werde. Er habe schließlich am
7. April 2003 seinen Vorgesetzten, den Zeugen M., gefragt, ob er ausschließen kön-
ne, dass das IT-Projekt SASPF für Unterstützungsmaßnahmen des Irak-Krieges
verwendet werden könne. Der Zeuge M. habe dies gerade nicht ausschließen kön-
nen. Daraufhin habe er ihm erwidert, dass er unter diesen Voraussetzungen seiner
Arbeit an diesem Projekt nicht mehr uneingeschränkt nachkommen könne. Nachdem
er am 7. April 2003 von seinen Aufgaben entbunden worden sei, sei ihm am 8. April
2003 - mit seinem Einverständnis - ein neuer Auftrag im IT-Bereich des S. erteilt
worden, den er auch ausgeführt habe, weil er nicht „kriegsrelevant“ gewesen sei.
4. Der Soldat hat mit seinem ihm unter Anschuldigungspunkt 2 vorgeworfenen Ver-
halten kein Dienstvergehen begangen. Denn er war im Hinblick auf die ihm obliegen-
de Dienstpflicht nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SG nicht ungehorsam (dazu 4.1) und hat
auch im Übrigen seine Pflichten zum treuen Dienen nach § 7 SG (dazu 4.2), zur
Dienstaufsicht nach § 10 Abs. 2 SG (dazu 4.3), zur Durchsetzung eigener Befehle
nach § 10 Abs. 5 Satz 2 SG (dazu 4.4) und zur dienstlichen Achtungs- und Vertrau-
enswahrung nach § 17 Abs. 2 Satz 1 SG (dazu 4.5) nicht verletzt.
4.1 Kein Verstoß gegen die Pflicht zum Gehorsam (§ 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 SG)
Die beiden dem Soldaten am 7. April 2003 erteilten Weisungen seines Vorgesetzten
Oberst i.G. M. erfüllten zwar die rechtlichen Voraussetzungen eines Befehls (dazu
4.1.1). Die Pflicht eines Untergebenen zum Gehorsam unterliegt jedoch rechtlichen
Grenzen (dazu 4.1.2) und wird im vorliegenden Falle jedenfalls durch das Grundrecht
der Gewissensfreiheit begrenzt (dazu 4.1.3).
Denn der Soldat hatte eine von Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Gewissensentscheidung
getroffen und deshalb Anspruch darauf, dass ihm eine gewissenschonende Hand-
lungsalternative bereitgestellt wurde (dazu 4.1.4). Das ergibt sich sowohl aus dem
konkreten Kontext des Handelns des Soldaten (dazu 4.1.4.1) als auch aus seiner
nachvollziehbaren glaubhaften Darlegung von Umständen, die auf die Ernsthaftig-
- 26 -
keit, Tiefe und Unabdingbarkeit der geltend gemachten Gewissensentscheidung,
namentlich auch auf die Glaubwürdigkeit seiner Persönlichkeit und seine Bereitschaft
zur Konsequenz schließen lassen (dazu 4.1.4.2). Der Soldat hat mit seinem von An-
schuldigungspunkt 2 erfassten Verhalten auch nicht die immanenten Schranken des
in Anspruch genommenen Grundrechts der Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1
GG) überschritten (dazu 4.1.5). Art. 4 Abs. 1 GG enthält keinen Gesetzesvorbehalt
(dazu 4.1.5.1). Er steht ferner nicht unter einem numerischen Vorbehalt der Inan-
spruchnahme (dazu Unterabschnitt 4.1.5.2) und wird - jedenfalls im vorliegenden
Fall - auch nicht durch die wehrverfassungsrechtlichen Vorschriften Art. 12a, 65a, 73
Nr. 1, Art. 87a und 115a ff. GG unter dem Gesichtspunkt der notwendigen „Funkti-
onsfähigkeit der Bundeswehr“ verdrängt (dazu 4.1.5.3).
Demzufolge bedarf es hier keiner abschließenden Prüfung und Entscheidung der
Frage, ob die beiden Befehle - abgesehen von den Schutzwirkungen des Art. 4
Abs. 1 GG - außerdem auch deshalb rechtlich nicht verbindlich waren, weil ihre Aus-
führung nicht den durch das Grundgesetz festgelegten Aufgaben der Bundeswehr
entsprochen, im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 1 Alternative 2 SG also nicht-
dienstlichen Zwecken (dazu 4.1.2.2) gedient hätte, gegen die Menschenwürde (dazu
4.1.2.1) verstoßen (§ 11 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 1 Alternative 1 SG) oder Straftaten
(dazu 4.1.2.3) bewirkt hätte (§ 11 Abs. 2 Satz 2 SG), unmöglich gewesen wäre (dazu
4.1.2.4), unmittelbar die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ - Art. 25 GG - (dazu
4.1.2.5) oder das Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges - Art. 26 Abs. 1
Satz 1 GG - (dazu 4.1.2.6) verletzt hätte.
4.1.1 Befehl
Das Soldatengesetz definiert den Begriff „Befehl“ nicht, sondern setzt ihn mit dem
gleichen Inhalt voraus, wie er in § 2 Nr. 2 WStG festgelegt ist (stRspr.: vgl. u.a. Be-
schluss vom 8. November 1990 - BVerwG 1 WB 86.89 -
NZWehrr 1991, 69 = NJW 1990, 1317 = NVwZ 1991, 579 [LS] = ZBR 1991, 152
[LS]>). Danach ist als Befehl jede Anweisung zu einem bestimmten Verhalten anzu-
sehen, die ein militärischer Vorgesetzter (§ 1 Abs. 5 SG i.V.m. der Vorgesetztenver-
ordnung) einem Untergebenen schriftlich, mündlich oder in anderer Weise allgemein
oder für den Einzelfall und mit dem Anspruch auf Gehorsam erteilt (stRspr.: vgl. u.a.
- 27 -
Urteile vom 22. Juni 2004 - BVerwG 2 WD 23.03 -
2005, 43> m.w.N.; Scherer/Alff, SG, 7. Aufl. 2003, § 10 RNr. 40 m.w.N.).
Diese Voraussetzungen lagen hier vor. Die dem Soldaten am 7. April 2003 durch
seinen Vorgesetzten, den Zeugen M., in Anwesenheit des ChdSt S., des Zeugen P.,
mündlich erteilten und anschließend schriftlich überreichten Weisungen waren hin-
sichtlich des von dem Soldaten geforderten Verhaltens - gerade noch - hinreichend
bestimmt. Zwar war die Wortwahl beider Befehle teilweise vage („auf Ihrem Dienst-
posten alle Arbeiten der Bw einschließlich SASPF“, „alle Arbeiten an allen Vorhaben
einschließlich SASPF“, „so umfassend, so gut und so schnell wie möglich“, „zu einem
möglichst schnellen positiven Abschluss“). Nach dem Kontext der Befehlserteilung
war für den Soldaten zu diesem Zeitpunkt (7. April 2003) jedoch klar, welche konkre-
ten Dienstleistungen („Arbeiten“) im Rahmen des IT-Projekts SASPF damit gemeint
waren und von ihm gefordert wurden. Denn diese Arbeiten hatte er bislang schon
ausgeübt und sollte sie nunmehr aufgrund der Befehle ungeachtet seiner zur „indi-
rekten Beteiligung“ am Irak-Krieg vorgebrachten Bedenken fortsetzen. Ebenso war
für ihn der mit diesen Weisungen verbundene Anspruch auf Gehorsam eindeutig er-
kennbar. Gegenteiliges hat der Soldat selbst nicht geltend gemacht.
Nach den vom Senat getroffenen Feststellungen hat der Soldat am 7. April 2003 zwi-
schen 15.00 und 16.00 Uhr im Dienstzimmer des ChdSt S. in dessen Anwesenheit
die ihm durch seinen Vorgesetzten, den Zeugen M., mündlich erteilten und anschlie-
ßend nochmals schriftlich überreichten beiden Befehle nicht, jedenfalls nicht voll-
ständig, ausgeführt, nämlich den mit seinem Dienstposten verbundenen Aufgaben im
IT-Projekt SASPF in vollem Umfange weiter nachzukommen sowie als Vorgesetzter
seine Untergebenen zur Erfüllung dieses Auftrages anzuhalten und die Erfüllung
dienstaufsichtlich zu überwachen.
Der Soldat durfte jedoch die Ausführung dieser beiden Befehle auf seinem Dienst-
posten im S. verweigern.
4.1.2 Rechtliche Grenzen des Gehorsams
- 28 -
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SG muss jeder Soldat der Bundeswehr seinen Vorgesetzten
gehorchen. Er hat ihre Befehle gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 SG nach besten Kräften
vollständig, gewissenhaft und unverzüglich auszuführen. Die Pflicht zum Gehorsam
gehört zu den zentralen Dienstpflichten eines jeden Soldaten (stRspr.: vgl. u.a. Urtei-
le vom 14. November 1991 - BVerwG 2 WD 12.91 -
3. August 1994 - BVerwG 2 WD 18.94 - , vom 4. Juli 2001
- BVerwG 2 WD 52.00 - und
vom 2. Juli 2003 - BVerwG 2 WD 47.02 -
NZWehrr 2004, 80 = NVwZ-RR 2004, 191 = DokBer 2004, 43>). Bei dem vom Ge-
setzgeber (des Soldatengesetzes) geforderten Gehorsam handelt es sich jedoch um
keinen „blinden“ oder „unbedingten“ Gehorsam, den z.B. Art. 64 Abs. 1 der Verfas-
sung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 (RGBl. S. 63) und auch der Dienst-
eid der Soldaten der deutschen Wehrmacht vom 20. August 1934 (RGBl. I S. 785)
i.d.F. der Änderung vom 20. Juli 1935 (RGBl. I S. 1035) von jedem Soldaten forder-
ten.
Aus dem Grundgesetz und dem Soldatengesetz ergeben sich rechtliche Grenzen der
militärischen Befehlsbefugnis. Diese lassen sich in sieben Untergruppen zusammen-
fassen, deren Voraussetzungen und wechselseitige Verhältnisse bisher allerdings
nicht hinreichend geklärt sind und die deshalb zunächst zu bestimmen sind (dazu
4.1.2.1 bis 4.1.2.7). Der Soldat konnte sich bei seiner bewusst getroffenen Entschei-
dung, die ihm erteilten beiden Befehle nicht auszuführen, jedenfalls auf sein Grund-
recht der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG berufen (dazu 4.1.3).
4.1.2.1 In § 11 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 1 Alternative 1 SG hat der Gesetzgeber im
Anschluss an die Normierung der grundsätzlichen Gehorsamspflicht ausdrücklich
geregelt, dass kein Ungehorsam eines Soldaten vorliegt, wenn ein Befehl nicht be-
folgt wird, der die Menschenwürde verletzt. Die Menschenwürde, die nach Art. 1
Abs. 1 GG „unantastbar“ (Satz 1) und von „aller staatlichen Gewalt“ zu achten und zu
schützen ist (Satz 2), wird verletzt, wenn aufgrund des Befehls der Untergebene oder
ein von der Ausführung des Befehls betroffener Dritter einer Behandlung ausgesetzt
wird, die eine Verachtung oder Geringschätzung des dem Menschen kraft seines
Person-Seins zukommenden Wertes zum Ausdruck bringt (vgl. dazu u.a. BVerfG,
Urteil vom 15. Dezember 1970 - 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 u.a. -
- 29 -
[25 f.]>). Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen
zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu
entfalten. Diese Freiheit versteht das Grundgesetz allerdings nicht als diejenige eines
isolierten und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und
gemeinschaftsgebundenen Individuums. Dies bedeutet, dass auch in der Gemein-
schaft grundsätzlich jeder Einzelne als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert aner-
kannt werden muss. Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum
bloßen Objekt im Staate zu machen. Die Maxime „der Mensch muss immer Zweck
an sich selbst bleiben“ gilt uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete, auch für den Be-
reich der Streitkräfte. Denn die unverlierbare Würde des Menschen als Person be-
steht gerade darin, dass er ausnahmslos als selbstverantwortliche Persönlichkeit an-
erkannt wird (stRspr. des BVerfG: vgl. u.a. Urteil vom 21. Juni 1977 - 1 BvL 14/76 -
m.w.N.; Robbers in Umbach/Clemens , GG, Bd. I
2002, Art. 1 RNr. 13 ff.; zu von der Rspr. entschiedenen Einzelverstößen gegen die
Menschenwürde vgl. u.a. Schölz/Lingens, WStG, 3. Aufl. 1988, § 2 RNr. 36; Sche-
rer/Alff, a.a.O., § 11 RNr. 14).
Im vorliegenden Fall kann offen bleiben, ob der Unverbindlichkeitsgrund des § 11
Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 1 Alternative 1 SG („Menschenwürde“) auch den Schutz der
Freiheit des Gewissens nach Art. 4 Abs. 1 GG einschließt. Denn jedenfalls verkürzt
er diesen Schutz nicht.
4.1.2.2 Nach der in § 11 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 1 Alternative 2 SG getroffenen Re-
gelung ist die Nichtbefolgung eines Befehls ferner dann kein Ungehorsam, wenn der
Befehl nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist. Ein Befehl ist nur dann in die-
sem Sinne zu „dienstlichen Zwecken“ erteilt, wenn ihn der militärische Dienst erfor-
dert, um die durch die Verfassung festgelegten Aufgaben der Bundeswehr zu erfüllen
(stRspr.: vgl. dazu die Nachweise bei Scherer/Alff, a.a.O., § 10 RNr. 47 und § 11
RNr. 15). Die primäre Aufgabe der Bundeswehr ergibt sich dabei aus Art. 87a Abs. 1
GG, wonach der Bund Streitkräfte „zur Verteidigung“ aufstellt. Was nach dem
Grundgesetz unter einem Fall der „Verteidigung“ zu verstehen ist, lässt sich zum ei-
nen der Regelung über den „Verteidigungsfall“ in Art. 115a GG entnehmen, insbe-
sondere aus ihrem Wortlaut („Bundesgebiet [wird] mit Waffengewalt angegriffen“
oder „ein solcher Angriff [droht] unmittelbar“) und ihrer Entstehungsgeschichte (vgl.
- 30 -
dazu Claus Arndt in DÖV 1992, 618 [619]; Bähr, Verfassungsmäßigkeit des Einsat-
zes der Bundeswehr im Rahmen der Vereinten Nationen, 1994, S. 91 ff., 102 ff.
m.w.N.). Da der Normtext des Art. 87a Abs. 1 und 2 GG von „Verteidigung“, jedoch
- anders als die zunächst vorgeschlagene Fassung (vgl. dazu Bähr, a.a.O., S. 91) -
nicht von „Landesverteidigung“ spricht und da zudem der verfassungsändernde Ge-
setzgeber bei Verabschiedung der Regelung im Jahre 1968 auch einen Einsatz im
Rahmen eines NATO-Bündnisfalles als verfassungsrechtlich zulässig ansah, ist da-
von auszugehen, dass „Verteidigung“ alles das umfassen soll, was nach dem gelten-
den Völkerrecht zum Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der Charta der Vereinten
Nationen (UN-Charta), der die Bundesrepublik Deutschland wirksam beigetreten ist,
zu rechnen ist. Art. 51 UN-Charta gewährleistet und begrenzt in diesem Artikel für
jeden Staat das - auch völkergewohnheitsrechtlich allgemein anerkannte - Recht zur
„individuellen“ und zur „kollektiven Selbstverteidigung“ gegen einen „bewaffneten
Angriff“, wobei das Recht zur „kollektiven Selbstverteidigung“ den Einsatz von militä-
rischer Gewalt - über den Verteidigungsbegriff des Art. 115a GG hinausgehend -
auch im Wege einer erbetenen Nothilfe zugunsten eines von einem Dritten angegrif-
fenen Staates zulässt (z.B. „Bündnisfall“). Der Einsatz der Bundeswehr „zur Verteidi-
gung“ ist mithin stets nur als Abwehr gegen einen „militärischen Angriff“ („armed at-
tack“ nach Art. 51 UN-Charta) erlaubt, jedoch nicht zur Verfolgung, Durchsetzung
und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen. Außer „zur Verteidigung“
im dargelegten Sinne dürfen die Streitkräfte der Bundeswehr, wie die Verfassungs-
norm des Art. 87a Abs. 2 GG zwingend bestimmt, nur eingesetzt werden, soweit dies
das Grundgesetz „ausdrücklich“ zulässt; dies ist für Einsätze der Bundeswehr nach
Art. 87a Abs. 3 (Schutz ziviler Objekte und Verkehrsregelung im Verteidigungs- und
im Spannungsfall) und Abs. 4 GG (Unterstützung der Polizei beim Schutz von zivilen
Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufstän-
discher im Bundesgebiet) sowie nach Art. 35 Abs. 2 und 3 GG (insbesondere Hilfe
bei Naturkatastrophen und bei besonders schweren Unglücksfällen) der Fall. Dar-
über hinaus gehört nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine
Verwendung der Streitkräfte der Bundeswehr auf der Grundlage des Art. 24 Abs. 2
GG im Rahmen eines „Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ zu den Aufga-
ben, zu deren Erfüllung sie eingesetzt werden dürfen, soweit der Einsatz entspre-
chend den Regeln des betreffenden Systems erfolgt (Urteil vom 12. Juli 1994 - 2 BvE
- 31 -
3/92 u.a. - ), also insbesondere mit der UN-Charta
vereinbar ist.
Ein Befehl, der diesen Anforderungen nicht genügt und diesen Rahmen nicht einhält,
dient keinem „dienstlichen Zweck“ im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 1 Alter-
native 2 SG. Ein Soldat, der einen solchen Befehl nicht befolgt, begeht demgemäß
keinen Ungehorsam gegenüber seinem Vorgesetzten, weil er nicht zu einem
- verfassungsrechtlich zulässigen - dienstlichen Zweck erteilt worden ist.
Diesbezügliche Streitfragen müssen gegebenenfalls im Einzelfall von den dafür zu-
ständigen Gerichten entschieden werden, denen die (letztverbindliche) Klärung strit-
tiger Rechtsfragen durch das Grundgesetz anvertraut ist (Art. 20 Abs. 1, Art. 19
Abs. 4, Art. 92 GG).
Da sich der Soldat gegenüber den hier in Rede stehenden beiden Befehlen vom
7. April 2003 mit Erfolg jedenfalls auf die Schutzwirkung seines Grundrechts der Ge-
wissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) berufen kann (dazu 4.1.3 und 4.1.4), das weder
durch die einfachrechtliche Regelung über die Gehorsamspflicht nach § 11 Abs. 1
Satz 3 Halbsatz 1 Alternative 2 SG noch durch andere verfassungsrechtliche Vor-
schriften verdrängt wird (dazu 4.1.5), bedarf es vorliegend keiner näheren Prüfung
und Entscheidung der Frage, ob eine Ausführung dieser Befehle angesichts des am
20. März 2003 begonnenen Irak-Kriegs teilweise - wie der Soldat befürchtete - tat-
sächlich nicht-dienstlichen Zwecken im dargelegten Sinne gedient hätte und ob sie
schon deshalb unverbindlich waren.
4.1.2.3 Keiner näheren Prüfung bedarf im vorliegenden Verfahren auch die Frage
eines Verstoßes gegen § 11 Abs. 2 Satz 1 SG. In dieser Regelung ist insoweit nor-
miert, dass Befehle (auch) dann unverbindlich sind, wenn durch ihre Befolgung eine
Straftat begangen würde. Unter diese Vorschrift fallen alle Befehle, deren Ausfüh-
rung einen Straftatbestand des nationalen Strafrechts erfüllen würde (vgl. dazu u.a.
Schölz/Lingens, a.a.O., § 2 RNr. 38 f. m.w.N.; Scherer/Alff, a.a.O., § 11 RNr. 23 f.)
oder ein Delikt nach dem Völkerstrafrecht (vgl. dazu u.a. Horst Fischer/Sascha Rolf
Lüder , Völkerrechtliche Verbrechen vor dem Jugoslawien-Tribunal, nationa-
len Gerichten und dem Internationalen Strafgerichtshof, 1999; Hans-Peter Kaul in
- 32 -
Humanitäres Völkerrecht - Informationsschriften [HuV-I] 14 <2001>, 251 ff.; Khan in
Ambos/Arnold , Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, 2004, S. 449 ff.) wäre.
Auch diese einfachgesetzliche Regelung verdrängt nicht die verfassungsrechtliche
Schutzwirkung des Grundrechts der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG), auf die
sich der Soldat im vorliegenden Falle mit Erfolg berufen kann.
4.1.2.4 Die genannten Regelungen in § 11 Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 1 Alternativen 1
und 2 sowie Abs. 2 Satz 1 SG zählen die Gründe, deretwegen ein militärischer Be-
fehl unverbindlich ist, nicht abschließend auf. Dies ist allgemein anerkannt und ent-
spricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. dazu u.a.
Schölz/Lingens, a.a.O., § 2 RNr. 34; Scherer/Alff, a.a.O., § 11 RNr. 16 jeweils
m.w.N.). Dementsprechend ist in § 22 Abs. 1 WStG, der die strafrechtliche Beurtei-
lung des Nichtbefolgens eines unverbindlichen Befehls regelt, normiert, dass ein Be-
fehl nicht verbindlich ist, „insbesondere“ wenn er nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt
ist oder die Menschenwürde verletzt oder wenn durch das Befolgen eine Straftat be-
gangen würde. Aus dieser gesetzlichen Formulierung („insbesondere“) ergibt sich,
dass die Unverbindlichkeitsgründe vom Gesetzgeber in § 11 SG nicht erschöpfend
geregelt sind. So ist im Grundsatz unbestritten, dass Befehle unverbindlich sind, de-
ren Ausführung objektiv unmöglich ist (vgl. dazu u.a. Beschluss vom 8. Oktober 1968
- BVerwG 1 WDB 10.68 - ; Schölz/Lingens, a.a.O., § 2 RNr. 41;
Scherer/Alff, a.a.O., § 11 RNr. 18 m.w.N.), die sich inhaltlich widersprechen (vgl.
Scherer/Alff, a.a.O., § 11 RNr. 18; Schölz/Lingens, a.a.O., § 2 RNr. 42) oder die
durch eine grundlegende Veränderung der Sachlage sinnlos geworden sind (vgl.
Jescheck in Schüle/Scheurer/Jescheck, Bundeswehr und Recht, 1965, S. 84;
Schwenck, Wehrstrafrecht, 1973, S. 86 m.w.N.; Schölz/Lingens, a.a.O., § 2 RNr. 43).
Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
4.1.2.5 Rechtlich unverbindlich ist darüber hinaus nach der verfassungsrechtlichen
Bestimmung in Art. 26 Abs. 1 Satz 1 GG ein Befehl, dessen Erteilung oder Ausfüh-
rung als Handlung zu qualifizieren ist, „die geeignet ist und in der Absicht vorge-
nommen wird, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die
Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten“ (vgl. dazu u.a. Scherer/Krekeler,
WPflG, 3. Aufl. 1966, § 25 Anm. IV 7; Frank in Alternativkommentar zum Grundge-
setz , Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 26 RNr. 23; Brunn in Umbach/Clemens
- 33 -
, a.a.O., Art. 4 RNr. 101; Starck in von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 4. Aufl.
1999, Art. 4 RNr. 148). Das in Art. 26 Abs. 1 GG normierte Verbot des Angriffskrie-
ges, das an die völkerrechtliche Begrifflichkeit anknüpft (vgl. Hartwig in Umbach/
Clemens , a.a.O., Art. 26 RNr. 15 m.w.N.), umfasst nach seinem Wortlaut
zwar (neben den anderen friedensstörenden Handlungen) „nur“ dessen „Vorberei-
tung“. Vorbereitung ist jede zeitlich vor einem Angriffskrieg liegende Tätigkeit, die
seine Herbeiführung oder gar seine Auslösung fördert. Wenn ein Angriffskrieg jedoch
von Verfassungs wegen bereits nicht „vorbereitet“ werden darf, so darf er nach dem
offenkundigen Sinn und Zweck der Regelung erst recht nicht geführt oder unterstützt
werden (vgl. auch BTDrucks V/2860, S. 2). Denn die Führung eines Angriffskrieges
sowie dessen Förderung und Unterstützung ereignen sich nicht nur - in der nach
dem Grundgesetz bereits verfassungswidrigen - Phase der Vorbereitung. Sie erfol-
gen vielmehr schon im Stadium der Realisierung des (bereits im Vorfeld) Verbote-
nen. Dabei ist ein Angriffskrieg nach Art. 26 Abs. 1 Satz 1 GG unabhängig davon
verfassungswidrig, mit welcher subjektiven Zielsetzung er geführt wird. Die Regelung
geht davon aus, dass er in jedem Falle der Verfassung widerspricht, und zwar offen-
kundig deshalb, weil er stets objektiv geeignet ist, „das friedliche Zusammenleben
der Völker zu stören“. Dies gilt unabhängig davon, ob die von Art. 26 Abs. 1 Satz 1
GG erfasste Handlung zugleich eine Straftat darstellt. Denn alle von der Vorschrift
des Art. 26 Abs. 1 Satz 1 GG erfassten Handlungen sind kraft dieses durch das
Grundgesetz ausgesprochenen Verdikts verfassungswidrig, und zwar ungeachtet
dessen, ob sie der nationale Gesetzgeber auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 1
Satz 2 GG unter Strafe gestellt hat oder nicht (zur Frage der Differenz zwischen dem
verfassungsrechtlichen Pönalisierungsauftrag in Art. 26 Abs. 1 Satz 2 GG und der
strafrechtlichen Ausführungsregelung in § 80 StGB vgl. u.a. Klug in Baumann
, Misslingt die Strafrechtsreform?, 1969, S. 162; F. Müller, Die Pönalisierung
des Angriffskrieges im GG und im StGB der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Hei-
delberg, 1970, S. 90 ff.; Düx in Hannover/Kutscha/Skrobanek , Staat und
Recht in der Bundesrepublik Deutschland, 1987, S. 369 ff.; Hartwig in Umbach/
Clemens , a.a.O., Art. 26 RNr. 31; Generalbundesanwalt beim Bundesge-
richtshof, Entschließung vom 21. März 2003 [Pressemitteilung]
[909]>). Durch den Ausdruck „verfassungswidrig“ soll - wie sich insbesondere aus
der Entstehungsgeschichte dieser Norm ergibt - „die in einer Verfassung stärkste
rechtliche Verurteilung eines Tuns ausgesprochen werden“; die Handlung wird von
- 34 -
Verfassungs wegen außerhalb des Schutzes des Gesetzes („hors la loi“) gestellt (vgl.
dazu vor allem die Ausführungen des Vorsitzenden des Hauptausschusses des Par-
lamentarischen Rates Carlo Schmid [SPD] und des Abgeordneten Kaufmann [CDU]
in der 6. Sitzung des Hauptausschusses am 19. November 1948, Protokoll S. 69 ff.
[72]; JöR n.F. 1 <1951>, 237 ff., denen der Verfassungsgeber gefolgt ist). Die kon-
krete rechtliche Wirkung dieses scharfen Verdikts hängt vom jeweiligen Beurtei-
lungsgegenstand ab. Während für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines
Gesetzes nach Art. 100 GG ausschließlich das Bundesverfassungsgericht zuständig
ist, erfolgt die Feststellung der Verfassungswidrigkeit anderer hoheitlicher Akte, die
z.B. gegen Art. 26 Abs. 1 Satz 1 GG verstoßen, im Streitfalle - wie auch sonst (vgl.
Art. 19 Abs. 4 und Art. 92 GG) - durch das jeweils zuständige Gericht (vgl. dazu auch
Hernekamp in von Münch/Kunig , GG, Bd. 2, 5. Aufl. 2001, Art. 26 RNr. 25).
Dies gilt damit auch für die Frage, ob ein Befehl auf die Ausführung einer Handlung
gerichtet ist, die in den Anwendungsbereich des Art. 26 Abs. 1 Satz 1 GG fällt und
deshalb verfassungswidrig ist, so dass der Befehl damit unverbindlich ist. Einer der-
artigen gerichtlichen Feststellung bedarf es im vorliegenden Falle nicht, weil der Sol-
dat hier (bereits) wegen der Schutzwirkung seines Grundrechts der Gewissensfrei-
heit (Art. 4 Abs. 1 GG) die ihm erteilten Befehle nicht auszuführen brauchte; ihm per-
sönlich musste eine gewissenschonende Handlungsalternative angeboten werden.
Auf die Frage der generellen Unverbindlichkeit eines auf die weitere Mitarbeit am IT-
Projekt SASPF zielenden Befehls kam es hier deshalb nicht an.
4.1.2.6 Ein einem Untergebenen erteilter Befehl ist des Weiteren dann unverbindlich,
wenn seine Erteilung oder Ausführung gegen die „allgemeinen Regeln des Völker-
rechts“ verstößt. Diese sind nach Art. 25 GG „Bestandteil des Bundesrechtes“
(Satz 1). Sie „gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittel-
bar für die Bewohner des Bundesgebietes“ (Satz 2). Diese verfassungsrechtlich
zwingende Vorrangwirkung gilt gegenüber allen (deutschen) staatlichen Akten, ins-
besondere auch denen der „vollziehenden Gewalt“. Das bedingt namentlich auch,
dass die vollziehende Gewalt und die Gerichte verpflichtet sind, alles zu unterlassen,
was einer unter Verstoß gegen „allgemeine Regeln des Völkerrechts“ vorgenomme-
nen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des Grundgesetzes
Wirksamkeit verschafft (BVerfG, Beschluss vom 21. Mai 1987 - 2 BvR 1170/83 -
), und dass sie gehindert sind, an einer gegen solche Re-
- 35 -
geln verstoßenden Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger bestimmend mitzuwirken
(vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 31. März 1987 - 2 BvM 2/86 -
sowie Hofmann in Umbach/Clemens , a.a.O., Art. 25 RNr. 20). Entsprechend
der Vorrangwirkung des Art. 25 Satz 2 GG kann im Bereich der Bundeswehr ein mili-
tärischer Befehl eines Vorgesetzten, der den „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“
widerspricht, von Untergebenen keinen Gehorsam nach § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 SG
beanspruchen. Der Untergebene hat also, wenn ein Befehl derartige „allgemeine
Regeln des Völkerrechts“ verletzt, diese Regeln anstelle des ihm erteilten Befehls zu
befolgen. Denn Art. 25 GG verdrängt insoweit die Rechtswirkungen des § 11 Abs. 1
Satz 1 und 2 SG und verpflichtet den Untergebenen unmittelbar (vgl. dazu u.a.
Jescheck a.a.O., S. 82 f.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, 5. Aufl.
1996, § 35 II 2 b, S. 393; Schölz/Lingens, a.a.O., § 2 RNr. 40). Zu den „allgemeinen
Regeln des Völkerrechts“, zu dessen verbindlicher Feststellung in Zweifelsfragen
nach Art. 100 Abs. 2 GG das Bundesverfassungsgericht berufen ist, gehören nach
dessen ständiger Rechtsprechung neben denjenigen Normen, denen die Qualität
von völkerrechtlichem „ius cogens“ (= unabdingbares „zwingendes“ Völkerrecht im
Sinne von Art. 53 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WKV) vom 23. Mai 1969
) zukommt, das Völkergewohnheitsrecht sowie die allgemein
anerkannten Rechtsgrundsätze im Sinne des Art. 38 Abs. 1 Buchst. c des Statuts
des Internationalen Gerichtshofs (vgl. u.a. BVerfG, Beschlüsse vom 30. Oktober
1962 - 2 BvM 1/60 - und vom 14. Mai 1968 - 2 BvR 544/63 -
m.w.N.). Bestandteil des „ius cogens“ sind u.a. das völker-
rechtliche Gewaltverbot, das in Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta seinen Niederschlag ge-
funden hat, und die grundlegenden Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts (vgl.
dazu u.a. Hofmann in Umbach/Clemens , a.a.O., Art. 25 RNr. 13 m.w.N; zu
unzulässigen bewaffneten Schädigungshandlungen vgl. u.a. den Überblick bei Knut
Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 68 RNr. 10 ff.). Das Bestehen von Völkerge-
wohnheitsrecht setzt dabei eine durch eine Vielzahl von - alle weltweit bestehenden
Rechtskulturen repräsentierenden - Staaten befolgte Praxis („allgemeine Übung“)
voraus, die allgemein in der Überzeugung geübt wird, hierzu von Völkerrechts wegen
verpflichtet zu sein („opinio iuris“). Bei der Ermittlung von Normen des Völkerge-
wohnheitsrechts ist in erster Linie auf das völkerrechtlich verbindliche Verhalten der-
jenigen Staatsorgane abzustellen, die kraft Völkerrechts oder kraft innerstaatlichen
Rechts dazu berufen sind, den Staat im völkerrechtlichen Verkehr zu repräsentieren.
- 36 -
Daneben kann sich eine solche Praxis aber auch in den Akten anderer Staatsorgane,
wie solchen des Gesetzgebers oder der Gerichte, bekunden, zumindest soweit ihr
Verhalten unmittelbar völkerrechtlich erheblich ist, etwa zur Erfüllung einer völker-
rechtlichen Verpflichtung oder zur Ausfüllung eines völkerrechtlichen Gestaltungs-
spielraumes dienen kann (stRspr. des BVerfG: vgl. u.a. Beschlüsse vom 13. De-
zember 1977 - 2 BvM 1/76 - , vom 12. April 1983 - 2 BvR
678/81 u.a. - , vom 31. März 1987 - 2 BvM 2/86 -
75, 1 [21 ff.]> und vom 21. Mai 1987 - 2 BvR 1170/83 -
sowie Urteil vom 18. Dezember 1984 - 2 BvE 13/83 - ). Dage-
gen gehören völkervertragsrechtliche Regelungen, also durch rechtsgeschäftliche
Akte zwischen Völkerrechtssubjekten geschlossene völkerrechtliche Verträge und
Abkommen, grundsätzlich nicht zu den „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ im
Sinne von Art. 25 GG, es sei denn, in ihnen hätten Rechtsnormen des „ius cogens“
oder des Völkergewohnheitsrechts (deklaratorisch) ihren Niederschlag gefunden.
Das ändert freilich nichts daran, dass militärische Befehle - auch unterhalb der
Schwelle der Unverbindlichkeit nach Art. 25 Satz 2 GG - nur in den von § 10 Abs. 4
SG gezogenen Grenzen, nämlich u.a. „nur unter Beachtung der Regeln des Völker-
rechts“, also des gesamten Völkerrechts unter Einschluss des Völkervertragsrechts
(vgl. dazu u.a. Jescheck, a.a.O., S. 63 [71]; Scherer/Alff, a.a.O., § 10 RNr. 48) erteilt
werden dürfen.
Ob die Ausführung der hier in Rede stehenden beiden Befehle tatsächlich - wie der
Soldat meint - einen Verstoß gegen die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ kau-
sal bewirkt hätte, bedarf hier keiner näheren Prüfung und Entscheidung, weil sich der
Soldat gegenüber der von seinem Vorgesetzten beanspruchten Verbindlichkeit der
Befehle jedenfalls auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen konnte. Art. 25 GG stand dem
- jedenfalls im vorliegenden Falle - ersichtlich nicht entgegen.
4.1.2.7 Unverbindlich ist ein militärischer Befehl für einen Untergebenen schließlich
auch dann, wenn ihm die Ausführung nach Abwägung aller maßgeblichen Umstände
nicht zugemutet werden kann.
Im Ausgangspunkt ist dies in der Rechtsprechung und im Fachschrifttum seit langem
anerkannt (vgl. u.a. BDH Beschluss vom 8. März 1958 - WB 2.58 -
- 37 -
NZWehrr 1959, 13>; OLG Hamm, Urteil vom 16. Juli 1965 - 3 Ss 375/65 -
1966, 90 = NJW 1966, 212 [213]>; Beschluss vom 30. September 1970 - BVerwG
1 WDB 1.70 - ; Scherer in NZWehrr 1959, 130; Schreiber in
NZWehrr 1965, 1; Schölz/Lingens, a.a.O., § 2 RNr. 45; Scherer/Alff, a.a.O., § 11
RNr. 17 m.w.N.).
Allerdings sind die Voraussetzungen im Einzelnen bislang nicht hinreichend geklärt
(dazu 4.1.2.7.1 bis 4.1.2.7.4). Aus Art. 1 Abs. 3 GG sowie aus dem Wortlaut, der Ent-
stehungsgeschichte und aus dem Regelungszusammenhang des Art. 4 Abs. 1 GG
ergibt sich jedoch, dass ein militärischer Befehl jedenfalls dann als unzumutbar nicht
befolgt zu werden braucht, wenn der betroffene Untergebene sich insoweit auf den
Schutz des Grundrechts der Freiheit des Gewissens berufen kann (dazu 4.1.3).
4.1.2.7.1 Teilweise wird im Fachschrifttum die Meinung vertreten, unverbindlich sei
ein Befehl, wenn er „unzumutbar tief in das Persönlichkeitsrecht des Untergebenen“
eingreife (so Rostek, Der rechtlich unverbindliche Befehl, 1971, S. 25) oder wenn er
einen „tiefen Eingriff in den Rechtsbereich des Untergebenen“ enthalte, sofern die
Bedeutung des mit dem Befehl verfolgten dienstlichen Ziels in keinem Verhältnis zu
Art und Tiefe des Eingriffs stehe; der militärische Wert der Befolgung des Befehls
trete so weit hinter den Wert des gefährdeten Rechts des Untergebenen zurück,
dass der Befehl seine Verbindlichkeit verliere (so u.a. Jescheck, a.a.O., S. 83;
Schölz/Lingens, a.a.O., § 2 RNr. 45 m.w.N. unter Berufung auf die Rechtsprechung
des Reichsmilitärgerichts , des Reichsgerichts und
des Reichskriegsgerichts in der NS-Zeit). Teilweise wird auch die Auf-
fassung vertreten, ein Befehl sei bereits dann unverbindlich, wenn er unter offen-
sichtlicher Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit von Mittel und
Zweck in die Persönlichkeitssphäre des Untergebenen eingreife (Stauf, Wehrrecht
Bd. I, 2002, § 11 SG RNr. 13).
4.1.2.7.2 Der Bundesdisziplinarhof nahm in Anknüpfung an die vor dem Inkrafttreten
des Grundgesetzes ergangene Rechtsprechung des Reichsmilitärgerichts, des
Reichsgerichts und des Reichskriegsgerichts die Voraussetzungen eines unzumut-
baren und daher unverbindlichen Befehls dann an, wenn dieser „besonders tief in die
Persönlichkeitssphäre des Untergebenen eingreift“; ein Befehl sei „nur unter der Vor-
- 38 -
aussetzung der ‚Verhältnismäßigkeit’ zwischen Mittel und Zweck verbindlich“ (Be-
schluss vom 8. März 1958 - BDH WB 2.58 - ). Er berief sich dabei auf die
Begründung des Entwurfs der Bundesregierung zum Soldatengesetz vom 23. Sep-
tember 1955, in der die Erwartung ausgedrückt worden war, „dass die Rechtspre-
chung diese Gedanken aufnehmen“ werde (BTDrucks II/1700, S. 21). In Anwendung
und Fortentwicklung dieser Grundsätze ging der Bundesdisziplinarhof in seiner spä-
teren Judikatur zudem davon aus, auch das in Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Grund-
recht setze „im Wehrdienstverhältnis dem Eingriff in die freie Entfaltung der Persön-
lichkeit eine Grenze“ (Beschluss vom 16. November 1961 - BDH WB 1.61, 27.61 -
). Im Fachschrifttum (vgl. Scherer/Krekeler,
a.a.O., Anm. IV 6; Dillmann, NZWehrr 1986, 221 [227 f.]) und auch in der truppen-
dienstgerichtlichen Rechtsprechung ist zudem ausdrücklich auch die Möglichkeit in
Betracht gezogen worden, dass ein vom Gewissen (Art. 4 Abs. 1 GG) eines Soldaten
aufgegebenes Gebot, bestimmte Einzelhandlungen zu unterlassen, die „Unzumut-
barkeit“ rechtfertigen kann (Truppendienstgericht C, Beschlüsse vom 20. Juni 1972
- C 3 BLc 26/72 - [Gewissensentscheidung bejahend - Fall eines gewissenswidrigen
Zwangs zur Teilnahme an einer Gelöbnisfeier], und - C 3 BLb 22/72 - [ernsthafte
Gewissensentscheidung verneinend - Ungehorsam gegenüber einem Befehl zum
Schießen auf Figurenscheiben] ).
4.1.2.7.3 Auch die Wehrdienstsenate des Bundesverwaltungsgerichts haben wieder-
holt anerkannt, dass sich ein Untergebener gegenüber einem ihm erteilten militäri-
schen Befehl auf sein Grundrecht der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG beru-
fen kann.
a) Erstmals hat der 1. Wehrdienstsenat in seinem Beschluss vom 30. September
1970 - BVerwG 1 WDB 1/70 - entschieden, eine Gehorsamspflicht eines
Soldaten bestehe dann nicht,
„wenn ein Befehl unter Nichtbeachtung des Grundsatzes der Verhältnis-
mäßigkeit besonders tief in die Persönlichkeitssphäre eingreift, so dass
seine Befolgung unzumutbar wird (BDH 4, 181, 183). Es bedarf keiner
weiteren Begründung, dass diese Persönlichkeitssphäre berührt ist, wenn
ein Soldat einen Befehl im Widerspruch zu seinem Gewissen ausführen
soll. Denn die in Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Freiheit des Gewissens und
seiner Entscheidung ist mit dem in der Verfassung zugrunde gelegten Bild
der autonomen sittlichen Persönlichkeit untrennbar verbunden (vgl.
- 39 -
BVerwGE 12, 45, 54). Eine Gewissensentscheidung kann bei Zugrunde-
legung dieser allgemein anerkannten Grundsätze über die Unverbindlich-
keit unzumutbarer Befehle (vgl. die Nachweise in BDH 4, 181; Scherer,
SG, 3. Aufl., § 11 Anm. II 2; Begründung zum Entwurf des Soldatengeset-
zes, BTDrucks II 1700 S. 21; ferner Risken, Grenzen amtlicher und
dienstlicher Weisungen im öffentlichen Dienst, S. 174 f.) die Gehorsams-
pflicht gegenüber Befehlen der in Rede stehenden Art beseitigen.
Art. 4 Abs. 1 GG wird in Fällen der vorliegenden Art nicht etwa durch an-
dere Grundrechte (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 4 Abs. 3 GG) verdrängt. Dies
wird für das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit schon dadurch
deutlich, dass beispielsweise der Beschwerdeführer des vorliegenden
Verfahrens die Belastung seines Gewissens nicht in dem mit der Impfung
verbundenen Eingriff in seine körperliche Integrität, sondern in der von
ihm angenommenen Tötung von Tieren zur Herstellung des Impfstoffs er-
blickt.
Hinsichtlich des Grundrechts, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verwei-
gern, hat das BVerfG zwar mehrfach ausgeführt, dass Art. 4 Abs. 3 GG
die Wirkungen der Gewissensfreiheit im Bereich der Wehrpflicht abschlie-
ßend regele (BVerfGE 19, 135, 138; BVerfG NJW 1970, 1729 ff.). Wie
schon die Wendung 'im Bereich der Wehrpflicht' zeigt, ist damit aber nur
gemeint, dass der Zwang zum Wehrdienst, d.h. die Begründung des Sol-
datenverhältnisses mit der ihm innewohnenden Pflicht, im Verteidigungs-
fall notfalls den Angreifer zu töten, allein von Art. 4 Abs. 3 GG und nicht
von Art. 4 Abs. 1 GG erfasst wird. Ein Soldat, der sich gegenüber dem
Befehl, sich gegen Tetanus impfen zu lassen, auf sein Gewissen beruft,
widerstrebt dieser Pflicht nicht (vgl. dazu auch Scherer/Flor/Krekeler,
WPflG, 2. Aufl., § 25 Anm. IV 6).
Die Entscheidungen wollten ersichtlich nicht die Geltung des Art. 4 Abs. 1
GG im Bereich der übrigen, sich aus dem Soldatenverhältnis ergebenden
Pflichten ausschließen. Ein solcher Ausschluss bedürfte, da er im Ergeb-
nis nichts anderes wäre als die Nichtgeltung des Grundrechts der Gewis-
sensfreiheit während des Soldatenverhältnisses, eines ausdrücklichen
Hinweises im Grundgesetz. Hierfür finden sich weder im Wortlaut noch im
Aufbau des Art. 4 GG irgendwelche Anhaltspunkte. Dass der Regelungs-
bereich des Art. 4 Abs. 3 GG Fälle der vorliegenden Art nicht erfasst, zeigt
des Weiteren der Umstand, dass hier der Gewissenskonflikt auch dann
bestehen bliebe, wenn dem Soldaten das Recht zuerkannt würde, den
Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, er aber einen gemäß § 27
Wehrpflichtgesetz möglichen waffenlosen Dienst in der Bundeswehr zu
leisten hätte. Die Geltung des ebenfalls in Art. 4 Abs. 1 GG genannten
Grundrechts der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit im Zusammenhang mit
dem Grundrecht auf ungestörte Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG) ist
im Übrigen auch für den Bereich der Bundeswehr unbestritten (vgl. § 36
SG).
Einer Gehorsamsverweigerung der vorliegenden Art kann auch nicht des-
halb der Schutz des Art. 4 Abs. 1 GG versagt werden, weil sie die äußere
Betätigung einer Gewissensentscheidung ist. Denn in dem hier gegebe-
nen Fall, in welchem die Gewissensentscheidung nicht auf ein aktives
Tun zielt, sondern sich lediglich gegen die Duldung einer Einwirkung rich-
tet, erfasst Art. 4 Abs. 1 GG nicht nur die im Inneren getroffene Gewis-
- 40 -
sensentscheidung, das so genannte forum internum, sondern auch ihre
Betätigung in der Außenwelt. ...“
Gegenstand der vorgenannten Entscheidung war der an einen Soldaten gerichtete
Befehl, sich vorbeugend gegen Wundstarrkrampf (Tetanus) impfen zu lassen. Sie
betraf damit zwar nicht den Befehl eines militärischen Vorgesetzten, eine bestimmte
militärische Dienstleistung (z.B. Waffeneinsatz) vorzunehmen. Dies ändert jedoch
nichts daran, dass die Entscheidung das grundsätzliche Recht eines Soldaten zum
Gegenstand hat und bejaht, dass dieser sich gegenüber einem ihm erteilten militäri-
schen Befehl auf sein Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG berufen kann.
b) Der erkennende Senat ist dieser Auffassung gefolgt und hat sie explizit auch auf
den Bereich des Dienstes mit der Waffe erstreckt. In seinem Urteil vom 25. No-
vember 1987 - BVerwG 2 WD 16.87 -
122> hat er dazu ausgeführt:
„Auch ein Soldat, der seine Pflichtenbindung durch Diensteid oder feierli-
ches Gelöbnis nach § 9 SG bekräftigt hat, ist mithin nicht gehindert, seine
Einstellung zum Einsatz von ‚Massenvernichtungsmitteln’ in einem Vertei-
digungsfall zu überdenken und sich heute schon zu überlegen, welche
persönliche Gewissensentscheidung er treffen würde, falls ihm befohlen
werden sollte, sich an einem Einsatz von ABC-Waffen zu beteiligen. Er ist
dazu umso mehr im Stande, als er weiß, dass nach § 10 Abs. 4 SG Be-
fehle nur zu dienstlichen Zwecken und nur unter Beachtung der Regeln
des Völkerrechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften erteilt werden
dürfen, dass er einen Befehl, der die Menschenwürde verletzt oder der
nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist, nach § 11 Abs. 1 Satz 3
SG nicht zu befolgen braucht und dass er nach § 11 Abs. 2 Satz 1 SG ei-
nen Befehl nicht befolgen darf, wenn dadurch eine Straftat begangen
würde. Unter Umständen kann im Konflikt mit anderen Verfassungsbe-
stimmungen in der konkreten Lage, in der es innerlich unabweisbar wird,
sich zu entscheiden, auch dem Grundrecht der Freiheit des Gewissens
nach Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber einem Befehl das höhere Gewicht zu-
kommen mit der Folge, dass der Befehl unverbindlich ist (vgl. Beschluss
vom 30. September 1970 - 1 WDB 1/70 -; Dillmann, NZWehrr 1986, 221).“
In jenem Verfahren ging es um die disziplinargerichtliche Ahndung des Verhaltens
eines Leutnants, der im Jahre 1976 durch Zeitablauf aus dem Dienstverhältnis eines
Soldaten auf Zeit ausgeschieden war und Ende 1979 unter dem Eindruck der Dis-
kussion um den NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 seine Anerken-
nung als Kriegsdienstverweigerer begehrte. Im Zusammenhang damit hatte er unter
- 41 -
anderem „einen gemeinsamen Aufruf zur Kriegsdienstverweigerung an die Kamera-
den, die noch in der Bundeswehr dienen“ verfasst und an einem Flugblatt mitgearbei-
tet, in dem unter anderem „alle Soldaten und Reservisten“ aufgerufen wurden: „Wer-
det für Abrüstung aktiv! Verweigert den Kriegsdienst!“ (ebd. [358]). Zwar sah der Se-
nat in den unter maßgeblicher Mitwirkung des früheren Soldaten erstellten Aufrufen
sowie den Aufforderungen zur Kriegsdienstverweigerung in der Verbandszeitschrift
und im Flugblatt damals einen Verstoß gegen dessen nachwirkende Pflicht nach
§ 17 Abs. 3 SG zur Achtungs- und Vertrauenswahrung; denn der frühere Soldat hätte
damit zum Rechtsmissbrauch aufgefordert und ein Verhalten an den Tag gelegt, das
geeignet sei, ihn in seinem Ansehen tiefgreifend zu schädigen und das Vertrauen zu
zerstören, dass in ihn als Grundlage für seine weitere Verwendung in der Bundes-
wehr in seinem bisherigen Dienstgrad gesetzt werden müsse (ebd. [369]). Die erfolg-
te Verurteilung des früheren Soldaten ändert freilich nichts daran, dass der Senat
unter Bezugnahme auf den o.g. Beschluss des 1. Wehrdienstsenats vom 30. Sep-
tember 1970 bereits damals jedenfalls die Möglichkeit bejahte, dass ein Soldat „in
der konkreten Lage, in der es innerlich unabweisbar wird, sich zu entscheiden, auch
dem Grundrecht der Freiheit des Gewissens nach Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber einem
Befehl das höhere Gewicht zukommen kann mit der Folge, dass der Befehl unver-
bindlich ist”.
Diese Rechtsprechung hat der 2. Wehrdienstsenat in der Folgezeit im Ergebnis
mehrfach bekräftigt. In seinem Urteil vom 17. Dezember 1992 - BVerwG 2 WD
11.92 -
1994, 181> hat er dazu ausgeführt:
„Die Bundesrepublik Deutschland braucht das politische Engagement ih-
rer Soldaten, denen in § 8 SG das Eintreten für die Erhaltung der freiheit-
lich-demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes aus-
drücklich zur Pflicht gemacht ist. Da unter Umständen im Konflikt mit an-
deren Verfassungsbestimmungen in der konkreten Lage, in der es inner-
lich unabweisbar wird, sich zu entscheiden, auch dem Grundrecht der
Freiheit des Gewissens nach Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber einem Befehl
das größere Gewicht zukommen kann mit der Folge, dass der Befehl un-
verbindlich ist (BVerwGE 83, 358 <360>), kann ein Soldat selbst seine
Einstellung zum Einsatz bewaffneter Macht mit bestimmten Mitteln zu ei-
nem konkreten politischen oder militärischen Zweck überdenken und sich
insbesondere damit auseinander setzen, welche persönliche Gewissens-
entscheidung er situationsbedingt treffen würde, falls ihm etwa befohlen
werden sollte, an einem Einsatz von ABC-Waffen mitzuwirken. Er darf
- 42 -
daher auch seine Gewissenszweifel und moralischen Bedenken an den
ethischen Grundlagen einer Strategie der Friedenssicherung zum Aus-
druck bringen, die im Falle ihres Versagens möglicherweise die Werte,
um derentwillen der Wehrdienst geleistet wird, vernichten und eine men-
schenwürdige Existenz auf großen Teilen der Erde zerstören würde. Die
Bundeswehr muss sich solchen Anfragen stellen, die aus dem Gewissen
eines Soldaten kommen, und sollte eine derartige Persönlichkeit, die un-
ter den ethischen Problemen ihres Dienstes leidet, ermutigen, das, was
sie innerlich bedrückt, offen, gegebenenfalls auch ungeschützt zu artiku-
lieren (vgl. Beestermöller, Verantwortung wagen, Zweifel ertragen
- Ethische Aspekte der Menschenführung in der Bundeswehr - Information
für die Truppe, Heft 5, 1992, 16). Die Möglichkeit hierzu bietet § 33 SG,
nach dem die Soldaten staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Unter-
richt zu erhalten haben und über ihre staatsbürgerlichen und völkerrechtli-
chen Pflichten und Rechte im Frieden und im Kriege zu unterrichten sind.
Die Pflicht nach § 7 SG wäre erst verletzt, wenn ein Soldat mit seinen Äu-
ßerungen bezwecken wollte, die Loyalität seiner Kameraden zu untergra-
ben oder diese zum Ungehorsam aufzurufen, oder wenn er etwa zu er-
kennen gäbe, er werde sich unter bestimmten Voraussetzungen von sei-
nen dienstlichen Pflichten lossagen. Darauf zielt aber die Erklärung nach
den Vorstellungen des Soldaten nicht ab.“
Auch wenn es in jener Entscheidung des 2. Wehrdienstsenats vom 17. Dezember
1992 um die disziplinarrechtliche Würdigung einer außerdienstlichen Äußerung des
betroffenen Soldaten ging, ändert dies nichts daran, dass der Senat im Rahmen der
Prüfung eines Verstoßes gegen die Pflicht zum treuen Dienen (§ 7 SG) ausdrücklich
darauf hingewiesen hat, dass in einer „konkreten Lage, in der es innerlich unabweis-
bar wird, sich zu entscheiden“, „dem Grundrecht der Freiheit des Gewissens nach
Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber einem Befehl das größere Gewicht zukommen kann mit
der Folge, dass der Befehl unverbindlich ist“. Die im Urteil hinzugefügte Wendung,
die Pflicht nach § 7 SG „wäre erst verletzt, wenn ein Soldat mit seinen Äußerungen
bezwecken wollte, die Loyalität seiner Kameraden zu untergraben oder diese zum
Ungehorsam aufzurufen, oder wenn er etwa zu erkennen gäbe, er werde sich unter
bestimmten Voraussetzungen von seinen dienstlichen Pflichten lossagen“, steht da-
zu nicht im Widerspruch. Denn das Grundrecht der individuellen „Freiheit des Gewis-
sens“ (Art. 4 Abs. 1 GG) schützt „lediglich“ vor dem dem Grundrechtsträger auferleg-
ten Zwang zu einem gewissenswidrigen Verhalten. Es begründet jedoch keinen
rechtlichen Anspruch darauf, aktiv in Rechte anderer einzugreifen oder durch aktives
Tun Rechtspflichten zu verletzen (z.B. andere Soldaten zum Ungehorsam aufzuru-
fen). Ebenso wenig gewährleistet Art. 4 Abs. 1 GG dem Soldaten ein durchsetzbares
- 43 -
Recht darauf anzukündigen, er werde sich künftig von bestehenden dienstlichen
Pflichten lossagen.
Im Urteil vom 27. Januar 1993 - BVerwG 2 WD 23.92 - hat der Senat diese
Rechtsauffassung erneut bestätigt. Daran hat der 2. Wehrdienstsenat auch in der
Folgezeit festgehalten und sie mit Urteil vom 7. September 1993 - BVerwG 2 WD
15.93, 24. 93 - erneut bekräftigt (S. 61 f. im Urteilsumdruck). Bestätigt hat er sie
nochmals auch in seinem Urteil vom 9. September 1993 - BVerwG 2 WD 11.93 -.
Dabei ging es um die durch einen Oberstleutnant der Bundeswehr erfolgte Mitunter-
zeichnung einer Presseerklärung, in der es unter anderem hieß: „... zum anderen
halten wir die Aussage ‚alle Soldaten sind potentielle Mörder’ inhaltlich für richtig“.
Der Senat verneinte eine schuldhafte Verletzung von Dienstpflichten des Soldaten
und stellte das Verfahren ein. Bei der Verneinung eines Verstoßes gegen die Pflicht
zum treuen Dienen nach § 7 SG führte der Senat wiederum aus:
„Da unter Umständen im Konflikt mit anderen Verfassungsbestimmungen
in der konkreten Lage, in der es innerlich unabweisbar wird, sich zu ent-
scheiden, auch dem Grundrecht der Freiheit des Gewissens nach Art. 4
Abs. 1 GG gegenüber einem Befehl das größere Gewicht zukommen
kann mit der Folge, dass der Befehl unverbindlich ist (BVerwGE 83, 358
<360>), kann ein Soldat seine Einstellung zum Einsatz bewaffneter Macht
mit bestimmten Mitteln zu einem konkreten politischen oder militärischen
Zweck überdenken und sich insbesondere damit auseinander setzen,
welche persönliche Gewissensentscheidung er situationsbedingt treffen
würde, falls ihm etwa befohlen werden sollte, an einem Einsatz von ABC-
Waffen mitzuwirken. ... Die Bundeswehr muss sich solchen Anfragen stel-
len, die aus dem Gewissen eines Soldaten kommen, und sollte eine der-
artige Persönlichkeit, die unter den ethischen Problemen ihres Dienstes
leidet, ermutigen, das, was sie innerlich bedrückt, offen, gegebenenfalls
auch ungeschützt zu artikulieren. ...“ (S. 48 im Urteilsumdruck)
In allen aufgeführten Fällen waren die Darlegungen des Senats zur Bedeutung des
Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber einem militärischen Befehl eines Vorgesetzten entschei-
dungserheblich. Denn eine Pflichtverletzung nach § 7 SG wurde unter anderem ge-
rade mit der Begründung verneint, dass einem Soldaten im militärischen Dienstbe-
trieb das Grundrecht nach Art. 4 Abs. 1 GG zusteht und er nicht pflichtwidrig handelt,
wenn er unter Berufung darauf ankündigt, den Befehl eines militärischen Vorgesetz-
ten zum Einsatz von ABC-Waffen nicht zu befolgen.
- 44 -
Von dieser Rechtsprechung ist der Senat auch in der Folgezeit im Kern nicht abge-
wichen. In seinem Urteil vom 31. Juli 1996 - BVerwG 2 WD 21.96 -
361 [371 f.] = Buchholz 236.1 § 7 SG Nr. 9 = NZWehrr 1997, 117 = NJW 1997, 536 =
DVBl 1997, 356 = NVwZ 1997, 395> hatte er über das Verhalten eines Stabsoffiziers
im Dienstgrad eines Oberstabsarztes zu befinden, der an das zuständige Referat im
Bundesministerium der Verteidigung die schriftliche Erklärung gerichtet hatte, er
schließe für seine Person jegliche Mitwirkung an militärischen Einsätzen aus, die
nicht ausschließlich der Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland oder eines
NATO-Staates als Reaktion auf eine Aggression dienten (sog. „out-of-area“-Ein-
sätze); ferner hatte der Soldat die zahnärztliche Behandlung von gegen ihren Willen
zu einem solchen Einsatz herangezogenen Zeit- und Berufssoldaten zur Herstellung
ihrer körperlichen Tauglichkeit abgelehnt. Der Senat sah in diesem Verhalten des
Soldaten einen Verstoß gegen §§ 7, 17 Abs. 2 Satz 1 Alternativen 1 und 2 SG, wo-
bei er darlegte, der Soldat könne „sein Verhalten hier nicht mit dem Hinweis auf die
grundrechtliche Gewährleistung der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG oder
Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG rechtfertigen“. Wörtlich führte der Senat aus:
„Zur Rechtfertigung seiner o.a. Erklärung kann sich der Soldat hier nicht
mit Erfolg darauf berufen, dass das Grundgesetz nicht nur der Gewis-
sensfreiheit des Einzelnen nach Art. 4 Abs. 1 GG, sondern insbesondere
auch dem durch Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleisteten Grundrecht, aus
Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, einen
hohen Stellenwert beigemessen hat. Denn diese Gewissensentschei-
dung, die immer ‚situationsbezogen’ zu treffen ist, muss sich ihrem Inhalt
nach gegen den Waffendienst schlechthin richten, ist somit eine generel-
le, ‚absolute’ Entscheidung. Damit ist das aus Gewissensgründen er-
wachsene Verbot gemeint, Waffen, gleich welcher Art, zu führen, betrifft
also ein Verhalten, das unmittelbar darauf ausgerichtet ist, mit - den je-
weils zur Verwendung kommenden - Waffen Menschen im Krieg zu töten.
Nur in der Vorstellung, dies tun zu müssen, liegt nach dem Grundgesetz
für den Einzelnen die schwere innere Belastung, die es rechtfertigt, seine
ablehnende Gewissensentscheidung anzuerkennen. Hieraus folgt, dass
derjenige das Grundrecht nicht in Anspruch nehmen kann, der geltend
macht, sein Gewissen verbiete ihm nicht den Kriegsdienst mit der Waffe
schlechthin, sondern lediglich die Teilnahme an bestimmten Kriegen, etwa
am Krieg gegen bestimmte Gegner, unter bestimmten Bedingungen, in
bestimmten historischen Situationen oder mit bestimmten Waffen. Wenn-
gleich in diesen Fällen ernste Gewissensbedenken den Soldaten in seiner
Haltung bestimmen mögen, richtet sich seine Gewissensentscheidung
dann nicht eigentlich gegen den ‚Kriegsdienst mit der Waffe’, sondern ge-
gen die Entschließung der Staatsgewalt, die Streitkräfte überhaupt oder
mit bestimmten Mitteln zu einem konkreten politischen oder militärischen
Zweck einzusetzen. Da der Soldat jedoch nicht die soldatische Pflichter-
- 45 -
füllung im Rahmen des verfassungsmäßigen Auftrages der Bundeswehr-
pflicht schlechthin, sondern einen ‚out of area’-Einsatz ablehnt, fehlt der
innere Grund, der es verfassungsrechtlich rechtfertigen könnte, ihn von
der Wahrnehmung seiner Dienstpflicht freizustellen (vgl. Urteil vom
25. November 1987 - 2 WD 16.87 - m.w.N.).
Im vorliegenden Fall hat sich der Soldat zwar geweigert, an einem ‚out of
area’-Einsatz teilzunehmen, aber im Übrigen seit seiner Einstellung in die
Bundeswehr keine gewissensmäßigen Bedenken geltend gemacht, auf
dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland oder im Bereich ei-
nes ihrer NATO-Verbündeten seine Pflicht zum treuen Dienst zu erfüllen.
Da seine Gewissensentscheidung jedoch unteilbar ist, kann der Soldat
sein Verhalten hier nicht mit dem Hinweis auf die grundrechtliche Gewähr-
leistung der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG oder Art. 4 Abs. 2
Satz 1 GG rechtfertigen.“
Das Urteil lässt nicht erkennen, dass der Senat sich damit von seiner oben dargeleg-
ten eigenen gefestigten Rechtsprechung distanzieren wollte, wonach ein Soldat sich
nicht nur etwa gegenüber einer befohlenen Impfung, sondern gerade auch gegen-
über einem Befehl eines militärischen Vorgesetzten zum Einsatz bestimmter Waffen
auf sein Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG berufen kann. Dies ergibt sich nicht nur
daraus, dass in den Urteilsgründen jegliche Auseinandersetzung mit den angeführten
Entscheidungen vom 17. Dezember 1992, vom 27. Januar 1993, vom 7. September
1993 sowie vom 9. September 1993 unterblieben ist. Sie werden nicht einmal er-
wähnt. Da nicht unterstellt werden kann, der Senat hätte jene Entscheidungen über-
sehen, liegt der Schluss nahe, dass er sich in seinem Urteil vom 31. Juli 1996 gerade
nicht von der angeführten eigenen gefestigten Rechtsprechung distanzieren und da-
von Abstand nehmen wollte. Aus seiner Sicht bestand dazu offenbar auch keine Ver-
anlassung. Er ging im Rahmen seiner Prüfung damals davon aus, dass der Soldat
mit der inkriminierten Ankündigung, von seiner Bereitschaft zur Dienstleistung Ver-
wendungen im Rahmen so genannter „out-of-area“-Einsätze auszunehmen, aufgrund
der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
zu Art. 24 Abs. 2 GG gegen seine Pflicht zum treuen Dienen (§ 7 SG) sowie zur Ach-
tungs- und Vertrauenswahrung (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG), nicht jedoch gegen seine
Gehorsamspflicht (§ 11 SG), verstoßen hat. Im ersten Satz der zitierten Urteilspas-
sage wird zwar die Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG in der Formulierung an-
gesprochen, dass der Soldat sich - gegenüber dem festgestellten vorsätzlichen Ver-
stoß gegen § 7 SG und § 17 Abs. 2 Satz 1 SG - nicht mit Erfolg „darauf berufen
kann, dass das Grundgesetz nicht nur der Gewissensfreiheit des Einzelnen nach
Art. 4 Abs. 1 GG, sondern insbesondere auch dem durch Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG
- 46 -
gewährleisteten Grundrecht, aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe
zu verweigern, einen hohen Stellenwert beigemessen hat“. Indem lediglich die - auf
bestimmte Tatbestandsmerkmale spezifischer Normen nicht näher bezogene - Frage
des „Stellenwerts“ des Grundrechts der Gewissensfreiheit aufgeworfen wurde, wird
erkennbar, dass die Fragen des konkreten Verhältnisses von Art. 4 Abs. 3 GG zu
Art. 4 Abs. 1 GG sowie die Auswirkungen einer Gewissensentscheidung nach Art. 4
Abs. 1 GG auf die Verbindlichkeit eines militärischen Befehls gerade nicht in den
Blick genommen wurden. Dazu bestand aus der Sicht des Senats offenbar deshalb
keine Veranlassung, weil ein Verstoß gegen die Gehorsamspflicht des § 11 SG oh-
nehin verneint wurde. Soweit die im Urteil vom 31. Juli 1996 - BVerwG 2 WD 21.96 -
dargelegte Rechtsauffassung hinsichtlich der Frage der Geltung der Gewissensfrei-
heit (Art. 4 Abs. 1 GG) gegenüber einem militärischen Befehl anders, d.h. abwei-
chend von der zuvor ergangenen gefestigten Rechtsprechung des Senats (zuletzt im
o.g. Urteil vom 9. September 1993 - BVerwG 2 WD 11.93 - zu verstehen sein sollte,
hält der erkennende Senat hieran aus den nachfolgenden Gründen nicht fest.
4.1.3 Befehl und Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1GG)
Nach erneuter eingehender Prüfung ist der erkennende Senat unter Bestätigung und
Fortentwicklung seiner bereits in den angeführten Urteilen vom 25. November 1987,
17. Dezember 1992, 27. Januar 1993, 7. September 1993 und 9. September 1993
zum Ausdruck gekommenen Rechtsprechung zu dem Ergebnis gelangt, dass auch
ein Soldat, der nicht seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nach Art. 4
Abs. 3 GG beantragt hat, sich gegenüber einem ihm erteilten Befehl seines militäri-
schen Vorgesetzten auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) be-
rufen kann. Die Schutzwirkung des Art. 4 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 3
GG (dazu 4.1.3.1) wird nicht durch Art. 4 Abs. 3 GG verdrängt. Der Untergebene, der
sich berechtigterweise innerhalb des grundrechtlichen Schutzbereiches von Art. 4
Abs. 1 GG auf dessen Schutzwirkung gegenüber einem ihm erteilten militärischen
Befehl beruft, handelt mithin nicht ungehorsam und verletzt nicht in rechtswidriger
Weise seine Pflicht aus § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 SG. Dafür sind die nachstehenden
Gründe maßgebend.
- 47 -
4.1.3.1 Schutzwirkung des Art. 4 Abs. 1 GG
4.1.3.1.1 Bereits aus dem Wortlaut der Grundregelung zur Gehorsamspflicht eines
Soldaten in § 11 Abs. 1 Satz 2 SG ergibt sich, dass ein Soldat einen ihm erteilten
Befehl „gewissenhaft“ (nach besten Kräften, vollständig und unverzüglich) auszufüh-
ren hat. Diese Formulierung enthält als Begriffsbestandteil („gewissen-haft“) unmit-
telbar den Bezug auf das Gewissen (lat. „conscientia“, griech. „syneidesis“), von dem
die Adjektive „gewissenhaft“ und „gewissenlos“ abgeleitet sind (vgl. dazu u.a. Kluge,
Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Aufl. 1999, S. 323). Vom
Soldaten verlangt wird also keine „gewissen-lose“, sondern eine „gewissen-hafte“
Ausführung eines Befehls. Dies bedeutet, dass ein Soldat insoweit mit aller ihm mög-
lichen Sorgfalt und Verantwortung vorzugehen und sich entsprechend zu verhalten
hat. Ein „unbedingter“ oder „bedingungsloser“ Gehorsam ist mit diesem normativen
Imperativ nicht vereinbar. Gefordert ist vielmehr ein „mitdenkender“ (vgl. Urteil vom
6. Juni 1991 - BVerwG 2 WD 27.90 -
= NJW 1992, 387>) und insbesondere die Folgen der Ausführung des Befehls
- gerade auch im Hinblick auf die Schranken des geltenden Rechts und die ethischen
„Grenzmarken“ des eigenen Gewissens - „bedenkender“ Gehorsam. Dabei bedarf es
im vorliegenden Fall keiner näheren Prüfung und Entscheidung der Frage, unter wel-
chen konkreten Bedingungen in Ausnahmefällen zwingende Gebote des eigenen
Gewissens die Verweigerung der Ausführung eines Befehls auch dann rechtfertigen
oder gar gebieten, wenn - wie im Falle des versuchten Staatsstreichs vom 20. Juli
1944 („Aufstand des Gewissens“) - damit Verletzungen von geltenden Gesetzen ver-
bunden sind. Denn das Grundgesetz sieht die Möglichkeit der Berufung eines Solda-
ten auf die Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) gerade vor. Die Erteilung eines mili-
tärischen Befehls steht unter einem entsprechenden Vorbehalt seiner Grundrechts-
konformität.
4.1.3.1.2 Dies ergibt sich vor allem aus der Entstehungsgeschichte und dem Rege-
lungszusammenhang des Grundrechts der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) und
der Normierungen über die Gehorsamspflicht eines Soldaten.
Seit es in Deutschland Verfassungen gibt, die Grund- und Menschenrechte gewäh-
ren, waren diese für den Bereich des Militärdienstes eingeschränkt worden. In der
- 48 -
preußischen Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 (PrGS. S. 17 ff.) sahen die
Art. 38 und 39 ausdrücklich die Einschränkung von Grundrechten für militärische
Zwecke vor. Während es in der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April
1871 (RGBl. S. 63) keine Grundrechte gab, normierte Art. 133 Abs. 2 Satz 2 der
Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 (RGBl. S. 1383), dass ein Reichs-
wehrgesetz zu bestimmen habe, „wieweit für Angehörige der Wehrmacht zur Erfül-
lung ihrer Aufgaben und zur Erhaltung der Manneszucht einzelne Grundrechte ein-
zuschränken sind“. Die Verfassung stellte damit die Grundrechte unter diesen weiten
Gesetzesvorbehalt und ermöglichte so dem einfachen Gesetzgeber entsprechende
Einschränkungen für Soldaten. Aufgrund dieser Ermächtigung wurden durch das
Reichswehrgesetz (§§ 36, 37) die politische Betätigungsfreiheit, das Wahl- und
Stimmrecht, die Freiheit zur Teilnahme an Versammlungen und die Mitgliedschaft in
Vereinen sowie das Halten von Zeitungen eingeschränkt (vgl. dazu u.a. Anschütz,
Die Verfassung des Deutschen Reiches, 5. Aufl. 1926 und 14. Aufl. 1933, Art. 133
Anm. 3; Hahnenfeld, Wehrverfassungsrecht, 1965, S. 49). In der NS-Zeit, in der die
Weimarer Reichsverfassung zwar formell nicht aufgehoben wurde, waren die Grund-
rechte seit der vom Reichspräsidenten nach dem Reichstagsbrand auf Druck der
NS-Regierung erlassenen „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom
28. Februar 1933 (RGBl. I, S. 83) für alle Bürgerinnen und Bürger und damit auch für
Soldaten „bis auf weiteres“ suspendiert. Sie waren mithin bis zur endgültigen Zer-
schlagung des NS-Regimes im Jahre 1945 ohne jede praktische Bedeutung. In die-
ser mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beendeten Epoche war es unvorstellbar,
„Soldaten“ grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie „Zivilisten“ zu
gewähren. Dem entsprachen bereits in der konstitutionellen Monarchie des Kaiser-
reiches erfolgreiche Bemühungen in der Rechtsdoktrin, die „bewaffnete Macht“ als
„Anstalt“ zu charakterisieren (vgl. dazu u.a. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen
Reiches, Bd. 4, 4. Aufl. 1901, S. 34; Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 2,
3. Aufl. 1924, S. 268 ff.). Mit Hilfe dieser Lehre sollten zum einen die sich aus der
prinzipiellen Strenge des rechtsstaatlichen Prinzips, das für jeden Eingriff in „Freiheit
und Eigentum“ eine gesetzliche Ermächtigung verlangte, ergebenden „Schwierigkei-
ten“ umgangen und gesetzesfreie Handlungsräume für die Exekutive offen gehalten
werden. Ihr Sinn bestand insoweit darin zu erreichen, dass der Einsatz exekutiver
Zwangsmittel gerechtfertigt werden konnte, ohne dass es dafür einer besonderen
Kompetenzzuweisung durch den Gesetzgeber bedurfte (vgl. dazu Lepper, Die ver-
- 49 -
fassungsrechtliche Stellung der Streitkräfte im gewaltenteilenden Rechtsstaat, 1962,
S. 101 m.w.N.). Eine besondere Bedeutung kam der Doktrin von der „bewaffneten
Macht“ als „Anstalt“ zudem vor allem insoweit zu, als auf ihr die Vorstellung eines
„besonderen Gewaltverhältnisses“ aufbauen konnte (vgl. dazu u.a. Otto Mayer,
a.a.O., S. 285 ff.; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts - Allgemeiner Teil,
9. Aufl. 1966, S. 121 m.w.N.). Damit war die Möglichkeit eröffnet, grundsätzlich ohne
eine spezialgesetzliche Grundlage in „Freiheit und Eigentum“ des vom besonderen
Gewaltverhältnis erfassten Personenkreises einzugreifen (vgl. Forsthoff, a.a.O.). Das
war gerade im militärischen Bereich von besonderer praktischer Bedeutung, weil dort
das Verhältnis Soldat-Staat gesetzlich nur sehr rudimentär durchgebildet war (vgl.
dazu u.a. Lepper, a.a.O., S. 102).
Im Gegensatz dazu ist bei der in den Jahren 1955/56 erfolgten Aufstellung der Bun-
deswehr und der Verabschiedung der einschlägigen Wehrgesetze ausdrücklich be-
stimmt worden, dass Soldaten der Bundeswehr „die gleichen staatsbürgerlichen
Rechte wie jeder andere Staatsbürger“ haben. In § 6 Satz 1 SG ist dieses Konzept
des „Staatsbürgers in Uniform“ klar zum Ausdruck gekommen. Zwar sieht § 6 Satz 2
SG vor, dass diese Rechte des einzelnen Soldaten „im Rahmen der Erfordernisse
des militärischen Dienstes“ durch „seine gesetzlich begründeten Pflichten be-
schränkt“ werden. Diese einfach gesetzliche Regelung hebt jedoch die in Satz 1 sta-
tuierte Gewährleistung der „gleichen staatsbürgerlichen Rechte“ nicht auf. Im Grund-
gesetz gewährleistete Grundrechte können nur insoweit verfassungskonform einge-
schränkt werden, wie es die jeweilige verfassungsrechtliche Regelung selbst zulässt.
Dies wird nicht zuletzt durch die von Art. 3 des Gesetzes vom 19. März 1956 (BGBl. I
S. 111) in das Grundgesetz eingefügte Regelung des Art. 17a GG unmissverständ-
lich klargestellt. Sie sieht in ihrem Absatz 1 vor, dass „Gesetze über Wehrdienst und
Ersatzdienst“ bestimmen können, für die Angehörigen der Streitkräfte (und des Er-
satzdienstes) während der Zeit des Wehr- (oder Ersatz)dienstes das Grundrecht,
seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (Art. 5
Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 GG), das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG)
und das Petitionsrecht (Art. 17 GG) einzuschränken. Darüber hinaus können gemäß
Art. 17a Abs. 2 GG „Gesetze, die der Verteidigung einschließlich des Schutzes der
Zivilbevölkerung dienen“, bestimmen, dass auch die Grundrechte der Freizügigkeit
(Art. 11 GG) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) eingeschränkt wer-
- 50 -
den. Zwar wird damit durch Art. 17a Abs. 1 und 2 GG für Soldaten im Verhältnis zu
nicht in der Bundeswehr dienenden Staatsbürgern eine weitergehende Einschrän-
kung der dort im Einzelnen aufgeführten Grundrechte von Verfassungs wegen zuge-
lassen. Indem Art. 17a GG erlaubt, dass die einzelnen fünf dort genannten Grund-
rechte (über die sonst für alle Bürgerinnen und Bürger geltenden Grenzen hinaus)
eingeschränkt werden dürfen, wird jedoch zugleich unmissverständlich zum Aus-
druck gebracht, dass abgesehen von diesen enumerativ aufgeführten Einschränkun-
gen weitere Grundrechte im Rahmen und speziell für die Zwecke des Wehrdienst-
verhältnisses nicht angetastet werden dürfen. Die Anwendung des Enumerati-
onsprinzips in Art. 17a GG enthält damit für Soldaten eine verfassungsrechtliche Ga-
rantie aller in dieser Vorschrift nicht ausdrücklich aufgezählten Grundrechte (so zu
Recht u.a. Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, 1961, S. 118; Hahnenfeld,
a.a.O., S. 47).
Für die Frage, in welchem Umfang Grundrechte auch für Soldaten gelten, ist ferner
die Änderung des Art. 1 Abs. 3 GG von zentraler Bedeutung, die dieser durch das
Gesetz vom 19. März 1956 erhalten hat. Während Absatz 3 des Art. 1 GG in der
Fassung vom 23. Mai 1949 ursprünglich normierte, dass die Grundrechte die „Ver-
waltung“ (neben Gesetzgebung und Rechtsprechung) als unmittelbar geltendes
Recht binden, wurde durch die Grundgesetzänderung das Wort „Verwaltung“ durch
„vollziehende Gewalt“ ersetzt. Damit sollte klargestellt werden, dass die Streitkräfte
der Bundeswehr als Teil der „vollziehenden Gewalt“ in die von Art. 1 Abs. 3 GG nor-
mierte strikte Grundrechtsbindung einbezogen werden. Dies war Ausdruck des Be-
mühens des Verfassungsgesetzgebers, jede Sonderstellung der Streitkräfte im de-
mokratischen und sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG) hin-
sichtlich der Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie an Gesetz und
Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) zu verhindern.
Damit steht die Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) auch Soldaten und Solda-
tinnen zu. Die in Art. 4 Abs. 1 GG gewährleistete Gewissensfreiheit ist - neben der
ebenfalls dort verankerten Glaubens- sowie der religiösen und weltanschaulichen
Bekenntnisfreiheit - ein eigenständiges Grundrecht. Dies ergibt sich unmittelbar aus
dem Wortlaut der Regelung und ist im Grundsatz allgemein anerkannt (vgl. u.a. Bö-
ckenförde, VVDStRL 28 <1970>, 33 [50]; Herzog in Maunz/Dürig, GG, Art. 4
- 51 -
RNr. 123; Preuß in AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 4 RNr. 34; Starck, Bonner GG, Bd. 1
<1999>, Art. 4 RNr. 58 jeweils m.w.N.).
4.1.3.1.3 Inhalt der Gewissensfreiheit
Unter Gewissen ist ein real erfahrbares seelisches Phänomen zu verstehen, dessen
Forderungen, Mahnungen und Warnungen für Menschen unmittelbar evidente Gebo-
te unbedingten Sollens sind. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts ist eine Gewissensentscheidung „jede ernste sittliche, d.h. an den
Kategorien von ‚Gut’ und ‚Böse’ orientierte Entscheidung … , die der Einzelne in ei-
ner bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt innerlich verpflichtend er-
fährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“ (vgl.
u.a. BVerfG, Urteil vom 13. April 1978 - 2 BvF 1/77 u.a. -
im Anschluss an die stRspr.: vgl. u.a. Beschluss vom 20. Dezember 1960 - 1 BvL
21/60 - ). Der Prozess der Gewissensbildung hat als psychi-
sches Phänomen kognitive, affektive und sozio-psychische Komponenten. Die kogni-
tive Komponente des Gewissens beinhaltet das Bewusstsein spezifischer, sich selbst
und/oder anderen gegenüber bestehender gewichtiger ethischer Pflichten und Nor-
men (vgl. dazu u.a. Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, 1978, S. 141 ff.; ähn-
lich Geißler, Das Recht der Kriegsdienstverweigerung nach Art. 4 Abs. III des
Grundgesetzes, Dissertation 1960, S. 44 m.w.N.). Denn der „ethische Bezug“ des
Gewissens, also die Beziehung auf ein Erkennen von „Gut“ und „Böse“ in seiner all-
gemeinsten Form bis hin zu speziellen Erkenntnissen, ist jedem Gewissensvorgang
immanent. Einer Gewissensentscheidung liegt stets eine Werterkenntnis und
-entscheidung zugrunde. Die affektive Komponente des Gewissens bezeichnet die
gefühlsmäßige Bindung an diese ethischen Pflichten und Normen mit der Konse-
quenz schmerzhafter Empfindungen im Falle ihrer Verletzung durch den Betroffenen.
Die sozio-psychische Komponente des Gewissens betrifft die Aufnahme dieser ethi-
schen Pflichten und Normen in das Innere der Persönlichkeit und damit den Prozess,
der zur Errichtung des Gewissens als „Zensor“ führt (vgl. dazu u.a. Klier, a.a.O.,
S. 142. f. m.w.N.; Preuß, a.a.O., Art. 4 Abs. 1 RNr. 38 m.w.N.). Der Prozess der Ge-
wissenbildung ist aufgrund seiner kognitiven, affektiven und sozio-psychischen Kom-
ponenten ein komplexer psychischer Vorgang der subjektiven individuellen Persön-
lichkeitsbildung. Für die grundrechtliche Anerkennung dieses psychischen Phäno-
- 52 -
mens kommt es nicht darauf an, ob die Normbildung auf überwiegend rationalen
oder eher gefühlsmäßigen Gründen beruht. Die „Erkenntnisse“ über die in Rede ste-
henden ethischen Gebote können aus allen Gebieten des Lebens herrühren und so
z.B. der christlichen oder einer anderen Religion, dem Humanismus oder anderen
Weltanschauungen, aber auch dem geltenden Recht, in dem ethische Entscheidun-
gen ihren Niederschlag gefunden haben, entnommen sein. Wesentlich ist insoweit
nur, dass das Gewissen diese Werte als ethisch verbindliche Verhaltensnormen in-
ternalisiert hat und dadurch in der Lage ist, vor ihrer Missachtung zu warnen (vgl.
dazu u.a. Geißler, a.a.O., S. 47 f.). Objektiv zwingend vorgegebene Inhalte können
dabei nicht ausgemacht werden (vgl. Morlok in Dreier , GG, 2. Aufl. 2004,
RNr. 81 m.w.N.). Das Kriterium für das Vorliegen einer Gewissensentscheidung im
Sinne des Art. 4 Abs. 1 GG kann nicht ihrer „Wahrheit“ in Gestalt einer Übereinstim-
mung mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen, einem naturrechtlich oder anderweitig
bestimmten Sittengesetz, in der Gesellschaft vorherrschenden, also überwiegend
vertretenen ethischen Grundüberzeugungen, einer bestimmten „Werteordnung“ oder
Ähnlichem entnommen werden. Damit würde gerade die Individualität und Freiheit
des Gewissens negiert.
Das Schutzgut der grundgesetzlichen Gewissensfreiheit liegt, wie sich gerade auch
aus der Textfassung des Art. 4 Abs. 1 GG ergibt, in der Garantie ihrer Unverletzlich-
keit. Der Einzelne soll in dem, was das Innere, den Kern seiner Persönlichkeit aus-
macht, unbehelligt und unverletzt bleiben. Gewissen und Gewissensbetätigung sol-
len - im Verhältnis zu jeder öffentlichen Gewalt (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG) - dadurch un-
verletzlich sein, dass sich die Bildung von Gewissensüberzeugungen (im rechtlichen
Sinne) frei vollziehen kann und dass niemand - in den durch die Verfassung gezoge-
nen Grenzen - zu einem Verhalten gezwungen werden darf, das dem Gebot des ei-
genen Gewissens widerspricht (vgl. Böckenförde, a.a.O. 33 [64, 69 f.]). Das Grund-
recht enthält damit das Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung
unmittelbar bindende Verbot jeglicher Verletzung der Gewissensfreiheit. Die verfas-
sungsrechtlich gewährleistete Gewissensfreiheit umfasst nicht nur die Freiheit, ein
Gewissen zu haben, sondern grundsätzlich auch die Freiheit, von der öffentlichen
Gewalt nicht verpflichtet zu werden, gegen Gebote und Verbote des Gewissens zu
handeln (stRspr. des BVerfG: vgl. u.a. Beschlüsse vom 30. Juni 1988 - 2 BvR
701/86 - , vom 26. August 1992 - 2 BvR 478/92 -
- 53 -
1993, 455 f.> und vom 11. August 1999 - 1 BvR 2181/98 u.a. - ).
In dieser abwehrrechtlichen Dimension hat das Grundrecht der Gewissensfreiheit
eine negatorische Funktion. Der jeweils betroffene Bürger hat danach das Recht,
Gewissenskonflikte, die ihm durch die öffentliche Gewalt aufgezwungen werden, ab-
wehren zu können. Dabei kommt es nicht mehr darauf an, dass die in Art. 4 Abs. 1
GG gewährleistete „Unverletzlichkeit“ der dort genannten Grundrechte daneben au-
ßerdem eine objektive Dimension hat und dass ihr - ebenso wie einzelnen anderen
Grundrechten - auch staatliche Sicherungs- und Schutzpflichten entnommen werden
(vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 16. Mai 1995 - 1 BvR 1087/01 -
[16]> m.w.N.; Wenkstern in Umbach/Clemens , a.a.O., Art. 4 Abs. 1 RNr. 32;
vgl. allgemein zur Schutzpflicht des Staates im Rahmen von Grundrechtsgewährleis-
tungen u.a. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 221 [231 f.]; BVerfG, Be-
schlüsse vom 6. Mai 1997 - 1 BvR 409/90 - und vom
26. März 2001 - 2 BvR 943/99 -
495>). Denn im vorliegenden Fall ist allein auf die negatorische Dimension des
Grundrechts der Freiheit des Gewissens abzustellen.
Nach dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 GG ist die Gewährleistung dieses Grundrechts
nicht auf bestimmte Gewissenskonflikte beschränkt. Die Freiheit des Gewissens ist
- ebenso wie die Freiheit des Glaubens und die Freiheit des religiösen und weltan-
schaulichen Bekenntnisses - in jeder Hinsicht „unverletzlich“. Es muss sich für die
Auslösung der (negatorischen) Schutzwirkung „lediglich“ um einen Gewissenskonflikt
handeln. Es wäre nun allerdings verfehlt, davon auszugehen, die Gewissensfreiheit
des Art. 4 Abs. 1 GG begründe einen Anspruch darauf, gleichsam vollständig und
nach persönlicher Willkür allein „nach eigenem Gesetz zu leben und zu handeln“.
Das Gewissen tritt in der sozialen Realität - auch im militärischen Bereich - nicht
ständig, tagtäglich und gleichsam bei jeder Gelegenheit, sondern als regulierende
und fordernde Instanz vornehmlich dort in Erscheinung, wo die Persönlichkeit durch
eine Verhaltensmöglichkeit oder durch Verhaltensanforderungen, die die Mitwelt an
sie stellt, in ihrer Struktur und ihrer Möglichkeit, die eigene Identität zu wahren, in kri-
tischer Weise berührt wird. Als innere ethische Gebotsinstanz, als „Rufer“, wird das
Gewissen regelmäßig erst dort aktiv, wo die Persönlichkeit als solche in ihrer Identi-
tät kritisch bedroht ist („ein solcher, der dies tut, kann ich nicht sein“). Die Befürch-
tung einer „Inflation“ von Gewissensentscheidungen verfehlt daher die soziale Reali-
- 54 -
tät (so zu Recht u.a. Böckenförde, a.a.O., 33 [67, 69]; ähnlich R. Eckertz, Die Kriegs-
dienstverweigerung aus Gewissensgründen, 1981, S. 25 m.w.N.). Dies ist im
Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG insofern nicht anders als in dem des Art. 38
Abs. 1 GG, der die Freiheit des Gewissens von Abgeordneten des Deutschen Bun-
destages gegenüber jedweder Bindung an Aufträge und Weisungen schützt.
Der Normbereich des Art. 4 Abs. 1 GG fällt nicht mit dem durch Art. 2 Abs. 1 GG ge-
währten Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zusammen, dem die all-
gemeine Handlungsfreiheit entnommen wird. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit
gewährleistet vielmehr lediglich für spezielle einzelne Konfliktfälle eine (partielle) Be-
freiung von gewissenbedrückenden Pflichten. In ihrer subjektivrechtlichen Dimension
entfaltet die Gewissensfreiheit ihre Abwehrfunktion gegenüber einer aufgezwunge-
nen und durch die auferlegten oder geforderten Pflichten als schwer belastend emp-
fundenen Konfliktsituation. Das Gewissen ist nach seiner psychischen Struktur eine
innere „Zensur- und Kontrollinstanz“, die in einer konkreten personalen Konfliktsitua-
tion negatorisch auf einen von innen oder außen an den Einzelnen herantretenden
Impuls reagiert (vgl. Klier, a.a.O., S. 137 m.w.N.). Die Gewissensfreiheit umfasst je-
denfalls die Freiheit im Sinne einer Freistellung von der Pflicht zur Erfüllung gewis-
senbelastender rechtlicher Gebote, weil diese dem Individuum einen Konflikt auf-
zwingen und dadurch die Abwehrfunktion des Gewissens mobilisieren (vgl. dazu u.a.
Preuß, a.a.O., RNr. 43 m.w.N.). Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Ge-
wissensfreiheit hat die Aufgabe und den Zweck, den Spielraum für Handlungsalter-
nativen zu erweitern, wenn die Rechtsordnung den Einzelnen (anderenfalls) vor die
Alternative stellt, gewissenskonform und rechtswidrig oder gewissenswidrig und
rechtmäßig zu handeln (vgl. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die
besonderen Gewaltverhältnisse, 1969, S. 33 f.). Im Hinblick auf die Bereitstellung
von gewissenschonenden Handlungsalternativen muss dabei sichergestellt sein,
dass von diesen ohne Stigmatisierung und Diskriminierung Gebrauch gemacht wer-
den kann. Dabei kann dahin stehen, ob dies unmittelbar aus der in Art. 4 Abs. 1 GG
normierten Gewährleistung der „Freiheit“ des Gewissens oder aus den verfassungs-
rechtlichen Diskriminierungsverboten (vor allem Art. 3 Abs. 1 und 3 GG) folgt. Jeden-
falls muss beachtet werden, dass die Inanspruchnahme des Grundrechts der Gewis-
sensfreiheit nicht unter die Voraussetzung der Inkaufnahme von gravierenden
Nachteilen für den Grundrechtsträger gestellt werden darf (vgl. Kluth in Muckel
- 55 -
, Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat. Festschrift für Wolfgang
Rüfner, 2003, S. 459 [475 f.] m.w.N.). Freilich erfordert die grundrechtliche Gewähr-
leistung des Art. 4 Abs. 1 GG nicht, dass der betroffene Grundrechtsträger von je-
dem Nachteil freigestellt wird, den er wegen seiner Entscheidung möglicherweise zu
tragen hat; es genügt, dass die ihm offen stehende oder eröffnete Handlungsalterna-
tive zumutbar (so im Ergebnis auch Urteil vom 13. Dezember 1991 - BVerwG 7 C
26.90 -
1992, 773 = DVBl 1992, 433>), also gewissenschonend und diskriminierungsfrei ist.
Art. 4 Abs. 1 GG stellt es nicht in das Belieben des einzelnen Grundrechtsträgers,
selbst zu entscheiden, ob er das geltende Recht beachten will oder nicht. Denn er ist
wie alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen (Art. 3 Abs. 1 GG) dem Gesetz un-
terworfen. Die Gewissensfreiheit als Teil des geltenden Rechts wird dadurch gewähr-
leistet und gewahrt, dass dem betroffenen Individuum im Konfliktfalle von Rechts
wegen gewissenschonende Handlungsalternativen angeboten und zur Verfügung ge-
stellt werden (müssen). Der verfassungsrechtliche Sinn und Zweck liegt darin, die
Einzelperson auf zumutbare Weise vor Gewissenskrisen zu schützen. Die grund-
rechtlich geschützte Freiheit des Gewissens entbindet so zwar das einzelne Indivi-
duum, das sich in einem ernsthaften Gewissenskonflikt befindet, im Einzelfall - von
Verfassungs wegen - durch eine solche Bereitstellung von gewissenschonenden,
diskriminierungsfreien Handlungsalternativen von der rechtlichen Verpflichtung zur
Erfüllung eines gewissenbelastenden Verhaltensgebots. Sie beinhaltet jedoch kei-
neswegs die Aufhebung der generellen Geltung der Rechtspflicht oder gar allgemein
der Rechtsunterworfenheit (vgl. dazu auch BVerfG, Beschlüsse vom 19. Oktober
1971 - 1 BvR 387/65 - und vom 11. April 1972 - 2 BvR
75/71 - ). Es wird „lediglich“ in Vollziehung der Garantie des
Grundrechts eine Handlungsalternative zugelassen, um einen unausweichlichen, den
Betroffenen in seiner geistig-sittlichen Existenz als autonome Persönlichkeit berüh-
renden Konflikt zwischen hoheitlichem Gebot und Gewissensgebot zu lösen. Ebenso
wenig kann unter Berufung auf das eigene Gewissen von anderen eine gleichartige
Gewissensentscheidung verlangt werden. Die negatorische Funktion des Grund-
rechts der Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) richtet sich nur auf die Abwehr
der konkret vom individuell, also höchstpersönlich Betroffenen als untragbar empfun-
denen „Gewissenszumutungen“. Sie schützt auch - anders als etwa die Grundrechte
- 56 -
der Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 Abs. 2 GG) und der Meinungsäußerungsfrei-
heit (Art. 5 Abs. 1 GG) - keine aktive Werbung (Propaganda) für ein bestimmtes
Handeln anderer. Ebenso wenig rechtfertigt sie, unter Berufung auf das eigene Ge-
wissen in Rechtsgüter anderer einzugreifen.
Werden (und müssen) mithin einem Soldaten nach Art. 4 Abs. 1 GG wegen einer von
ihm getroffenen höchstpersönlichen Gewissensentscheidung im konkreten Einzelfall
gewissenschonende Handlungsalternativen angeboten (werden), bedeutet dies auch
nicht die Aufhebung der generellen Geltung der für ihn und die anderen Soldaten aus
§ 11 Abs. 1 SG folgenden allgemeinen Rechtspflicht zum Gehorsam. Ebenso wenig
begründet Art. 4 Abs. 1 GG ein Recht des Soldaten, als Vorgesetzter etwa mittels
eines Befehls ein nach den Maßgaben seines Gewissens bestimmtes Verhalten von
anderen Soldaten verlangen zu können. Denn er kann und darf seine höchstpersön-
liche individuelle Gewissensentscheidung über die abwehrrechtliche Dimension des
Art. 4 Abs. 1 GG hinaus nicht per Befehl bei anderen umsetzen oder „implementie-
ren“ und eine gleichgerichtete Gewissensentscheidung einfordern. Aufgrund der
grundrechtlichen Gewährleistung kann er jedoch verlangen, von der öffentlichen Ge-
walt nicht gehindert zu werden, sich gemäß den ihn bindenden und unbedingt ver-
pflichtenden Geboten seines Gewissen zu verhalten.
4.1.3.1.4 Feststellung einer Gewissensentscheidung
Da die Gewährleistung der Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht durch
das normierte (Verfassungs-)Recht erfolgt und eine Gewissensentscheidung nach
Art. 4 Abs. 1 GG Tatbestandsvoraussetzung dafür ist, dass die vom Grundrecht vor-
gesehenen und vom konkreten Grundrechtsträger geltend gemachten Rechtsfolgen
eintreten, müssen die rechtlichen Voraussetzungen dafür im Einzelfall erfüllt sein.
Nur dann besteht die in Art. 4 Abs. 1 GG normierte Verpflichtung staatlicher Hoheits-
träger, gewissenschonende Handlungsalternativen zur Verfügung zu stellen (vgl. da-
zu u.a. R. Eckertz, a.a.O., 1981, S. 23). Denn das „Ob“ einer Gewissensentschei-
dung muss im Streitfalle - gegebenenfalls im Wege der Beweisaufnahme - positiv
festgestellt werden. Damit ist die Anwendung und Beachtung dieses Rechts, mithin
auch die Bestimmung seiner Grenzen, im Streitfall notwendigerweise Sache des zu-
ständigen Gerichts, dessen Richterinnen und Richtern nach Art. 92 GG die recht-
- 57 -
sprechende Gewalt, also die verbindliche Auslegung und Anwendung des geltenden
Rechts anvertraut ist.
Das Vorliegen einer von Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Gewissensentscheidung als
interner geistig-seelischer Vorgang der Persönlichkeit lässt sich allerdings von außen
in aller Regel nur schwer ermitteln. Denn der Gewissensappell als „innere Stimme“
des Menschen ist in der äußeren Umwelt nicht unmittelbar wahrnehmbar, sondern
kann nur mittelbar aus entsprechenden Indizien und Signalen, die auf eine Gewis-
sensentscheidung und Gewissensnot hinweisen, erschlossen werden. Da das Medi-
um solcher Signale und Indizien vornehmlich die Sprache ist, können der Ernst, die
Tiefe und Unabdingbarkeit der vom Grundrechtsträger im oder für den konkreten
Konfliktfall geltend gemachten Gewissenentscheidung in diesem Medium Ausdruck
finden (vgl. H.H. Rupp, NVwZ 1991, 1033 [1034]). Deshalb wird im Fachschrifttum
(vgl. u.a. Bäumlin, VVDStRL 28 <1970>, 3, 8 f.; Denninger in AK-GG, Bd. 1, 1. Aufl.
1984, Art. 4 RNr. 51 [ebenso Preuß in der 2. Aufl. 1989, RNr. 51]; H.H. Rupp, a.a.O.)
und in der Rechtsprechung (Urteil vom 3. Februar 1988 - BVerwG 6 C 31.86 -
) für eine
positive Feststellung - gerade auch wegen der damit verbundenen rechtlichen Folgen
zu Recht - der Sache nach eine nach außen tretende, rational mitteilbare und nach
dem Kontext intersubjektiv nachvollziehbare Darlegung der Ernsthaftigkeit, Tiefe und
Unabdingbarkeit der Gewissensentscheidung gefordert. Dabei bezieht sich die ratio-
nale Nachvollziehbarkeit der Darlegung nicht auf die Frage, ob die Gewissensent-
scheidung selbst etwa als „irrig“, „falsch“ oder „richtig“ gewertet werden kann (vgl.
u.a. BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 1960 - 1 BvL 21/60 -
[56]>; Urteil vom 2. April 1970 - BVerwG 8 C 61.68 -
Nr. 29 = DÖV 1970, 710 = NJW 1970, 1653>; Adolf Arndt in NJW 1957, 361 [362]),
sondern allein auf das „Ob“, also auf die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Vor-
handenseins des Gewissensgebots und seiner Verhaltensursächlichkeit.
4.1.3.2 Art. 4 Abs. 1 GG wird nicht durch Art. 4 Abs. 3 GG verdrängt.
a) Aus dem Wortlaut der Regelung des Art. 4 Abs. 3 GG ergibt sich nicht, dass ein
Soldat, der keinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gestellt hat,
sich nicht mehr auf sein Grundrecht auf Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) berufen
kann. Im Gegenteil: Nach dem Normtext ist die Möglichkeit der Kriegsdienstverwei-
- 58 -
gerung in Art. 4 Abs. 3 GG als eigenständiges Grundrecht gegenüber dem Grund-
recht der allgemeinen Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG, das jedem Menschen,
also auch einem Soldaten zusteht, für einen spezifischen Normbereich verselbstän-
digt worden.
Aus dem Wortlaut der grundgesetzlichen Regelung ergibt sich kein konkreter An-
haltspunkt dafür, dass das in Art. 4 Abs. 3 GG gewährleistete Grundrecht zur Kriegs-
dienstverweigerung für den Personenkreis der Soldaten die in den vorhergehenden
Absätzen des Art. 4 GG verankerten Grundrechte, namentlich „die Freiheit des Ge-
wissens“ (Art. 4 Abs. 1 GG) als „lex specialis“ verdrängt. Das in Art. 4 Abs. 3 GG ent-
haltene Tatbestandsmerkmal „Gewissen“ knüpft zwar ebenso (vgl. u.a. Dürig, JZ
1967, 426 [427]; Kempen in AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 4 Abs. 3 RNr. 5) wie die ent-
sprechende Regelung in Art. 4 Abs. 1 GG an den allgemeinen Sprachgebrauch an
und ist kein fachsprachlicher „terminus technicus“ (so auch die allgemeine Auffas-
sung im Fachschrifttum, vgl. u.a. Böckenförde, a.a.O., 33 [74]; Herzog, a.a.O.,
RNr. 197). Das führt aber nicht dazu, dass Art. 4 Abs. 1 GG im militärischen Bereich
daneben nicht mehr anwendbar wäre.
b) Vor allem die Entstehungsgeschichte des Art. 4 GG spricht dafür, dass die in
Art. 4 Abs. 3 GG normierte Gewährleistung des Rechts zur Kriegsdienstverweige-
rung den allgemeinen Schutz der „Freiheit des Gewissens“ (Art. 4 Abs. 1 GG) spezi-
fizieren und verstärken sollte. Der Schutz der Gewissensfreiheit Art. 4 Abs. 1 GG
sollte dagegen nicht eingeschränkt werden.
In dem vom „Verfassungsausschuss der Ministerpräsidenten-Konferenz der westli-
chen Besatzungszonen“ erarbeiteten „Entwurf eines Grundgesetzes“, der Bestandteil
des „Berichts über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis
23. August 1948“ (HCh-Entwurf) war und den Beratungen des Grundgesetzes im
Parlamentarischen Rat zugrunde lag, war die Verankerung eines Kriegsdienstver-
weigerungsrechts noch nicht vorgesehen. In Art. 6 HCh-Entwurf fand sich lediglich
die allgemeine Gewährleistung der Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit („1)
Glaube, Gewissen und Überzeugung sind frei. 2) Der Staat gewährleistet die unge-
störte Religionsausübung“). Der spätere Art. 4 Abs. 3 GG geht im Parlamentarischen
Rat auf einen in der 26. Sitzung seines Grundsatzausschusses am 30. November
- 59 -
1948 eingebrachten Antrag (der SPD-Fraktion) zurück, folgende Bestimmung in den
Grundrechtsteil des Grundgesetzes aufzunehmen:
„Jedermann ist berechtigt, aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit
der Waffe zu verweigern.“
Dieser Antrag wurde in der 27. Sitzung des Grundsatzausschusses am 1. Dezember
1948 in folgender Fassung angenommen:
„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe ge-
zwungen werden. Das Nähere bestimmt des Gesetz.“
(Stenographisches Protokoll, Sitzung vom 30. November 1948, S. 80 ff.;
Anlage zum 27. Kurzprotokoll vom 1. Dezember 1948, S. 2; sowie Eber-
hard, Wie kam Artikel 4, 3 GG zustande?, in: Gillig/Schultz ,
Grundrecht nach Bedarf, 1978, S. 19 [20])
Über die mit dem Antrag verfolgte Regelungsabsicht gibt die Erklärung Auskunft, die
der SPD-Abgeordnete Bergstraeßer zur Begründung des Artikels bei der ersten Le-
sung in der 17. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates am
3. Dezember 1948 gab:
„Wir haben diesen Zusatzantrag hier untergebracht, weil hier von der Frei-
heit des Glaubens und des Gewissens die Rede ist. Der Zusatzantrag hat
gerade zum Inhalt, dass Menschen - wir haben dabei an Mennoniten, die
Zeugen Jehovas und an Mitglieder anderer Sekten gedacht - aufgrund ih-
rer religiösen Überzeugung und ihres Gewissens keinen Kriegsdienst mit
der Waffe machen wollen.“ (17. Sitzung des Hauptausschusses vom
3. Dezember 1948, Protokoll S. 209, abgedruckt in Lutz, Krieg und Frie-
den als Rechtsfrage im Parlamentarischen Rat 1948/49,1982, S. 82).
Er erwiderte damit auf einen Einwand des Abgeordneten Strauß (CDU), der vorge-
bracht hatte, eine Regelung über das Recht zur Kriegsdienstverweigerung gehöre
nicht in den Artikel, der sich mit dem Schutz der Gedanken-, Gewissens- und Religi-
onsfreiheit befasse. Der Antrag der SPD-Fraktion wurde jedoch mit elf zu drei Stim-
men in erster Lesung angenommen.
In der zweiten Lesung der Regelung (damals Art. 5 Abs. 5) in der 43. Sitzung des
Hauptausschusses hatte zunächst der Abgeordnete Theodor Heuss (FDP) unter Be-
rufung auf einen drohenden, die allgemeine Wehrpflicht als „legitimes Kind der De-
mokratie“ gefährdenden „Massenverschleiß des Gewissens“ eine Streichung der
- 60 -
vorgesehenen Verankerung eines Kriegsdienstverweigerungsrechtes im Grundge-
setz beantragt; er forderte, die Regelung dieser Frage gänzlich einem einfachen Ge-
setz zu überlassen (43. Sitzung des Hauptausschusses vom 18. Januar 1949, Proto-
koll S. 545). Dies stieß im Hauptausschuss jedoch auf heftigen Widerspruch. Gegen
die Position von Theodor Heuss erwiderte u.a. der SPD-Abgeordnete Fritz Eberhard:
„Ich glaube durchaus, dass man weder die Demokratie noch den Frieden
unter allen Umständen einfach durch ein Bekenntnis zur Kriegsdienstver-
weigerung verteidigen kann. Trotzdem bin ich gerade nach diesem furcht-
baren Krieg und nach dem totalitären System dafür, einen solchen Absatz
einzufügen. Herr Dr. Heuss, Sie sprachen von dem Massenverschleiß des
Gewissens, den Sie befürchten. Ich glaube, wir haben hinter uns einen
Massenschlaf des Gewissens. In diesem Massenschlaf des Gewissens
haben die Deutschen zu Millionen gesagt: Befehl ist Befehl und haben ge-
tötet. Dieser Absatz kann eine große pädagogische Wirkung haben und
wir hoffen, er wird sie haben. … Darum glaube ich, gerade in dieser Situa-
tion nach dem Kriege und nach dem totalitären System, wo wir Schluss
machen müssen mit der Auffassung ‚Befehl ist Befehl’ - wenn wir nämlich
Demokratie aufbauen wollen - ist dieser Satz angebracht.“
(vgl. Protokoll der Sitzung des Hauptausschusses vom 18. Januar 1949,
S. 546; Lutz, a.a.O., S. 102 f.; Doemming/Fuesslein/Matz, Entstehungs-
geschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR n.F. 1 <1951>, S. 78;
Eberhard, a.a.O., S. 19 [23 f.])
Diese Position konnte sich schließlich durchsetzen. Der Streichungsantrag von The-
odor Heuss wurde vom Hauptausschuss mit 15 gegen zwei Stimmen abgelehnt; der
gesamte Artikel (Drs. 535) wurde mit 17 Stimmen am 18. Januar 1949 in zweiter Le-
sung des Hauptausschusses angenommen. Auch in der dritten Lesung am 8. Feb-
ruar 1949 fand die Regelung im Hauptausschuss eine klare Mehrheit und wurde oh-
ne Gegenstimmen gebilligt (Drs. 604; Protokoll S. 603, 613 f.). In der abschließenden
vierten Lesung des Hauptausschusses am 5. Mai 1949 erhielt ein zunächst vom Ab-
geordneten Lehr (CDU) und weiteren Abgeordneten gestellter Antrag auf Streichung
der vorgesehenen „KDV-Regelung“ (damals Art. 5 Abs. 5) keine Mehrheit. Die Vor-
schrift wurde nach einer abschließenden Erklärung des Abgeordneten Zinn (SPD) in
der heute als Art. 4 Abs. 3 GG geltenden Fassung mit 13 gegen sieben Stimmen ge-
billigt (Protokoll S. 745 f). In der 9. Sitzung des Plenums des Parlamentarischen Ra-
tes am 6. Mai 1949 wurde die Regelung dann bei der Gesamtabstimmung über Art. 4
GG als dessen Absatz 3 bei zwei Gegenstimmen verabschiedet.
- 61 -
Aus dieser Entstehungsgeschichte ergibt sich, dass mit der Einfügung des Kriegs-
dienstverweigerungsrechts (Art. 4 Abs. 3 GG) niemand die Reichweite und den
Schutzumfang der in Art. 4 Abs. 1 GG verankerten Grundrechte einschränken wollte.
Kein Abgeordneter äußerte sich in dieser Richtung. Die Verankerung des Kriegs-
dienstverweigerungsrechts erfolgte vor dem Hintergrund der schmerzlichen Erfah-
rungen aus der damals erst wenige Jahre zurückliegenden NS-Zeit. Der Verfas-
sungsgeber war der Auffassung, die bloße Gewährleistung der „Freiheit des Gewis-
sens“ reiche nicht aus, sondern müsse spezifiziert und damit verstärkt werden, um
einen erneuten „Massenschlaf des Gewissens“ („Befehl ist Befehl“) verhindern zu
helfen. Diese Entscheidung des Verfassungsgebers erfolgte vor dem Hintergrund,
dass man - wie es in der Präambel zum Grundgesetz formuliert wurde - „von dem
Willen beseelt“ war, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem
Frieden der Welt zu dienen“. Dementsprechend wurde nicht nur auf eine „völker-
rechtsfreundliche“ Ausgestaltung des Grundgesetzes (vor allem in Art. 24 und 25)
besonderer Wert gelegt, sondern in Art. 26 auch ein spezielles Verbot des Angriffs-
krieges und aller Handlungen verankert, die „geeignet sind und in der Absicht vorge-
nommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören“. Der Verfas-
sungsgeber knüpfte damit an entsprechende Regelungen in mehreren Länderverfas-
sungen an, die - wie zum Beispiel die Hessische Verfassung - eine ausdrückliche
„Ächtung des Krieges“ vorsahen. In länderverfassungsrechtlichen Regelungen und in
den zu ihrer Konkretisierung vorgesehenen und ergangenen gesetzlichen Länder-
Vorschriften war die explizite Gewährleistung des Rechts auf Kriegsdienstverweige-
rung an keine einschränkende, insbesondere nicht an die Voraussetzung einer Ge-
wissensentscheidung geknüpft worden (vgl. etwa Art. 69 Abs. 1 der Hessischen Lan-
desverfassung vom 18. Dezember 1946 und § 1 des vorgesehenen Ausführungsge-
setzes; Art. 3 der Badischen Verfassung vom 22. Mai 1947 [„Kein badischer Staats-
bürger darf zur Leistung militärischer Dienste gezwungen werden.“]; Bayerisches
Gesetz Nr. 94 über Straffreiheit bei Kriegsdienstverweigerung vom 21. September
1947 [„Kein Staatsbürger kann zu Militärdienst oder zur Teil-
nahme an Kriegshandlungen gezwungen werden. Aus der Geltendmachung dieses
Rechts darf ihm kein Nachteil erwachsen.“]; Gesetz Nr. 1007 von Württem-
berg/Baden über die Kriegsdienstverweigerung vom 28. April 1940
[„Niemand darf zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“] sowie Art. 21
- 62 -
Abs. 2 der Berliner Verfassung vom 1. September 1950 [„Jedermann hat das Recht,
Kriegsdienste zu verweigern, ohne dass ihm Nachteile entstehen dürfen.“]).
Wenn im Parlamentarischen Rat - wie dargestellt - das Recht zur Kriegsdienstver-
weigerung demgegenüber an Gewissensgründe („Niemand darf gegen sein Gewis-
sen … gezwungen werden“) gebunden wurde, war damit keine Verminderung der
grundrechtlichen Gewährleistung der allgemeinen Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1
GG intendiert. Es sollte nur ein - wie sich historisch gezeigt hatte - besonderer Ge-
fährdungsbereich explizit unter verfassungsrechtlichen Schutz gestellt werden.
c) Das ergibt sich auch aus dem Regelungszusammenhang. Allein der Umstand,
dass - ebenso wie in Art. 4 Abs. 1 GG - auch in Art. 4 Abs. 3 GG das Gewissen ge-
schützt wird, führt nicht dazu, dass letztere Vorschrift gleichsam als abschließende
Spezialvorschrift für den militärischen Bereich anzusehen ist, die der Grundnorm des
Art. 4 Abs. 1 GG vorgeht. Auch an anderer Stelle des Grundgesetzes ist das „Gewis-
sen“ noch Gegenstand einer weiteren speziellen Regelung: Abgeordnete des Deut-
schen Bundestages, die gemäß Art. 38 GG als „Vertreter des ganzen Volkes“, an
Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind, sind „nur ihrem Gewissen unterwor-
fen“. Art. 38 Abs. 1 GG lässt den Gewissensschutz nach Art. 4 Abs. 1 GG für den
jeweils betroffenen Abgeordneten unberührt und schränkt ihn nicht ein, sondern ent-
faltet über ihn hinaus (negatorische) Wirkungen gegenüber jeglichen Versuchen, Ab-
geordnete an Aufträge und Weisungen zu binden oder sie bei ihrer Gewissensent-
scheidung zu beeinträchtigen. Erst recht verdrängt er in seinem Anwendungsbereich
nicht das Grundrecht der Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) jedes einzelnen
Abgeordneten.
Vielmehr muss beachtet werden, dass der in Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG verankerte
Normbefehl („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe
gezwungen werden“) gegenüber Art. 4 Abs. 1 GG eine eigenständige Regelung mit
einem eigenständigen Regelungsgehalt darstellt.
Dafür spricht schon, dass die Regelung im Nachgang zu Art. 4 Abs. 1 GG in das
Grundgesetz aufgenommen wurde. Auch die in Satz 2 der Regelung des Art. 4
Abs. 3 GG erfolgte Ermächtigung des einfachen Gesetzgebers, hinsichtlich der Aus-
- 63 -
gestaltung des verfassungsrechtlich normierten Verbotes jeden Zwanges „zum
Kriegsdienst mit der Waffe“ durch ein Bundesgesetz „das Nähere“ zu regeln, lässt
erkennen, dass für den von Art. 4 Abs. 3 GG erfassten Normbereich eine spezifische
und damit eigenständige Regelung gelten sollte. Denn Art. 4 Abs. 1 GG enthält einen
solchen Ausgestaltungsvorbehalt nicht. Dies heißt aber zugleich: Die Regelung des
Art. 4 Abs. 3 GG stellt eine den allgemeinen Schutz der „Freiheit des Gewissens“
ergänzende oder modifizierende „Sonderregelung“ nur insoweit dar, wie ihr Anwen-
dungsbereich (Regelungsgehalt) reicht. Im Übrigen bleibt die allgemeine Regelung
des Art. 4 Abs. 1 GG unberührt.
d) Dafür spricht auch der Regelungszweck. Regelungsgehalt des Art. 4 Abs. 3 Satz 1
GG und des damit in engem Zusammenhang stehenden Art. 12a Abs. 2 GG ist das
verfassungsrechtliche Verbot des Zwangs „zum Kriegsdienst mit der Waffe“. Der
Begriff „Kriegsdienst mit der Waffe“ schließt nach der ständigen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts auch den „Friedenswehrdienst“ mit ein, „da der Ersatz-
dienst … gerade auch an die Stelle des Wehrdienstes im Frieden treten sollte“ (vgl.
u.a. Beschluss vom 20. Dezember 1960 - 1 BvL 21/60 - ). Hiermit wird,
so das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, verdeutlicht, dass
Art. 4 Abs. 3 GG - nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht - „das Recht um-
fasst, den Dienst mit der Waffe schon im Frieden zu verweigern“; dies sei „sinnvoll
- nicht nur, weil der Staat kein Interesse daran haben kann, Wehrpflichtige mit der
Waffe auszubilden, die im Kriegsfall die Waffenführung verweigern werden, sondern
auch vom Standpunkt des Einzelnen aus, dem eine Ausbildung nicht aufgezwungen
werden darf, die einzig den Zweck hat, ihn zu einer Betätigung vorzubereiten, die er
aus Gewissensgründen ablehnt“.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützt Art. 4
Abs. 3 GG nach seinem Regelungsgehalt nur denjenigen, der aus Gewissensgrün-
den den „Kriegsdienst mit der Waffe“ (und damit auch den „Friedenswehrdienst“)
schlechthin ablehnt und verweigert (Beschluss vom 20. Dezember 1960 - 1 BvL
21/60 -
Verwendung kommenden - Waffen Menschen im Kriege“ töten zu müssen, „nach
dem Grundgesetz für den Einzelnen die schwere innere Belastung, die es rechtfer-
tigt, seine ablehnende Gewissensentscheidung anzuerkennen, obwohl sie zur Ver-
- 64 -
weigerung einer in Verfassung und Gesetz allgemein auferlegten staatsbürgerlichen
Pflicht führt und damit - wenigstens vordergründig - zu den Interessen des Staates in
Widerstreit tritt“. Der Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 3 GG bezieht sich damit auf
den „Bereich der Wehrpflicht“, also die zwangsweise Heranziehung zum „Kriegs-
dienst mit der Waffe“ und zum „Friedenswehrdienst“. Das in dieser Norm verankerte
Recht zur Kriegsdienstverweigerung soll unter den im dazu ergangenen Bundesge-
setz geregelten näheren Voraussetzungen gerade davon freistellen.
Aus dem Regelungszweck des Art. 4 Abs. 3 GGlässt sich jedoch nicht ableiten, dass
Staatsbürgern, die den durch Gesetz begründeten Zwang zum “Kriegsdienst mit der
Waffe“ nicht ablehnen, sondern sogar als Soldaten auf Zeit oder als Berufssoldaten
freiwillig in die Bundeswehr eintreten und damit ihre grundsätzliche Bereitschaft zum
Kriegsdienst bejahen, die Möglichkeit einer Berufung auf ihr allgemeines, d.h. jeder
Bürgerin und jedem Bürger zustehendes Grundrecht der unverletzlichen „Freiheit des
Gewissens“ nach Art. 4 Abs. 1 GG genommen ist. Zwar können auch Soldaten im
Sinne des Art. 4 Abs. 3 GG die Anerkennung der Berechtigung, den „Kriegsdienst mit
der Waffe“ zu verweigern, beantragen (vgl. § 4 KDVG). Es geht dabei jedoch um die
Erlangung des Status eines anerkannten Kriegsdienstverweigerers, der - so die stän-
dige Rechtsprechung - nur von dem erlangt werden kann, der den “Kriegsdienst mit
der Waffe“ schlechthin, also grundsätzlich in jedem und für jeden Krieg verweigert.
Daraus kann weiterhin gefolgert werden: Wer zum Eintritt in die Bundeswehr bereit
ist oder an seinem Verbleiben in der Bundeswehr als Soldat festhalten will, kann kei-
nen Antrag nach Art. 4 Abs. 3 GG auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer (vgl.
auch § 1 KDVG) stellen. Es wäre ein Widerspruch in sich. Auf Soldaten, die den
„Kriegsdienst mit der Waffe“ nicht schlechthin ablehnen, sondern nach Begründung
des Dienstverhältnisses ihre im Rahmen der Verfassung und Gesetze auferlegten
Dienstpflichten innerhalb der Bundeswehr erfüllen wollen, bezieht sich die Regelung
des Art. 4 Abs. 3 GG gerade nicht. Sie schützt in ihrer durch Gesetzgeber und
Rechtsprechung erfolgten inhaltlichen Ausgestaltung eben nur vor der „in Verfassung
und Gesetz allgemein auferlegten staatsbürgerlichen Pflicht“ (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 20. Dezember 1960 - 1 BvL 21/60 - sowie stRspr.) zum Wehr-
dienst. Das aber heißt zugleich: Soldaten gehen ihres nach Art. 4 Abs. 1 GG unver-
letzlichen Grundrechts auf „Freiheit des Gewissens“ nicht verlustig, wenn sie keinen
Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer stellen und Soldaten der Bun-
- 65 -
deswehr bleiben wollen. Auch Soldaten werden durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützt,
und zwar immer dann, wenn sie - in der noch näher zu erörternden Weise - dartun
können, dass ihr Gewissen ihnen ein bestimmtes, von ihnen gefordertes Verhalten
unbedingt verbietet.
Insgesamt lässt sich der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
entnehmen, dass Art. 4 Abs. 3 GG die Wirkungen der Gewissensfreiheit (nur) „im
Bereich der Wehrpflicht“ abschließend regelt. Geht es dagegen im Einzelfall nicht um
den Antrag eines Wehrpflichtigen, durch Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer
nach Art. 4 Abs. 3 GG von der allgemeinen Wehrpflicht befreit zu werden, sondern
um die Berufung eines Soldaten auf seine „Freiheit des Gewissens“ nach Art. 4
Abs. 1 GG gegenüber einem militärischen Befehl seines Vorgesetzten, liegt bislang
keine einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor. In seiner
- so weit ersichtlich - ersten Entscheidung zur Gewissensfreiheit hat es mit Beschluss
vom 4. Oktober 1965 - 1 BvR 112/63 - auf die Verfassungsbe-
schwerde eines anerkannten Kriegsdienstverweigerers, der der Glaubensgemein-
schaft der Zeugen Jehovas angehörte, entschieden, ein Ersatzdienstverweigerer
könne sich gegenüber der Heranziehung zum Ersatzdienst nicht auf Art. 4 Abs. 1 GG
berufen. Art. 4 Abs. 3 GG regele die Wirkungen der Gewissensfreiheit „im Bereich
der Wehrpflicht“ abschließend . Zur Begründung hat der
1. Senat des Bundesverfassungsgerichts zum einen auf die o.a. eigene Entschei-
dung vom 20. Dezember 1960 verwiesen, in der sich allerdings keine nähere Be-
gründung findet. In jener Entscheidung wird zwar das Grundrecht der Gewissensfrei-
heit (Art. 4 Abs. 1 GG) erwähnt; ein Vorrang der Gewährleistung des Grundrechts
des Art. 4 Abs. 3 GG gegenüber dem Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 GG wird jedoch
nicht einmal behauptet. Abgesehen davon ging es in der Entscheidung vom
4. Oktober 1965 lediglich um die Frage, ob unter Berufung auf Art. 4 Abs. 1 GG die
Leistung von Ersatzdienst verweigert werden darf. Die Verneinung dieser Frage hat
das Bundesverfassungsgericht letztlich mit folgender Erwägung begründet: Es sei
davon auszugehen, dass Art. 4 Abs. 3 GG die Wirkungen der Gewissensfreiheit „im
Bereich der Wehrpflicht abschließend“ regele; „anders wäre es nicht verständlich,
dass Art. 4 Abs. 3 GG das Zwangsverbot ausdrücklich auf den ‚Kriegsdienst mit der
Waffe’ beschränkt. Es würde dem offensichtlichen Sinn dieser Regelung widerspre-
chen, wenn man ein Verbot des Zwangs zum Kriegsdienst ‚ohne Waffe’ unmittelbar
- 66 -
aus Art. 4 Abs. 1 GG ableiten wollte. Umso weniger kann sich ein Wehrpflichtiger
gegenüber der Einberufung zum Ersatzdienst, der nicht einmal notwendig Kriegs-
dienst sein muss, auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen“.
Es bedarf hier keiner näheren Prüfung der Frage, ob diese Entscheidung vom 4. Ok-
tober 1965, die im Fachschrifttum (Anm. von Adolf Arndt, NJW 1965, 2195 f.) auf er-
hebliche Kritik gestoßen ist, der in Art. 4 Abs. 1 GG verankerten Gewährleistung der
Gewissensfreiheit hinreichend gerecht wird. Denn dies ist im vorliegenden Falle nicht
entscheidungserheblich, weil es nicht um die Verweigerung des Ersatzdienstes geht.
Die angeführte Entscheidung verdeutlicht aber jedenfalls, dass das Bundesverfas-
sungsgericht den - insoweit abschließenden - Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 3
GG auf den „Bereich der Wehrpflicht“ bezieht. Ferner ist festzuhalten: Zur Frage der
Wirkungen des Grundrechts der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber
militärischen Befehlen, die Soldaten im dienstlichen Bereich erteilt werden, verhält
sie sich nicht. Sie bezieht sich allein auf einen Ersatzdienstverweigerer.
Auch im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 1968 - 1 BvR
579/67 - ging es allein um die Verweigerung des zivilen Ersatz-
dienstes. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei entschieden, dass „das Grund-
recht der Gewissensfreiheit zur Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes nicht be-
rechtigt“. Gegenüber der an seiner früheren Entscheidung geäußerten Kritik hat es
bekräftigt, Art. 4 Abs. 3 GG konkretisiere und beschränke „für den Fall der Wehr-
pflicht“ abschließend die Reichweite der freien Gewissensentscheidung (ebd. [132]).
Dies ergebe sich aus Art. 12 Abs. 2 Satz 2 bis 4 GG (in der damaligen Fassung), die
sich unmittelbar an Art. 4 Abs. 3 GG sachlich anschlössen, ohne diesen in irgendei-
ner Weise einzuschränken. Deshalb versage „gegenüber der Bestrafung wegen Er-
satzdienstverweigerung“ die Berufung auf Art. 4 Abs. 1 GG (ebd. [132]).
In einer weiteren Entscheidung vom 26. Mai 1970 - 1 BvR 83/69 u.a. - (BVerfGE 28,
243) hat es dann in mehreren Fällen, in denen die wehrpflichtigen Beschwerdeführer
nach erfolgtem Dienstantritt Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer
gestellt, die weitere militärische Dienstleistung mit der Waffe jedoch abgelehnt hat-
ten, die Verfassungsbeschwerden der Betroffenen zurückgewiesen. Es führte dabei
aus, die Bewertung des Verhaltens der Betroffenen als Dienstvergehen verstoße
- 67 -
nicht gegen die Grundrechte aus Art. 4 Abs. 3, Art. 1 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 GG,
so lange über ihren Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer noch nicht
rechtskräftig entschieden worden sei und sie als Soldaten in dieser Zeit eine von ih-
nen geforderte militärische Dienstleistung verweigert hätten. Es sei nicht zu bean-
standen, wenn der Gesetzgeber der Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern ein
gesetzlich geregeltes Verfahren vorweg schalte. Allerdings lasse der Wortlaut des
Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG - für sich allein betrachtet - keinen Raum für eine Interpreta-
tion, die die Wirksamkeit des Kriegsdienstverweigerungsrechts bis zum Zeitpunkt der
rechtskräftigen Anerkennung hinausschiebe. Jedoch stehe „dem Interesse des noch
nicht anerkannten Kriegsdienstverweigerers“ die „Notwendigkeit eines ungestörten
Dienstbetriebes der Bundeswehr bis zur endgültigen Entscheidung über die Aner-
kennung sowie das Bedürfnis nach Aufrechterhaltung der Disziplin“ gegenüber (ebd.
[261]). Diese „für das Fortbestehen der Dienstpflicht bis zur Anerkennung sprechen-
den Gesichtspunkte“ könnten allerdings das Grundrecht der Kriegsdienstverweige-
rung „nicht völlig zurückdrängen“. In Betracht komme deshalb „nur eine Zurückdrän-
gung des Grundrechts in einzelnen Beziehungen, die seinen Grundwertgehalt nicht“
antasteten. Die vorläufig aufrechterhaltene Dienstbeanspruchung für die Dauer des
Anerkennungsverfahrens sei mit Sinn und Inhalt des gewährten Grundrechts verein-
bar, weil diese Inanspruchnahme den Kern der Kriegsdienstverweigerung unberührt
lasse und eine vorläufige weitere Dienstleistung dem Soldaten deshalb zugemutet
werden könne. Zentraler Zweck des Art. 4 Abs. 3 GG sei es, die Gewissensposition
gegen den Kriegsdienst mit der Waffe zu schützen und den Kriegsdienstverweigerer
vor dem Zwang zu bewahren, töten zu müssen. Dieser Zwang trete „im Frieden
grundsätzlich nicht so unmittelbar an den Soldaten heran wie im Kriege“. Zumutbar
sei dem Soldaten diese vorläufige Dienstleistung auch deshalb, weil „die Befreiung
von der allgemeinen Wehrpflicht“ ein Ausdruck des Toleranzprinzips sei, dem auch
das Verhalten des Berechtigten entsprechen müsse, wenn es sich nicht um den
Kernbereich seiner Freiheit handele, sondern „um formale Randpositionen“. Ein
Kriegsdienstverweigerer werde durch das Verlangen, im Frieden bis zur rechtskräfti-
gen Anerkennung Waffendienst zu leisten, nicht gezwungen, entgegen seiner Ge-
wissensüberzeugung in einer Kriegshandlung einen anderen töten zu müssen. Es sei
ihm deshalb zuzumuten, für eine kurze Übergangszeit den bisher geleisteten Dienst
noch fortzusetzen (ebd. [262]). „Ob und inwieweit diese Maßstäbe im Kriegsfall im
Hinblick auf die dann bestehenden außergewöhnlichen Verhältnisse zu modifizieren“
- 68 -
seien, ließ das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich offen (ebd. [263]). Ein Ver-
stoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG sei nicht ersichtlich. Eine Verletzung der allgemeinen
Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) verneinte es mit der Erwägung, die „Vorausset-
zungen für eine Befreiung von der Dienstpflicht aus Gewissensgründen“ seien in
Art. 4 Abs. 3 GG als einer Spezialnorm „abschließend geregelt“. Daneben komme
eine Berufung auf das allgemeine Grundrecht der Handlungsfreiheit nicht in Betracht
(ebd. [264]). Ausführungen zum Verhältnis von Art. 4 Abs. 3 zu Art. 4 Abs. 1 GG fin-
den sich in dieser Entscheidung nicht.
Auch in seiner weiteren Entscheidung vom 13. April 1978 - 2 BvF 1/77 u.a. -
(BVerfGE 48, 127) hat sich das Bundesverfassungsgericht zum Verhältnis von Art. 4
Abs. 3 zu Art. 4 Abs. 1 GG nicht geäußert. In dieser Entscheidung ging es ebenfalls
nicht um die Berufung eines Soldaten auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit
nach Art. 4 Abs. 1 GG, sondern allein um die Reichweite des Art. 4 Abs. 3 GG ge-
genüber der im Wehrpflichtgesetz verankerten allgemeinen Wehrpflicht. Die Ent-
scheidung erging in einem Verfahren, in dem Mitglieder des Deutschen Bundestages
sowie mehrere Landesregierungen gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76
Nr. 1 BVerfGG beantragt hatten, im Wege der abstrakten Normenkontrolle das
Wehrpflichtänderungsgesetz vom 13. Juli 1977 („Postkarten-Novelle“) für verfas-
sungswidrig zu erklären. Über die Berufung eines Soldaten auf sein Grundrecht aus
Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber ihm erteilten militärischen Befehlen seiner Vorgesetzten
war nicht zu entscheiden.
Gleiches gilt auch für die weitere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
24. April 1985 - 2 BvF 2/83 u.a. - (BVerfGE 69, 1), die Normenkontrollanträge gemäß
Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 Nr. 1 BVerfGG der Bundesländer Bremen,
Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen sowie von Mitgliedern des Deutschen
Bundestages gegen das Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz vom
28. Februar 1983 betraf. Auch darin ging es zentral um die Frage, ob die vom Ge-
setzgeber getroffene Neuregelung des Kriegsdienstverweigerungsrechts mit der ver-
fassungsrechtlichen Gewährleistung des Grundrechts des Art. 4 Abs. 3 GG vereinbar
war, was das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis im Wesentlichen bejahte. Im
Rahmen dieser Prüfung führte es aus, es verstoße nicht gegen Art. 4 Abs. 1 GG,
dass auch diejenigen Kriegsdienstverweigerer, die zu einer Glaubensgemeinschaft
- 69 -
gehörten, deren Glaubensgrundsätze die Verweigerung des Kriegsdienstes mit um-
fassten, und deren Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst mit der Waffe
daher offenkundig erschien, verpflichtet seien, den verlängerten Zivildienst zu leisten
und ein Prüfverfahren zu durchlaufen. Wie alle anderen, die sich auf das Grundrecht
aus Art. 4 Abs. 3 GG beriefen und damit die Freistellung von der Verpflichtung,
„Wehrdienst zu leisten“, begehrten, hätten auch sie die Last der Darlegung der von
ihnen getroffenen Gewissensentscheidung. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit
(Art. 4 Abs. 1 GG) stelle sie von dieser Last im Kriegsdienstverweigerungsverfahren
nicht frei.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 4 Abs. 3
GG wirdeine „situative“ oder „situationsbedingte“ Kriegsdienstverweigerung und da-
mit eine Anerkennung eines Wehrpflichtigen als Kriegsdienstverweigerer, der den
Waffendienst nicht schlechthin, sondern lediglich die Teilnahme an bestimmten Krie-
gen ablehnt, nicht durch Art. 4 Abs. 3 GG geschützt (vgl. u.a. Urteil vom 5. März
1986 - BVerwG 6 C 34.84 -
= NVwZ 1986, 752 = DVBl 1986, 1104> m.w.N.).
Ungeachtet der Frage, ob die in der Öffentlichkeit und im Fachschrifttum gegenüber
der bisherigen Ablehnung der Anerkennung einer „situationsbedingten“ Kriegsdienst-
verweigerung nach Art. 4 Abs. 3 GG vorgebrachten Bedenken (vgl. dazu u.a. Adolf
Arndt, NJW 1968, 979; Heinemann, NJW 1961, 355 f.; R. Eckertz, Die Kriegsdienst-
verweigerung aus Gewissensgründen als Grenzproblem des Rechts, 1986,
S. 352 ff.) berechtigt sind oder nicht, ändert dies nichts daran, dass der Fall des An-
trags auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nach Art. 4 Abs. 3 GG und damit
der Freistellung von der Wehrpflicht strikt von dem Fall der Berufung eines Soldaten
auf sein Grundrecht der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber einem
Befehl zu unterscheiden ist. Denn ein Soldat, der sich auf das Grundrecht des Art. 4
Abs. 1 GG beruft, will gerade nicht von seiner Wehrpflicht befreit und nicht als
Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden. Vielmehr geht es ihm darum, in seinem
fortbestehenden Dienstverhältnis im konkreten Einzelfall sein Grundrecht auf Gewis-
sensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) in Anspruch zu nehmen. Dass „unter Umständen im
Konflikt mit anderen Verfassungsbestimmungen“ in einer konkreten Lage, in der es
innerlich unabweisbar wird, sich zu entscheiden, dem Grundrecht der Freiheit des
- 70 -
Gewissens nach Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber einem Befehl das größere Gewicht zu-
kommen kann mit der Folge, dass der Befehl (z.B. zum Einsatz von Waffen) „unver-
bindlich ist“, hat der erkennende Senat in den zahlreichen oben angeführten Ent-
scheidungen und damit in gefestigter Rechtsprechung wiederholt bestätigt. Daran
hält der Senat fest.Wie oben eingangs dargelegt, entspricht ein solches Verständnis
des Verhältnisses von Art. 4 Abs. 1 zu Art. 4 Abs. 3 GG insbesondere auch der Ent-
stehungsgeschichte und dem Regelungszusammenhang der beiden Grundrechte.
Denn dem Verfassungsgeber kam es ersichtlich darauf an, neben der im Parlamen-
tarischen Rat gänzlich unbestrittenen Gewährleistung des Grundrechts der Gewis-
sensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG durch die ausdrückliche Normierung eines Rechts
zur Kriegsdienstverweigerung in Art. 4 Abs. 3 GG die Gewissensfreiheit zu stärken
und für einen speziellen Bereich zu konkretisieren, nicht jedoch die in Art. 4 Abs. 1
GG gewährleistete Gewissensfreiheit einzuschränken.
Im Übrigen folgt zudem, wie oben in anderem Zusammenhang dargelegt, auch aus
Art. 17a GG, dass (auch) bei Soldaten das Grundrecht der Gewissensfreiheit nach
Art. 4 Abs. 1 GG nicht einmal durch Gesetz eingeschränkt werden darf. Dies ist auch
konsequent, da das Grundgesetz nach der ständigen Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichts „die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchs-
ten Rechtswert“ ansieht und “folgegerecht in Art. 4 Abs. 1 GG die Freiheit des Ge-
wissens und seiner Entscheidungen, in denen sich die autonome sittliche Persön-
lichkeit unmittelbar ausspricht, als ‚unverletzlich’ anerkannt” hat (vgl. u.a. Beschluss
vom 20. Dezember 1960 - 1 BvL 21/60 - ).
4.1.4 Gewissensentscheidung des Soldaten
Eine Gewissensentscheidung des Soldaten im Sinne des Art. 4 Abs. 1 GG lag hier
vor. Namentlich handelte es sich um eine ernste sittliche, also an den Kriterien von
„Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung, die der Soldat in einer bestimmten Lage
als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfuhr, so dass er gegen
sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln konnte. Das ergibt sich sowohl aus dem
konkreten Kontext des Handelns des Soldaten (dazu Nr. 4.1.4.1) als auch aus seiner
nachvollziehbaren glaubhaften Darlegung von Umständen, die auf die Ernsthaftig-
keit, Tiefe und Unabdingbarkeit der geltend gemachten Gewissensentscheidung,
- 71 -
namentlich auch auf die Glaubwürdigkeit seiner Persönlichkeit und seine Bereitschaft
zur Konsequenz schließen lassen (dazu Nr. 4.1.4.2).
4.1.4.1 Die vom Soldaten am 7. April 2003 konkret getroffene Gewissensentschei-
dung fand in einem Kontext statt, der von auch für einen - zum Waffeneinsatz in ei-
nem Krieg grundsätzlich (nach wie vor) bereiten - Berufssoldaten besonderen Um-
ständen bestimmt und geprägt war. Diese Situation hat der Soldat weder vorder-
gründig und leichtfertig angenommen noch bewusst herbeigeführt.
Hintergrund und Anstoß für sein Handeln war der von den Regierungen der USA und
des UK am 20. März 2003 ausgelöste Krieg gegen den Irak, der auch ungeachtet der
im Zuge der Kampfhandlungen erfolgten militärischen Besetzung des Landes bis
heute andauert. Gegen diesen Krieg bestanden und bestehen gravierende völker-
rechtliche Bedenken (dazu 4.1.4.1.1), die sich der Soldat der Sache nach zu eigen
machte. Im Zusammenhang mit diesem Krieg erbrachte die Regierung der Bundes-
republik Deutschland konkrete Unterstützungsleistungen zugunsten der Streitkräfte
der USA und des UK, die ebenfalls gravierenden völkerrechtlichen Bedenken ausge-
setzt waren und schwere Gewissenskonflikte beim Soldaten auslösten (dazu
4.1.4.1.2). Von den diesbezüglichen Anforderungen des Völkerrechts war die Bun-
desrepublik Deutschland nicht durch NATO-Vertrag oder andere Abkommen mit
NATO-Vertragspartnern freigestellt (dazu 4.1.4.1.3). Nach den vom Senat getroffe-
nen Feststellungen war zum hier maßgeblichen Zeitpunkt des dem Soldaten vorge-
worfenen Dienstvergehens am 7. April 2003 jedenfalls nicht auszuschließen, dass
das IT-Projekt SASPF, an dem dieser im Rahmen der mit seinem damaligen Dienst-
posten verbundenen Aufgaben im S. verantwortlich mitarbeitete, auch für diese Un-
terstützungsleistungen in dem Krieg gegen den Irak zugunsten der dort agierenden
Streitkräfte von Relevanz sein konnte, was im konkreten Fall als Grundlage für eine
von Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Gewissensentscheidung des Soldaten hinreichend
war (dazu 4.1.4.1.4). Angesichts dessen kann im vorliegenden Verfahren letztlich
offen bleiben, ob die vom Soldaten mit den beiden Befehlen vom 7. April 2003 gefor-
derten Dienstleistungen im Rahmen des IT-Projekts SASPF auch tatsächlich - wie
von ihm befürchtet und von seinem Vorgesetzten, dem Zeugen M., als möglich be-
zeichnet - einen kausalen Beitrag zur Unterstützung und Förderung des seit dem
20. März 2003 geführten Krieges der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak
- 72 -
erbracht hätten. Denn bereits eine solche ernsthafte Möglichkeit reichte als Kontext
der vom Soldaten geltend gemachten schweren Gewissensbelastungen aus.
4.1.4.1.1 Gegen die von den Regierungen der USA und des UK am 20. März 2003
eingeleiteten offensiven militärischen Kampfhandlungen gegen den Irak bestanden
bereits damals gravierende rechtliche Bedenken im Hinblick auf das Gewaltverbot
der UN-Charta und das sonstige geltende Völkerrecht.
Grundsätzlich ist nach Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta „jede“ Androhung und Anwendung
militärischer Gewalt gegen einen anderen Staat völkerrechtswidrig. Dieses strikte
Gewaltverbot ist nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs (vgl. u.a.
„Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua“
S. 14, 97 ff., Ziff. 183 ff.>) zugleich Bestandteil des völkerrechtlichen Gewohnheits-
rechts und wird zum „ius cogens“ gerechnet (vgl. dazu u.a. Heintschel von Heinegg
in Knut Ipsen , Völkerrecht, a.a.O., § 15 RNr. 53 ff. [59]; Kadelbach, Zwin-
gendes Völkerrecht, 1992, S. 228 f. m.w.N.). Es verpflichtet alle Staaten unmittelbar,
und zwar unabhängig davon, ob sie Mitglied der Vereinten Nationen sind oder nicht.
Damit gehört das Gewaltverbot auch nach Art. 25 GG zu den „allgemeinen Regeln
des Völkerrechts“, die nach dieser Verfassungsnorm „Bestandteil des Bundesrechts“
sind, den innerstaatlichen Gesetzen „vorgehen“ sowie „Rechte und Pflichten unmit-
telbar für die Bewohner des Bundesgebietes erzeugen“.
Militärische Gewalt darf gegen den Willen des davon betroffenen Staates unter der
Geltung der UN-Charta - ausnahmsweise - angewandt werden, nämlich nur wenn ein
völkerrechtlicher Rechtfertigungsgrund dies im Einzelfall erlaubt.
Die UN-Charta sieht lediglich zwei solcher Rechtfertigungsgründe vor. Zum einen
kann der UN-Sicherheitsrat nach gemäß Art. 39 UN-Charta erfolgter förmlicher Fest-
stellung einer „Aggression“, eines „Friedensbruches“ oder zumindest einer „Frie-
densgefährdung“ die Anwendung militärischer Maßnahmen beschließen und entwe-
der diese in eigener Verantwortung durchführen (Art. 42, 43 UN-Charta) oder aber
hierzu andere Staaten (Art. 48 UN-Charta) oder ein „regionales System“ (Art. 53 UN-
Charta) ermächtigen. Die Anwendung militärischer Gewalt ist ferner auch dann er-
laubt, wenn ein Staat allein oder im Zusammenwirken mit seinen Verbündeten das
- 73 -
Selbstverteidigungsrecht nach Maßgabe des Art. 51 UN-Charta wahrzunehmen be-
rechtigt ist.
Ein Staat, der sich - aus welchen Gründen auch immer - ohne einen solchen Recht-
fertigungsgrund über das völkerrechtliche Gewaltverbot der UN-Charta hinwegsetzt
und zur militärischen Gewalt greift, handelt völkerrechtswidrig. Er begeht eine militä-
rische Aggression.
a) Für einen Krieg gegen den Irak konnten sich die Regierungen der USA und des
UK entgegen der von ihnen bei Beginn der Kampfhandlungen in förmlichen diploma-
tischen Noten an den UN-Sicherheitsrat zum Ausdruck gebrachten Rechtsauffas-
sung(en) auf keine sie ermächtigende Resolution(en) des UN-Sicherheitsrates nach
Art. 39 und 42 UN-Charta stützen. In diesen Noten haben sich die Regierung der
USA am 21. März 2003 (UN Doc.S/2003/351) ausschließlich und die Regierung des
UK (UN Doc.S/2003/350) maßgeblich zwar auf die vom UN-Sicherheitsrat nach der
im Jahre 1990 durch irakische Streitkräfte erfolgten militärischen Besetzung Kuwaits
verabschiedeten Resolutionen 678 (1990) und 687 (1991) berufen (vgl. Bothe, Archiv
des Völkerrechts 2003, 255 [259 f.]). Diese stellten jedoch im Frühjahr 2003
keine völkerrechtlich wirksame Ermächtigungsgrundlage für militärische Kampfhand-
lungen gegen den Irak dar.
Die UN-Resolution 678 vom 29. November 1990, mit der die Verbündeten Kuwaits
seinerzeit vom UN-Sicherheitsrat autorisiert worden waren, „alle erforderlichen Mittel“
(einschließlich militärischer) einzusetzen, um Kuwait von den damals einmarschier-
ten irakischen Truppen zu befreien, kam für die militärischen Kampfhandlungen der
USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak im Frühjahr 2003 - und damit mehr als
ein Jahrzehnt später - als Ermächtigungsgrundlage nicht mehr in Betracht (vgl. dazu
u.a. Bothe, AVR 2003, 255 [263 f.] m.w.N.). Denn das Ziel jener Ermächtigung aus
dem Jahre 1990, nämlich die Vertreibung der irakischen Aggressoren aus Kuwait,
war bereits im Jahre 1990/91 erreicht worden. Sie war damit gegenstandslos gewor-
den und schied folglich als eine Ermächtigung für den Einsatz militärischer Gewalt im
Jahre 2003 aus. Zudem waren 1990/91 weder die USA noch ihre Verbündeten auto-
risiert worden, das Regime von Saddam Hussein im Irak mit militärischen Mitteln zu
stürzen, zu entwaffnen und einen politischen Systemwechsel herbeizuführen, was
- 74 -
aber die erklärten oder jedenfalls nachträglich eingeräumten Ziele des im Frühjahr
2003 begonnenen Krieges waren.
Die des Weiteren von den Regierungen der USA und des UK in ihren zu Beginn der
militärischen Kampfhandlungen gegen den Irak an den UN-Sicherheitsrat versandten
Noten (UN Doc.S/2003/351 und UN Doc.S/2003/350) herangezogene Resolution
687 (1991) vom 3. April 1991 über den Abschluss eines Waffenstillstandes mit dem
Irak kam im Frühjahr 2003 als Ermächtigungsgrundlage für den Krieg ebenfalls nicht
mehr in Betracht. Die umfangreiche Resolution enthielt seinerzeit zahlreiche Bedin-
gungen einer förmlichen Feuereinstellung („cease-fire“) zwischen Irak und Kuwait
und den mit Kuwait kooperierenden UN-Mitgliedsstaaten. Zunächst wurde im Text
auf die früheren vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Resolutionen Bezug ge-
nommen und festgestellt, dass Kuwait seine Souveränität, Unabhängigkeit und terri-
toriale Integrität zurückerhalten hat und dass seine Regierung zurückgekehrt ist. An-
dererseits wurden damals dem Irak für den Fall eines weiteren Einsatzes gasförmi-
ger oder bakteriologischer Waffen "ernste Konsequenzen" angedroht. In Abschnitt C
der Resolution wurden die Verpflichtungen des Irak bezüglich seiner Kampfstoffbe-
stände, Subsysteme und Komponenten sowie aller Forschungs-, Entwicklungs-, Un-
terstützungs- und Produktionseinrichtungen festgehalten. In Nr. 32 der Resolution
verlangte der UN-Sicherheitsrat, „dass Irak dem Sicherheitsrat mitteilt, dass es Hand-
lungen des internationalen Terrorismus weder begehen noch unterstützen wird und
dass es Organisationen, deren Ziel die Begehung derartiger Handlungen ist, nicht
gestatten wird, auf seinem Hoheitsgebiet zu operieren, und dass es alle terroristi-
schen Handlungen, Methoden und Praktiken unmissverständlich verurteilt und davon
Abstand nimmt“. In Nr. 33 der Resolution erklärte der UN-Sicherheitsrat damals,
„dass, sobald Irak dem Generalsekretär und dem Sicherheitsrat offiziell die Annahme
der vorstehenden Bestimmungen notifiziert, eine formelle Feuereinstellung zwischen
dem Irak und Kuwait und den mit Kuwait gemäß Resolution 678 (1990) kooperieren-
den Mitgliedsstaaten in Kraft tritt“. In Übereinstimmung damit stellte der UN-
Sicherheitsrat in der von ihm am 15. August 1991 beschlossenen weiteren Resoluti-
on 707 (1991) fest, dass in Anbetracht der daraufhin erfolgten schriftlichen Zustim-
mung des Irak dazu, die Resolution 687 (1991) vollinhaltlich durchzuführen, die in
Nr. 33 der genannten Resolution gestellten Vorbedingungen für eine Waffenruhe
(„cease-fire“) erfüllt worden waren. Obwohl der UN-Sicherheitsrat in der Resolution
- 75 -
707 (1991) zahlreiche Verstöße des Irak gegen die Resolution 687 (1991) feststellte,
sah er davon ab, die Waffenruhe aufzuheben. Auch eine spätere Aufhebung dieser
rechtswirksam zustande gekommenen Waffenruhe ist nicht erfolgt. Der Anspruch
einzelner Staaten, ungeachtet dessen eigenständig über eine Aufkündigung dieser
Waffenruhe zu entscheiden, stand mithin schon deshalb dazu in Widerspruch. Er
widersprach ferner der in der Resolution 687 (1991) vom UN-Sicherheitsrat getroffe-
nen Feststellung, im UN-Sicherheitsrat selbst über weitere Schritte zu entscheiden.
Für die - ungeachtet der 1991 rechtswirksam zustande gekommenen Waffenruhe -
am 20. März 2003 erfolgte Aufnahme militärischer Kampfhandlungen gegen den Irak
durch die USA und ihre Verbündeten ohne vorhergehende Ermächtigung durch den
UN-Sicherheitsrat stellten die angeführten UN-Resolutionen keinen Rechtfertigungs-
grund dar (im Ergebnis ebenso u.a. Ausarbeitung für die Wissenschaftlichen Dienste
des Deutschen Bundestages vom 2. Januar 2003, in Ambos/Arnold , a.a.O.
S. 224 [227 f.]; Bothe, AVR 2003, 255 [263 f.]).
Dies gilt auch für die - nach der 1991 erfolgten Beendigung des Krieges des Irak ge-
gen Kuwait - in der Folgezeit vom UN-Sicherheitsrat damals verabschiedeten Reso-
lutionen 688 (1991) vom 5. April 1991, 707 (1991) vom 15. August 1991, 715 (1991)
vom 11. Oktober 1991, 986 (1995) vom 14. April 1995 und 1284 (1999) vom 17. De-
zember 1999. Soweit der UN-Sicherheitsrat diese Resolutionen über die Einsetzung
und Entsendung eines UN-Inspektionsteams (UNSCOM und seit 1999 UNMOVIC)
zum Aufspüren und Vernichten möglicher im Irak vorhandener atomarer, biologischer
und chemischer Waffensysteme verabschiedete, ermächtigten diese gerade nicht zur
Anwendung militärischer Gewalt gegen den Irak. Sie sahen weder vor, dass die Ko-
operation mit dem UN-Inspektionsteam durch militärische Mittel erzwungen, noch
dass gar das Regime von Saddam Hussein durch Krieg gestürzt werden sollte. Dies
ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut der genannten Resolutionen und bedarf
keiner weiteren Begründung.
Auch alle weiteren in der Folgezeit vom UN-Sicherheitsrat zum Irak-Konflikt gefass-
ten Resolutionen enthielten keine Autorisierung eines kriegerischen Vorgehens der
Regierung der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak (so auch Ausarbeitung für
die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 2. Januar 2003,
a.a.O. [S. 228 ff.]; Bothe, AVR 2003, 255 [264 ff.]; Murswiek, NJW 2003, 1014
- 76 -
[1015 f.]; Bruha in Lutz/Gießmann , Die Stärke des Rechts gegen das Recht
des Stärkeren, 2003, S. 289 ff. sowie auf der Internetseite der Deutschen Gesell-
schaft für die Vereinten Nationen e.V., www.dgvn.de/publikationen). Dies gilt insbe-
sondere für die nach wochenlangen Verhandlungen am 8. November 2002 vom UN-
Sicherheitsrat einstimmig verabschiedete Resolution 1441 (2002) (Originaltext in
englischer Sprache in: www.un.org./doc; deutsche Übersetzung in: VN 2002, 232 f.).
Diese legte zwar ein relativ präzises inhaltliches und zeitliches Regime für die an die
irakische Regierung gerichteten Forderungen sowie die Grundsätze für die Arbeit der
Inspektionsteams der UNMOVIC und der Internationalen Atomenergiebehörde
(IAEA) fest, das spätestens 45 Tage nach Verabschiedung der UN-Resolution, mithin
spätestens am 23. Dezember 2002 mit seiner Tätigkeit im Irak beginnen und diese
weitere 60 Tage später, also spätestens bis zum 21. Februar 2003 mit einem Bericht
an den UN-Sicherheitsrat abschließen sollte. Für den Fall, dass die irakischen Stel-
len mit den Inspektionsteams nicht in vollem Maße zur Implementation der Resoluti-
on kooperieren oder diese in irgendeiner Weise behindern sollten, wurden der Vor-
sitzende der UNMOVIC, Hans Blix, und der Generaldirektor der IAEA, Mohamed El-
Baradei, angewiesen, hierüber dem UN-Sicherheitsrat unverzüglich zu berichten,
damit dieser über die entstandene Situation beraten konnte, um „international peace
and security“ zu sichern. Welche Entscheidungen der UN-Sicherheitsrat in einer sol-
chen Situation dann fassen würde, wurde offen gelassen. Der UN-Sicherheitsrat rief
in Nr. 13 dieser Resolution jedoch in Erinnerung, dass er in der Vergangenheit den
Irak wiederholt gewarnt habe, und drohte, dass der Irak mit „ernsthaften Konsequen-
zen“ („serious consequences as a result of its continued violations of its obligations“)
rechnen müsse. Worin diese „serious consequences“ bestehen würden, konkretisier-
te er nicht. Nach wochenlangen Beratungen brachte der UN-Sicherheitsrat in dieser
Resolution 1441 (2002) in Nr. 14 selbst jedoch unmissverständlich zum Ausdruck,
dass er (auch nach ihrer Verabschiedung) mit der Angelegenheit befasst bleiben
werde. Er stellte damit der Sache nach klar, dass er nicht bereit war, die Angelegen-
heit aus der Hand zu geben, sondern - wie in der UN-Charta vorgesehen - (auch)
künftig selbst darüber entscheiden wollte, welche Konsequenzen aus einem Fehlver-
halten des Irak im Zusammenhang mit der Durchsetzung der einschlägigen UN-
Resolution(en) gezogen werden sollten. Mit dieser Resolution 1441 (2002) und ins-
besondere mit der in Nr. 13 gewählten Formulierung („serious consequences“)
sprach er mithin letztlich „lediglich“ eine nicht näher bestimmte Warnung aus, nahm
- 77 -
jedoch bewusst davon Abstand, die von den Regierungen der USA und des UK an-
gestrebte Gewaltanwendung zu billigen oder sonstwie zu legitimieren. Nur wenn der
UN-Sicherheitsrat ausweislich des Resolutionstextes - innerhalb der von der UN-
Charta gezogenen Grenzen - eine Gewaltanwendung positiv gebilligt hätte, wären
militärische Gewaltmaßnahmen gegen den Irak nach der UN-Charta zulässig gewe-
sen. Ein diesbezügliches „Schweigen“ oder Offenlassen der Art der angedrohten
„ernsthaften Konsequenzen“ reichte als Ermächtigungsgrundlage nicht aus. Denn
grundsätzlich sind nach Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta „jede“ Androhung und Anwendung
militärischer Gewalt gegen einen anderen Staat völkerrechtswidrig, so lange nicht
der UN-Sicherheitsrat nach Maßgabe der UN-Charta Gegenteiliges hinsichtlich der
Anwendung (und der Androhung) von Gewalt beschlossen hat oder der Ausnahme-
fall des Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 UN-Charta vorliegt. Dem kann nicht
entgegengehalten werden, die Vertreter der USA und des UK hätten im UN-Sicher-
heitsrat dann nicht für die schließlich verabschiedete Fassung der Resolution 1441
(2002) gestimmt, wenn sie in den darin gefundenen Formelkompromissen nicht zu-
mindest soviel Interpretationsspielraum gesehen hätten, dass auch ihre Einschät-
zung einer erfolgten Ermächtigung zum Krieg gegen den Irak zumindest vertretbar
wäre. Für die Ermittlung dessen, was der UN-Sicherheitsrat in einer solchen Resolu-
tion beschlossen hat, ist aber nicht entscheidend, was sich Regierungsbeauftragte
bei der Beratung und Beschlussfassung im UN-Sicherheitsrat „gedacht“ haben.
Vielmehr kommt es darauf an, was im Text der verabschiedeten Resolution seinen
Niederschlag gefunden hat. Fehlt es daran, mangelt es insoweit an einer entspre-
chenden Beschlussfassung. Mentalreservationen von Regierungsbeauftragten oder
ihrer Auftraggeber sind völkerrechtlich insoweit nicht maßgeblich. Wie der Text der
Resolution 1441 (2002) ausweist, ist eine Ausnahme vom grundsätzlichen Gewalt-
anwendungsverbot vom UN-Sicherheitsrat gerade nicht beschlossen worden. Von
einer Ermächtigung oder Autorisierung irgendeiner Regierung oder eines Staates zur
Gewaltanwendung nach Kapitel VII der UN-Charta ist an keiner Stelle die Rede. Der
Begriff „Autorisierung“ („authorization“) taucht im Resolutionstext in diesem Zusam-
menhang nicht einmal auf. Der Versuch der Regierungen der USA, des UK und des
Königreichs Spanien, durch eine weitere Resolution später dann unmittelbar vor
Kriegsbeginn doch noch eine Ermächtigung für die Anwendung militärischer Mittel zu
erreichen, fand im UN-Sicherheitsrat keine Mehrheit. Um eine Abstimmungsniederla-
ge zu vermeiden, wurde der entsprechende Resolutionsentwurf zurückgezogen.
- 78 -
b) Für die im Frühjahr 2003 begonnenen militärischen Kampfhandlungen gegen den
Irak konnten sich die Regierungen der USA und ihrer Verbündeten auch nicht auf
Art. 51 UN-Charta berufen.
Art. 51 UN-Charta gewährt nach seinem Wortlaut lediglich „im Falle eines bewaffne-
ten Angriffs“ (in der englischen Fassung: „if an armed attack occurs“, die insoweit von
den nach Art. 111 UN-Charta gleichermaßen maßgeblichen anderen vier Vertrags-
sprachen keine Abweichungen aufweist) das naturgegebene Recht („inherent right“)
zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der UN-Sicherheitsrat die
zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen
Maßnahmen getroffen hat. Auch wenn hinsichtlich der Reichweite und der Grenzen
dieses Selbstverteidigungsrechts eine Vielzahl von Zweifelsfragen besteht, greift es
jedenfalls allein „im Falle“ eines „bewaffneten Angriffs“ ein. Die Anwendung von Waf-
fengewalt muss durch den Angreifer bereits erfolgt sein oder erfolgen, ehe militäri-
sche Verteidigungsschläge zulässig sind.
Allerdings besteht bislang keine hinreichende Klarheit darüber, von welchem Zeit-
punkt an ein „bewaffneter Angriff“ („armed attack“) im Sinne des Art. 51 UN-Charta
vorliegt (vgl. dazu die Einzelnachweise zum Meinungsstand im in- und ausländischen
Fachschrifttum bei Nolte in Ambos/Arnold , a.a.O., S. 303 [306 f.]; Bothe in:
Graf Vitzthum , Völkerrecht, 2. Aufl. 2001, 8. Abschn., RNr. 9; Breitwieser,
NZWehrr 2005, 45 [56 ff.]).
Von den Regierungen einzelner Staaten ist wiederholt unter Berufung auf Art. 51 UN-
Charta oder Völkergewohnheitsrecht auch eine so genannte „präventive Selbstver-
teidigung“ in Anspruch genommen worden. Dabei wurde argumentiert, angesichts
des erreichten Entwicklungsstandes und der Zerstörungskraft moderner Waffen so-
wie der kurzen Vorwarnzeiten sei es nicht angezeigt zu erwarten, dass Staaten zu-
nächst ihre drohende Verwüstung bereits durch den ersten Waffeneinsatz des Geg-
ners „abwarten“ müssten, bevor sie selbst militärisch tätig würden. Dies ist jedoch
umstritten geblieben (vgl. dazu einerseits Randelzhofer in Simma , Charta
der Vereinten Nationen, 1. Aufl. 1991, Art. 51 RNr. 9 bis 14 sowie 34; ders. in Simma
, The Charter of the United Nations, 2. Aufl. 2002, Art. 51 RNr. 39 m.w.N.;
Horst Fischer in Knut Ipsen, Völkerrecht, a.a.O., § 59 RNr. 30, sowie andererseits die
- 79 -
Nachweise u.a. bei Murswiek, a.a.O., [1016, Fußnote 12] und Nolte, a.a.O. [S. 307]).
Ungeachtet dessen haben einzelne Regierungen freilich in der Folgezeit immer wie-
der ein solches Recht für sich und andere beansprucht. Eine gewohnheitsrechtlich
relevante allgemeine Anerkennung hat dies jedoch nicht gefunden. Solche Militärein-
sätze sind bis heute regelmäßig auf Widerspruch gestoßen (vgl. dazu die Einzel-
nachweise bei Bothe in Graf Vitzthum , a.a.O., Fußnote 22; Ausarbeitung für
die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 2. Januar 2003,
a.a.O. [S. 227 f.]).
Auch von denjenigen, die eine erweiternde Interpretation des Art. 51 UN-Charta be-
fürworten, wird die Anwendung militärischer Gewalt nach der so genannten Webster-
Formel vom 24. April 1841 (zurückgehend auf den damaligen US-Außenminister Da-
niel Webster) allenfalls in einer Gefahrenlage für zulässig gehalten (vgl. dazu die Ein-
zelnachweise bei Nolte, a.a.O. [S. 307]), die „gegenwärtig und überwältigend“ ist und
„keine Wahl der Mittel und keinen Augenblick zur Überlegung lässt“ („instant, overw-
helmig, leaving no choice of means and no moment for deliberation“, vgl. State Sec-
retary Webster, zitiert nach Horst Fischer in Knut Ipsen, Völkerrecht, a.a.O., § 53
RNr. 30). Die Herausbildung einer übereinstimmenden völkerrechtlichen Staatenpra-
xis und einer gemeinsamen Rechtsüberzeugung („opinio iuris“) über das Bestehen
eines noch darüber hinausgehenden „präventiven Selbstverteidigungsrechts“ und
damit von entsprechendem Völkergewohnheitsrecht lässt sich dagegen nicht feststel-
len. Eine solche Gefahrenlage („instant, overwhelming, leaving no choice of means
and no moment for deliberation“) lag selbst nach dem Vorbringen der Regierungen
der USA und des UK im Frühjahr 2003 nicht vor. In ihren - oben bereits angespro-
chenen - diplomatischen Noten an den UN-Sicherheitsrat vom 21. März 2003 wird
Gegenteiliges nicht substantiiert behauptet. Die ursprünglich öffentlich geltend ge-
machte Behauptung einer Bedrohung durch ABC-Waffen des Irak als Rechtfertigung
für den militärischen Gewalteinsatz blieb im Bereich der politischen Erklärungen, war
jedoch insbesondere nicht Bestandteil der rechtlichen Rechtfertigung gegenüber dem
UN-Sicherheitsrat. Sie wurde zudem von maßgeblichen Mitgliedern der US-Re-
gierung relativiert oder gar zurückgenommen (vgl. dazu u.a. Tomuschat, FW 78
<2003>, 141 [149], u.a. unter Hinweis auf ein vom US-Verteidigungsministerium pu-
bliziertes Interview des stellvertretenden US-Verteidigungsministers Paul Wolfowitz
in der Zeitschrift „Vanity Fair“ vom 9. Mai 2003; Wolfowitz erklärte darin, die offizielle
- 80 -
Kriegsbegründung der Regierung sei für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen und
dazu entwickelt worden, um in der Administration „bürokratische“ Widerstände zu
überwinden und weil es „der eine Grund war, dem jeder zustimmen konnte“; wichti-
ger sei es gewesen, dass mit einem Erfolg im Irak-Krieg die Präsenz von
US-Truppen im benachbarten Königreich Saudi-Arabien tendenziell überflüssig
werde [www.defenselink.mil/transcripts/2003/tr20030509-depsecdef0223.html]). Of-
fenkundig waren - wie auch der Inhalt ihrer diplomatischen Note an den UN-Sicher-
heitsrat vom 21. März 2003 zeigt - die Entscheidungsträger in der US-Regierung
selbst der Ansicht, dass der Irak kein geeigneter Fall war, um eine Berufung auf ein
Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 UN-Charta zu rechtfertigen (so zu Recht u.a.
Bothe, AVR 2003, 253 [261 f.]; vgl. ferner u.a. Horst Fischer, HuV-I 16 <2003>, 4 ff.,
6; Tomuschat, a.a.O. [144 ff.]; Kurth, ZRP 2003, 195 ff., jeweils m.w.N.).
Dementsprechend hat auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan,
die von den USA und ihren Verbündeten im Frühjahr 2003 ausgeführte militärische
Invasion des Irak als „illegalen Akt“ bezeichnet (vgl. u.a. dpa-Meldung vom 16. Sep-
tember 2004).
4.1.4.1.2 Nach den vom Senat getroffenen Feststellungen steht fest, dass die Bun-
desregierung der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit diesem am
20. März 2003 begonnenen Krieg insbesondere die Zusagen machte und erfüllte,
den USA und dem UK für den Luftraum über dem deutschen Hoheitsgebiet „Über-
flugrechte“ zu gewähren, die Nutzung ihrer „Einrichtungen“ in Deutschland zu ermög-
lichen sowie für den „Schutz dieser Einrichtungen“ in einem näher festgelegten Um-
fang zu sorgen; außerdem hatte sie im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg dem wei-
teren Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen „zur Überwachung des tür-
kischen Luftraums zugestimmt“. Dies ist in dem von dem Zeugen S. in der Beru-
fungshauptverhandlung dem Senat überreichten „Punktations-Papier“ ausdrücklich
festgehalten, das der Zeuge in seiner seinerzeitigen Eigenschaft als Leitender
Rechtsberater des S. auf seine Anforderung hin von der zuständigen Stelle des Bun-
desministeriums der Verteidigung im Rahmen seiner Dienstaufgaben erhalten hatte.
Der Senat hat keine Veranlassung, die Richtigkeit der in diesem Papier dargestellten
Tatsachen in Zweifel zu ziehen, zumal weder der Bundeswehrdisziplinaranwalt noch
der Soldat in der Berufungshauptverhandlung dagegen Einwände erhoben haben.
- 81 -
Gegen die völkerrechtliche Zulässigkeit dieser Unterstützungsleistungen bestehen
gravierende rechtliche Bedenken, die der Sache nach für den Soldaten Veranlas-
sung waren, die Ausführung der ihm erteilten beiden Befehle zu verweigern, weil er
sonst eine eigene Verstrickung in den Krieg befürchtete.
Ein Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot kann nicht ohne Weiteres des-
halb verneint werden, weil die Regierung der Bundesrepublik Deutschland öffentlich
wiederholt zum Ausdruck gebracht hatte (vgl. u.a. Erklärung von Bundeskanzler
Schröder am 19 März 2003, 15. WP, 34. Sitzung, Verh. des Deutschen Bundesta-
ges, Bd. 216 S. 2727 C), „dass sich deutsche Soldaten an Kampfhandlungen nicht
beteiligen werden“. Die Unterstützung einer völkerrechtswidrigen Militäraktion kann
nicht nur durch die militärische Teilnahme an Kampfhandlungen erfolgen, sondern
auch auf andere Weise. Ein völkerrechtliches Delikt kann durch ein Tun oder - wenn
eine völkerrechtliche Pflicht zu einem Tun besteht - durch Unterlassen begangen
werden. (vgl. dazu u.a. von Münch, Das völkerrechtliche Delikt, 1963, S. 134
m.w.N.). Eine Beihilfe zu einem völkerrechtlichen Delikt ist selbst ein völkerrechtli-
ches Delikt (speziell zum Irak-Krieg vgl. insoweit u.a. Puttler, HuV-I 16 (2003), 7 f.;
Bothe, AVR 2003, 255 [266] m.w.N.).
Anhaltspunkte und Maßstäbe für die Beantwortung der Frage, wann eine Hilfeleis-
tung durch eine Nicht-Konfliktpartei zugunsten eines kriegführenden Staates völker-
rechtswidrig ist, ergeben sich für den Bereich der Unterstützung eines völkerrechts-
widrigen militärischen Angriffs durch einen Drittstaat u.a. aus der von der General-
versammlung der Vereinten Nationen am 14. Dezember 1974 ohne formelle Ab-
stimmung im Wege des allgemeinen Konsenses als Bestandteil der Resolution 3314
(XXIX) beschlossenen „Aggressionsdefinition“ (abgedr. u.a. in der Sammlung „Wehr-
recht“ unter Nr. 15), aus den Arbeiten der
„Völkerrechtskommission“ der Vereinten Nationen („International Law Commission“
- ILC -) sowie aus dem völkerrechtlichen Neutralitätsrecht. Letzteres hat seine
Grundlage im Völkergewohnheitsrecht und im V. Haager Abkommen (V. HA) betref-
fend die Rechte und Pflichten neutraler Staaten im Falle eines Landkriegs vom
18. Oktober 1907 (RGBl. 1910 S. 151) in Deutschland in Kraft seit dem 25. Oktober
- 82 -
1910 (vgl. Bundesministerium der Justiz , Fundstellennachweis B, Stand:
31. Dezember 2004, S. 238).
In Art. 3 Buchst. f) der o.g. „Aggressionsdefinition“ heißt es, dass als „Angriffshand-
lung“ im Sinne des Art. 39 UN-Charta unter anderem folgende Handlung anzusehen
ist:
„Die Handlung eines Staates, die in seiner Duldung besteht, dass sein Ho-
heitsgebiet, das er einem anderen Staat zur Verfügung gestellt hat, von
diesem anderen Staat dazu benutzt wird, eine Angriffshandlung gegen ei-
nen dritten Staat zu begehen.“
Selbst wenn bis heute zweifelhaft ist, ob die in Art. 3 aufgeführten Schädigungshand-
lungen nicht nur einen „act of aggression“ im Sinne von Art. 39 UN-Charta, sondern
auch einen Fall des „armed attack“ im Sinne von Art. 51 UN-Charta darstellen,
kommt in Art. 3 jedenfalls eine gewichtige in der Staatengemeinschaft vorhandene
Überzeugung zum Ausdruck: Dulden die Organe eines Territorialstaates die Vor-
nahme von Angriffshandlungen eines „Fremdstaates“ oder unterlassen sie es, von
diesem Territorium aus unternommene militärische Angriffshandlungen zu verhin-
dern, so sind die Angriffshandlungen damit im Falle des Art. 3 Buchst. f) der „Ag-
gressionsdefinition“ auch dem betreffenden Territorialstaat zuzurechnen (vgl. dazu
u.a. Kersting, NZWehrr 1981, 130 [139]). Allerdings darf nicht übersehen werden,
dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen und die in ihr vertretenen
Staaten aller großen Rechtskreise mit dieser im Konsens beschlossenen Resolution
seinerzeit nicht den Anspruch erhoben, damit Völkerrecht „in verbindlicher Weise
festzuschreiben“. Die „Aggressionsdefinition“ stellt jedoch zumindest ein nicht unwe-
sentliches Element eines universalen völkerrechtlichen Konsens- und damit Rechts-
bildungsprozesses dar (vgl. dazu Bruha, Die Definition der Aggression, 1980,
S. 274 f., Fischer in Knut Ipsen Völkerrecht, a.a.O. § 59 RNr. 10).
Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ferner auch Art. 16 des von der ILC,
die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit einem entsprechenden
Kodifikationsauftrag betraut wurde (vgl. dazu u.a. von Münch, a.a.O., S. 52 ff.; Knut
Ipsen in: ders. , Völkerrecht, a.a.O., § 39 RNr. 1 ff.>), erstellten Entwurfs zur
Staatenhaftung vom 26. Juli 2001 (abgedr. in Tomuschat , Völkerrecht, 2001,
- 83 -
S. 97 ff.), der die diesbezügliche in den verschiedenen völkerrechtlichen Rechtskrei-
sen vorhandene Grundauffassung wiedergibt und wie folgt lautet:
„A State which aids or assists another State in the commission of an inter-
nationally wrongful act by the latter is internationally responsible for doing
so if:
(a) that State does so with knowledge of the circumstances of the interna-
tionally wrongful act; and
(b) the act would be internationally wrongful if committed by that State.“
Von Bedeutung für die Bestimmung der völkerrechtlichen Grenzen von Unterstüt-
zungsleistungen, die ein an einem militärischen Konflikt nicht unmittelbar beteiligter
Staat gegenüber einer Konfliktpartei erbringt, ist zudem vor allem das V. HA, dessen
Regelungen auch in die vom Bundesministerium der Verteidigung erlassene Zentrale
Dienstvorschrift (ZDv) 15/2 vom August 1992 aufgenommen worden sind.
Nach allgemeinem Völkerrecht ist ein Staat zwar grundsätzlich frei zu entscheiden,
ob er sich an einem militärischen Konflikt beteiligt. Er darf dies freilich ohnehin nur
auf der Seite des Opfers eines bewaffneten Angriffs, nicht auf der des Angreifers
(vgl. Nr. 1104 ZDv 15/2; Bothe in Fleck , Handbuch des humanitären Völker-
rechts in bewaffneten Konflikten, 1994, S. 389). Ein Staat, der an einem bewaffneten
Konflikt zwischen anderen Staaten nicht beteiligt ist, hat den Status eines „neutralen
Staates“ (vgl. Nr. 1101 ZDv 15/2; Bothe, ebd., S. 386 m.w.N.). Abgesehen von den
Regeln, die im Falle einer rechtlich begründeten „dauernden Neutralität“ (z.B.
Schweiz und Österreich) bereits in Friedenszeiten Anwendung finden, beginnt die
Pflicht eines nicht an einem bewaffneten Konflikt zwischen anderen Staaten beteilig-
ten Staates („neutraler Staat“) zur Neutralität im Sinne des V. HA mit dem Ausbruch
des bewaffneten Konflikts (vgl. Nr. 1106 ZDv 15/2). Folge des neutralen Status sind
gegenseitige Rechte und Pflichten zwischen dem neutralen Staat auf der einen und
den Konfliktparteien auf der anderen Seite. Nach Art. 1 V. HA ist das Gebiet eines
„neutralen“, also nicht am bewaffneten Konflikt beteiligten Staates, „unverletzlich“;
jede Kriegshandlung ist darauf untersagt (vgl. dazu auch Nr. 1108 ZDv 15/2), insbe-
sondere „Truppen oder Munitions- oder Verpflegungskolonnen durch das Gebiet
einer neutralen Macht hindurchzuführen“ (Art. 2 V. HA). Ein „neutraler Staat“ - damit
also im Hinblick auf den allein von den USA und ihren Verbündeten seit dem
20. März 2003 geführten Krieg gegen den Irak auch die Bundesrepublik Deutsch-
- 84 -
land - darf auf seinem Territorium „keine der Konfliktparteien unterstützen“ (vgl.
Nr. 1110 ZDv 15/2), insbesondere „keine der in den Artikeln 2 bis 4 bezeichneten
Handlungen dulden“ (Art. 5 V. HA). Dies gilt sowohl für die Hindurchführung von
Truppen, Munitions- oder Verpflegungskolonnen (Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 V. HA;
Nr. 1115 ZDv 15/2: Truppen- oder Versorgungstransporte dürfen auf neutralem
Staatsgebiet „nicht stattfinden“; Heintschel von Heinegg in Horst Fischer/Ulrike
Froissart/Wolff Heintschel von Heinegg/Christian Raap , Krisensicherung und
Humanitärer Schutz - Crisis Management and Humanitarian Protection, Festschrift
für Dieter Fleck, 2004, S. 221 [226]) als auch für die Einrichtung oder Nutzung einer
„funkentelegraphischen <‚radiotélégraphique’> Station oder sonst irgend eine(r) An-
lage, die bestimmt ist, einen Verkehr mit den kriegführenden Land- oder Seestreit-
kräften zu vermitteln“ (Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Buchst. a) und b) V. HA). Den Kon-
fliktparteien ist es weiterhin „untersagt, mit Militärluftfahrzeugen, Raketen oder ande-
ren Flugkörpern in neutralen Luftraum einzudringen“ (Nr. 1150 ZDV 15/2 unter Be-
zugnahme auf Art. 40 der Haager Regeln des Luftkrieges vom 19. Februar 1923
(HLKR - Teil 14 der ZDv 15/3); Bothe, AVR 2003, 255 [267]). Im Verhältnis zu einer
Konfliktpartei, die den Verboten der Art. 1 bis 4 V. HA zuwiderhandelt, im Sinne des
V. HA Territorium eines neutralen Staates mithin als Basis für militärische Operatio-
nen im weitesten Sinne nutzt, ist der „neutrale Staat“ zum aktiven Tätigwerden und
damit zum Einschreiten verpflichtet, um die Neutralitätsverletzung zu beenden (vgl.
dazu u.a. Nr. 1109 ZDv 15/2 unter Bezugnahme auf Art. 5 V. HA sowie Art. 2, 9
und 24 XIII. HA; Bothe, ebd.; Heintschel von Heinegg in Festschrift für Dieter Fleck,
a.a.O., S. 224). Der „neutrale Staat“ ist völkerrechtlich gehalten, „jede Verletzung
seiner Neutralität, wenn nötig mit Gewalt, zurückzuweisen“, wobei diese Verpflich-
tung allerdings durch das völkerrechtliche Gewaltverbot eingeschränkt ist. Streitkräfte
einer Konfliktpartei, die sich auf dem Gebiet des „neutralen Staates“ befinden, sind
daran zu hindern, an den Kampfhandlungen teilzunehmen; Truppen von Konfliktpar-
teien, die auf das neutrale Staatsgebiet „übertreten“, also nach Beginn des bewaffne-
ten Konflikts in das neutrale Staatsgebiet gelangen, sind „zu internieren“ (Art. 11
Abs. 1 V. HA; Nr. 1117 Satz 1 ZDv 15/2; Bothe, ebd.; Heintschel von Heinegg, ebd.,
S. 225). Nur Offiziere, die sich auf Ehrenwort verpflichten, das neutrale Gebiet nicht
ohne Erlaubnis zu verlassen, dürfen freigelassen werden (Art. 11 Abs. 3 V. HA;
Heintschel von Heinegg, ebd., S. 225). Die Pflicht zur Internierung ergibt sich aus
dem Sinn und Zweck des Neutralitätsrechts, da nur so verhindert werden kann, dass
- 85 -
von neutralem Territorium aus Kampfhandlungen unterstützt werden und dass es
dadurch zu einer Eskalation der bewaffneten Auseinandersetzungen unter Einbezie-
hung des neutralen Staates kommt (vgl. Heintschel von Heinegg, ebd., S. 225).
4.1.4.1.3 Von diesen völkerrechtlichen Verpflichtungen wurde die Bundesrepublik
Deutschland im Falle des am 20. März 2003 begonnenen Krieges, gegen den gravie-
rende völkerrechtliche Bedenken bestehen, nicht dadurch freigestellt, dass sie Mit-
glied der NATO war und ist, der auch die Krieg führenden USA und das UK (sowie
weitere Mitglieder der Kriegskoalition) angehören.
In dem „Punktations-Papier“ des Bundesministeriums der Verteidigung, das dem Se-
nat in der Berufungshauptverhandlung vorgelegt worden ist und nach den glaubhaf-
ten Bekundungen des Zeugen S. mit der Leitung des Ministeriums abgestimmt war,
wird zwar angeführt, die Bundesregierung habe mit ihren Zusagen ihren „politischen
Verpflichtungen Rechnung getragen, die sich aus dem NATO-Vertrag sowie den ent-
sprechenden Abkommen ergeben“ (ähnlich Bundeskanzler Schröder in der bereits
zitierten Rede am 19. März 2003, a.a.O., S. 2728). Weder der NATO-Vertrag vom
4. April 1949 (BGBl. 1955 II S. 289) - dazu nachfolgend a) - noch das NATO-
Truppenstatut vom 19. Juni 1951 (BGBl. 1961 II S. 1190) oder das Zusatzabkommen
zum NATO-Truppenstatut vom 3. August 1959 (BGBl. 1961 II S. 1183, 1218) in der
hier maßgeblichen Fassung des Abkommens vom 18. März 1993 (BGBl. 1994 II
S.2594, 2598) - dazu nachfolgend b) - sehen jedoch eine Verpflichtung der Bundes-
republik Deutschland vor, entgegen der UN-Charta und dem geltenden Völkerrecht
- völkerrechtswidrige - Handlungen von NATO-Partnern zu unterstützen. Gleiches gilt
hinsichtlich der Regelungen im „Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräf-
te in der Bundesrepublik Deutschland“ vom 23. Oktober 1954 (BGBl. 1955 II
S. 253) - dazu nachfolgend c). Darüber hinausgehenden „politischen“ Erwartungen
oder Absichten darf durch die im demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes
strikt an „Recht und Gesetz“ nach Art. 20 Abs. 3 GG gebundene Bundesregierung
nur insoweit Rechnung getragen werden, wie dies mit geltendem Völker- und Verfas-
sungsrecht vereinbar ist.
- 86 -
a) Ein NATO-Staat, der einen völkerrechtswidrigen Krieg plant und ausführt, verstößt
nicht nur gegen die UN-Charta, sondern zugleich auch gegen Art. 1 NATO-Vertrag.
Darin haben sich alle NATO-Staaten verpflichtet,
„in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen jeden inter-
nationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu
regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit
nicht gefährdet werden und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder
Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen
der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind.“
Art. 1 NATO-Vertrag war bei seinem Abschluss Ausdruck des Willens aller Vertrags-
staaten, zwar einerseits die Möglichkeiten der UN-Charta zur Schaffung einer wir-
kungsvollen Verteidigungsorganisation auf der Grundlage von Art. 51 UN-Charta
auszuschöpfen, andererseits jedoch strikt die Grenzen einzuhalten, die durch die
UN-Charta gezogen sind. Das heißt zugleich, dass ein durch Art. 51 UN-Charta nicht
gerechtfertigter Krieg auch keinen „NATO-Bündnisfall“ nach Art. 5 NATO-Vertrag
darstellen oder rechtfertigen kann: Was gegen die UN-Charta verstößt, kann und darf
die NATO nicht beschließen und durchführen, auch nicht auf Wunsch oder auf Druck
der Regierungen besonders wichtiger Mitgliedsstaaten. Art. 7 NATO-Vertrag hebt die
Bindung aller NATO-Staaten an die UN-Charta nochmals besonders hervor. In der
Vorschrift heißt es unmissverständlich, dass der NATO-Vertrag „weder die Rechte
und Pflichten, welche sich für die (NATO-Vertrags-)Parteien, die Mitglieder der Ver-
einten Nationen sind, aus deren Satzung (= UN-Charta) ergeben“, berührt; er darf
auch nicht „in solcher Weise ausgelegt werden“. Ein gegen die UN-Charta versto-
ßender Angriffskrieg eines NATO-Staates kann mithin selbst durch die Ausrufung
des „NATO-Bündnisfalles“ nicht zum Verteidigungskrieg werden.
Im Falle des am 20. März 2003 von den Regierungen der USA und des UK (zusam-
men mit weiteren Verbündeten) begonnenen Krieges gegen den Irak lag noch aus
einem weiteren Grund kein „Bündnisfall“ der NATO vor. Art. 5 NATO-Vertrag normiert
eine völkerrechtliche Beistandspflicht für jede Vertragspartei „nur“ im Falle eines be-
waffneten Angriffs „gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordameri-
ka“. Der Umfang dieser Beistandspflicht ist dabei ausdrücklich offen gelassen wor-
den. Im zweiten Halbsatz des Artikels ist geregelt, dass jede Vertragspartei
- 87 -
„Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zu-
sammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich
der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet,
um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu
erhalten.“
Für den Eintritt des Bündnisfalles ist die räumliche Belegenheit des Angriffsobjektes
maßgebend: Nach Art. 6 NATO-Vertrag gilt als bewaffneter Angriff im Sinne des
Art. 5 auf eine oder mehrere Parteien jeder Angriff mit Waffengewalt
„1. auf das Gebiet eines dieser Staaten in Europa oder Nordamerika, (in-
zwischen aufgehoben: auf die algerischen Departments Frankreichs,) auf
das Gebiet der Türkei oder auf die der Gebietshoheit einer der Parteien un-
terliegenden Inseln im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises
des Krebses;
2. auf die Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge einer der Parteien, wenn sie
sich in oder über diesen Gebieten oder irgendeinem anderen europäischen
Gebiet, in dem eine der Parteien bei Inkrafttreten dieses Vertrages eine
Besatzung unterhält, oder wenn sie sich im Mittelmeer oder nordatlanti-
schen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses befinden.“
Daraus ergibt sich, dass ein bewaffneter Angriff im Sinne des Art. 5 NATO-Vertrag
nicht vorliegt, wenn etwa Schiffe oder Flugzeuge außerhalb des in Art. 6 näher be-
stimmten Vertragsgebietes angegriffen werden oder wenn gar „lediglich“ in politische,
ökonomische oder militärische Interessen einer oder mehrerer NATO-Vertragspar-
teien eingegriffen wird, ohne dass ein militärischer Angriff in dem durch Art. 6 NATO-
Vertrag definierten „NATO-Gebiet“ erfolgt und abzuwehren ist. Auch ein durch völker-
rechtswidrige Gewaltanwendung durch einen NATO-Mitgliedsstaat provozierter An-
griff unterfällt nicht dem strikt an Art. 51 UN-Charta orientierten Angriffsbegriff im
Sinne der Art. 5 und 6 NATO-Vertrag.
Wer die Entscheidung darüber trifft, ob ein „bewaffneter Angriff“ im Sinne des Art. 6
NATO-Vertrag vorliegt, ist im Wortlaut des Vertrages nicht ausdrücklich geregelt wor-
den. Im Fachschrifttum ist früher teilweise die Auffassung vertreten worden, der
NATO-Bündnisfall trete bei Vorliegen der in Art. 6 NATO-Vertrag normierten Voraus-
setzungen automatisch ein. Dafür könnte der Wortlaut der Bestimmung insofern
sprechen, als es darin heißt, dass als „bewaffneter Angriff“ im Sinne des Art. 5
NATO-Vertrag jeder bewaffnete Angriff auf eines der in den Nrn. 1 und 2 genannten
Zielobjekte „gilt“. Art. 5 Abs. 1 NATO-Vertrag umschreibt jedoch die Beistandspflicht
- 88 -
ausdrücklich dahingehend, dass jede Partei im Bündnisfall „für sich und im Zusam-
menwirken mit den anderen Parteien“ diejenigen Maßnahmen trifft, die „sie“ zur Wie-
derherstellung und Erhaltung der Sicherheit des nordatlantischen Gebiets „für erfor-
derlich erachtet“. Die Vertragsstaaten sind „lediglich“ gehalten, die von ihren (nach
dem innerstaatlichen Verfassungsrecht) dazu berufenen Organen für erforderlich ge-
haltenen Maßnahmen auf Bündnisebene aufeinander abzustimmen. Bestimmte Ge-
genmaßnahmen werden durch Art. 5 NATO-Vertrag nicht vorgeschrieben.
Der US-Senatsausschuss für „Auswärtige Angelegenheiten“ hat diese sich bereits
aus dem Regelungszusammenhang der Art. 5 und 6 NATO-Vertrag ergebende Kon-
sequenz (im Rahmen des Ratifizierungsverfahrens) in seinem Bericht vom 6. Juni
1949 ausdrücklich zum Ausdruck gebracht und erklärt, dass im Konfliktfall „jeder Par-
tei die Verantwortung obliege, selbst die Tatsachenfrage zu entscheiden“, ob ein An-
griff im Sinne des Art. 6 NATO-Vertrag vorliegt. Die anderen Vertragsparteien sind
dieser amerikanischen Position weder in den Verhandlungen noch später entgegen-
getreten, sondern haben sie konkludent akzeptiert (vgl. dazu u.a. Heindel u.a. in A-
merican Journal of International Law (AJIL) 1949, 634 [647]; Knut Ipsen, Rechts-
grundlagen und Institutionalisierung der Atlantisch-Westeuropäischen Verteidigung,
1967, S. 47 ff.; ders., JöR 21 <1972>, 23 ff.; ders., AöR 94 <1969>, 554). Das Bun-
desverfassungsgericht hat dementsprechend entschieden, „dass der NATO-Vertrag
es jedem Vertragsstaat überlässt zu beurteilen, ob ein Bündnisfall im Sinne des
Art. 5 Abs. 1 vorliegt“ (Urteil vom 18. Dezember 1984 - 2 BvE 13/83 -
[93]>). Für diese Auslegung spricht neben der vom zuständigen US-Senats-
ausschuss wiedergegebenen erfolgreichen amerikanischen Verhandlungsposition
auch die völkerrechtliche Auslegungsmaxime des „in dubio mitius“: Wenn weder der
Vertragstext noch andere Anhaltspunkte für den wirklichen Parteiwillen hinreichen-
den Aufschluss über das Vereinbarte geben, sind völkervertragsrechtliche Bestim-
mungen, die Beschränkungen der staatlichen Entscheidungs- und Gestaltungsfrei-
heit enthalten, im Zweifel einschränkend auszulegen.
Eine explizite authentische Interpretation durch die Vertragsparteien (Art. 31 Abs. 2
und Abs. 3 WVK) ist, soweit ersichtlich, bislang nicht erfolgt. Im bisher einzigen Fall
einer tatsächlichen (positiven) Feststellung des NATO-Bündnisfalles (vgl. Art. 31
Abs. 3 Buchst. b) WVK) sind die NATO-Staaten nach den terroristischen Anschlägen
- 89 -
vom 11. September 2001 in New York und Washington nach der Maxime verfahren,
dass der NATO-Vertrag es jedem Vertragsstaat überlässt zu beurteilen, ob ein Bünd-
nisfall im Sinne des Art. 5 Abs. 1 vorliegt. Ihre Vertreter haben Anfang Oktober 2001
nach zuvor erfolgten Entscheidungen ihrer jeweiligen Regierung im NATO-Rat (ein-
stimmig) einen solchen Fall nach Art. 5 und 6 NATO-Vertrag förmlich festgestellt.
Erst nach Ergehen dieses Beschlusses lag nach gemeinsamer Überzeugung der
NATO-Staaten ein „Bündnisfall“ im Sinne des NATO-Vertrages vor.
Im Falle des am 20. März 2003 begonnenen Krieges gegen den Irak ist vom NATO-
Rat ein solcher „Bündnisfall“ nicht beschlossen worden. Unabhängig davon, dass ein
durch Art. 51 UN-Charta nicht gerechtfertigter „Präventivkrieg“ völkerrechtlich keinen
„NATO-Bündnisfall“ nach Art. 5 NATO-Vertrag darstellen oder rechtfertigen kann,
war mithin schon deshalb kein NATO-Staat nach dem NATO-Vertrag verpflichtet,
NATO-Partner mit militärischen Mitteln im Irak-Krieg zu unterstützen. Ein durch
Art. 51 UN-Charta nicht gerechtfertigter Krieg begründet bereits nach den Art. 1, 5
und 6 NATO-Vertrag keine Beistandsverpflichtungen, sondern steht diesen - wie ins-
besondere die Regelung in Art. 1 NATO-Vertrag deutlich macht - gerade entgegen.
Der NATO-Vertrag enthält darüber hinaus einen ausdrücklichen rechtlichen Vorbe-
halt, wonach keine Vertragspartei durch den NATO-Vertrag oder durch spätere Ent-
scheidungen bei der Durchführung des Vertrages (z.B. Beschlüsse in den NATO-
Gremien) gezwungen werden kann, gegen die eigene Verfassung zu verstoßen (sog.
„protective clause“). Auf nachdrückliches Betreiben der damaligen US-Regie-
rungsadministration des Präsidenten Truman ist 1949 in die „Urfassung“ des NATO-
Vertrages die Klausel aufgenommen worden, die sowohl seine Ratifizierung als auch
seine Durchführung in Art. 11 Satz 1 einem ausdrücklichen Verfassungsvorbehalt
unterstellt. In dieser Regelung wird explizit bestimmt, dass der NATO-Vertrag „von
den Parteien in Übereinstimmung mit ihren verfassungsmäßigen Verfahren zu ratifi-
zieren und in seinen Bestimmungen durchzuführen ist“. Damit sind mögliche Konflik-
te zwischen dem NATO-Vertrag, seiner Durchführung und daraus (für die Mitglieds-
staaten) resultierenden Verpflichtungen einerseits und der jeweiligen Verfassung des
einzelnen Mitgliedsstaates andererseits von vornherein entschieden worden. Die ver-
fassungsrechtliche Regelung des jeweiligen Bündnis- und Vertragspartners geht im
Konfliktfalle der NATO-Vertragsregelung (und den zur Durchführung des Vertrages
- 90 -
getroffenen Entscheidungen) vor. Es gibt nach dem NATO-Vertrag mithin keine
rechtlichen Bündnisverpflichtungen jenseits des Verfassungsrechts des jeweiligen
Mitgliedsstaates und damit auch nicht jenseits der durch Art. 20 Abs. 3 GG begrün-
deten Bindung der (deutschen) „vollziehenden Gewalt“ an „Recht und Gesetz“ sowie
an die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ (Art. 25 GG).
b) Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus den Regelungen des NATO-Trup-
penstatuts und des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut.
Nach allgemeinem Völkerrecht, das auch in internationalen Übereinkommen seinen
Niederschlag gefunden hat (vgl. u.a. Art. 1 des Abkommens über die internationale
Zivilluftfahrt vom 7. Dezember 1944 - so genanntes Chicagoer Abkommen
1956 II, S. 411>), besitzt jeder Staat im Luftraum über seinem Hoheitsgebiet „volle
und ausschließliche Lufthoheit“. Sind allerdings - wie in Deutschland - ausländische
Truppen stationiert, so werden Umfang und Grenzen ihrer Bewegungsfreiheit regel-
mäßig in speziellen völkerrechtlichen Abkommen geregelt. Nach der am 6. Mai 1955
erfolgten Aufhebung des Besatzungsregimes geschah dies in Deutschland in Gestalt
des am 1. Juli 1963 in Kraft getretenen (vgl. BGBl. 1993 II S. 745) so genannten Zu-
satzabkommens (ZA-NTS 1959), das das NATO-Truppenstatut ergänzte.
In der bis 1994 geltenden Fassung dieses Zusatzabkommens, das in diesem Bereich
die Regelungen aus der Besatzungszeit als Vertragsrecht weitgehend fortführte, war
den in Deutschland im Rahmen der NATO stationierten US-Truppen eine sehr weit-
gehende Bewegungsfreiheit im deutschen Luftraum eingeräumt: Eine „Truppe“ war
berechtigt, mit Luftfahrzeugen „die Grenzen der Bundesrepublik zu überqueren sowie
sich in und über dem Bundesgebiet zu bewegen“ (Art. 57 Abs. 1 ZA-NTS 1959). Im
Zuge der Neufassung des Zusatzabkommens ist diese Regelung im Jahre 1994 ge-
ändert worden (BGBl. 1994 II S. 2594, 2598). Danach bedarf nunmehr die in
Deutschland stationierte „Truppe“ grundsätzlich jeweils einer Genehmigung durch die
deutsche Bundesregierung, wenn sie mit Land-, Wasser- oder Luftfahrzeugen in die
Bundesrepublik „einreisen oder sich in und über dem Bundesgebiet bewegen“ will
(Art. 57 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 ZA-NTS 1994). Der Genehmigungsvorbehalt ist
schon nach dem Wortlaut der Vorschrift eindeutig. Allerdings wird diese grundsätzli-
- 91 -
che Genehmigungspflicht im folgenden zweiten Halbsatz des Art. 57 Abs. 1 Satz 1
ZA-NTS 1994 teilweise wieder eingeschränkt. Die Vorschrift lautet:
„Transporte und andere Bewegungen im Rahmen deutscher Rechtsvor-
schriften, einschließlich dieses Abkommens und anderer internationaler
Übereinkünfte, denen die Bundesrepublik und einer oder mehrere der Ent-
sendestaaten als Vertragspartei angehören, sowie damit im Zusammen-
hang stehender technischer Vereinbarungen und Verfahren gelten als ge-
nehmigt.“
Mit anderen Worten: Soweit dieser zweite Halbsatz eingreift, bedarf es keiner Ge-
nehmigung für die „Einreise“ und alle Bewegungen mit Luftfahrzeugen „in und über
dem Bundesgebiet“. Wie weit der Anwendungsbereich dieser Regelung reicht, ist
nach den allgemeinen völkerrechtlichen Auslegungsregeln zu ermitteln.
Nach ihrem Wortlaut ist gemäß Art. 57 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 ZA-NTS für die fikti-
ve „Vorabgenehmigung“ durch diese Vorschrift („gelten als genehmigt“) maßgeblich,
ob die „Transporte und anderen Bewegungen“ der stationierten Truppe im Rahmen
der deutschen Rechtsvorschriften und der genannten Abkommen erfolgen. Verstößt
eine Aktivität der stationierten Truppe in Deutschland oder im Luftraum darüber ge-
gen eine solche Rechtsvorschrift, so entfällt die „Vorabgenehmigung“ durch das Zu-
satzabkommen.
Für die Interpretation der Regelung ist ferner ihr Kontext, also der Zusammenhang, in
dem sie steht (vgl. Art. 31 Abs. 1 WVK), von Bedeutung. Insoweit ist das Regel-
Ausnahme-Verhältnis zu beachten: Sie ist als Ausnahme von dem im allgemeinen
Völkerrecht geltenden Grundsatz der vollen Hoheitsgewalt jedes Staates über sein
Territorium und seiner „vollen und ausschließlichen Lufthoheit“ über seinem Hoheits-
gebiet ausgestaltet. Als Ausnahmevorschrift ist sie mithin nach allgemeinen Ausle-
gungsgrundsätzen („singularia non sunt extendenda“) eng auszulegen.
Die Regelung des Art. 57 Abs. 1 Satz 1 ZA-NTS - und zwar sowohl in ihrer Ur-
sprungsfassung als auch in der Neufassung von 1994 - betrifft zudem wie sich schon
aus ihrem Wortlaut ergibt, nur die Bewegungen von Luftfahrzeugen einer „Truppe“
(sowie eines „zivilen Gefolges“, ihrer „Mitglieder und Angehörigen“), mithin also nicht
jede „Einreise“ von Militärluftfahrzeugen aus einem Vertragsstaat in die Bundesre-
- 92 -
publik Deutschland. Was im Sinne dieser Vorschrift als „Truppe“ zu verstehen ist, ist
in Art. I Abs. 1 Buchst. a) des NATO-Truppenstatuts definiert: „Truppe“ ist danach
das zu den Land-, See- oder Luftstreitkräften gehörende Personal einer Partei (des
NATO-Truppenstatuts), „wenn es sich im Zusammenhang mit seinen Dienstoblie-
genheiten in dem Hoheitsgebiet“ einer Vertragspartei, hier also Deutschlands, „befin-
det“. Es geht also bei der durch Art. 57 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 ZA-NTS unter be-
stimmten Voraussetzungen für Militärluftfahrzeuge von Vertragsstaaten generell ge-
nehmigten „Einreise in die Bundesrepublik“ und Bewegungsfreiheit „in und über dem
Bundesgebiet“ allein um die im NATO-Rahmen stationierten Truppenteile. Denn die
Stationierungsbefugnisse auf deutschem Boden sind den USA und dem UK „um ihrer
Stellung als Mitglieder der nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft willen und im
Hinblick auf die daraus entspringenden Verpflichtungen eingeräumt worden“
(BVerfG, Urteil vom 18. Dezember 1984 - 2 BvE 13/83 - ). Sollen dage-
gen außerhalb des NATO-Rahmens in den USA oder im UK stationierte Truppenteile
mit Militärluftfahrzeugen etwa auf ihrem Weg in das Kriegsgebiet lediglich den deut-
schen Luftraum benutzen oder auf ihnen in Deutschland überlassenen Flugplätzen
zwischenlanden, um aufzutanken, Material oder Waffen aufzunehmen und anschlie-
ßend - ohne „NATO-Auftrag“ - in das außerhalb des „NATO-Gebiets“ gelegene
Kriegsgebiet weiterzufliegen, bleibt es bei der grundsätzlichen Genehmigungsbedürf-
tigkeit. Der Krieg der USA und des UK gegen den Irak war kein „NATO-Krieg“. Er
erfolgte außerhalb der Entscheidungsstrukturen der NATO.
Entsprechendes gilt für die in Deutschland gelegenen Militär-Stützpunkte. In diesen
Liegenschaften, die den stationierten Streitkräften „zur ausschließlichen Benutzung
überlassen“ worden sind, dürfen diese nach Art. 53 Abs. 1 ZA-NTS „die zur befriedi-
genden Erfüllung ihrer Verteidigungspflichten erforderlichen Maßnahmen treffen“.
Nach Abs. 2 der Vorschrift gilt dies „entsprechend für Maßnahmen im Luftraum über
den Liegenschaften“. Ungeachtet aller sonstigen Auslegungsschwierigkeiten ergibt
sich daraus für die zuständigen deutschen Stellen, d.h. vor allem für die Bundesre-
gierung, im Konfliktfall - jedenfalls rechtlich - die Befugnis zu kontrollieren, ob die Sta-
tionierungsstreitkräfte auf den überlassenen Liegenschaften (sowie im Luftraum da-
rüber) im Einzelfall ausschließlich „Verteidigungspflichten“ im Sinne des Zusatzab-
kommens und des NATO-Vertrages wahrnehmen oder aber andere Maßnahmen
vorbereiten oder gar durchführen. Art. 53 Abs. 3 ZA-NTS soll dabei - nach dem Ver-
- 93 -
tragstext - ausdrücklich sicherstellen, dass die deutschen Behörden „die zur Wahr-
nehmung deutscher Belange erforderlichen Maßnahmen“ innerhalb der Liegenschaf-
ten durchführen können. Was dabei zur „Wahrnehmung deutscher Belange“ erforder-
lich ist, ist, soweit ersichtlich, weder in dieser Bestimmung noch in anderen Abkom-
men im Einzelnen definiert. Die Konkretisierung der „deutschen Belange“ und die
Festlegung der Mittel zu ihrer Durchsetzung ist damit zuvörderst Aufgabe der zu-
ständigen deutschen Behörden und damit insbesondere der Bundesregierung, die
dabei freilich nach Art. 20 Abs. 3 GG an „Recht und Gesetz“ und nach Art. 25 GG an
die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ gebunden ist. Zur „Wahrnehmung deut-
scher Belange“ im Sinne der genannten Regelungen gehört jedenfalls u.a. auch,
dass alle erforderlichen Maßnahmen eingeleitet und vorgenommen werden, die ver-
hindern, dass etwa vom Territorium der Bundesrepublik Deutschland aus völker-
rechtswidrige Kriegs-Handlungen erfolgen oder unterstützt werden. Dies gilt um so
mehr, als sich Deutschland im Zuge der Wiedervereinigung in Art. 2 des Vertrages
über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (so genannter Zwei-
Plus-Vier-Vertrag) vom 12. September 1990 (BGBl. II S. 1318), der die maßgebliche
Grundlage der im Jahre 1990 erfolgten Herstellung der staatlichen Einheit Deutsch-
lands bildet, völkerrechtlich verpflichtet hat, dafür zu sorgen, „dass von deutschem
Boden nur Frieden ausgehen wird“.
c) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem „Vertrag über den Aufenthalt aus-
ländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland“ vom 23. Oktober 1954,
dem so genannten Aufenthaltsvertrag (AV). In Art. 1 Abs. 4 AV wurde zwar die Rege-
lung getroffen, dass die Bundesrepublik Deutschland „auf der gleichen Grundlage,
nach der dies zwischen anderen Parteien des Nordatlantikpaktes“ (= NATO-Vertrag)
„üblich ist oder mit Wirkung für alle Mitgliedsstaaten im Rat der Nordatlantikpakt-
Organisation vereinbart wird“, unter anderem den amerikanischen und britischen
Streitkräften das Recht gewährt, „das Bundesgebiet auf dem Wege nach oder von
Österreich (so lange diese dort weiter stationiert sind) oder irgendeinem Mitglieds-
staat der Nordatlantikpakt-Organisation zu betreten, es zu durchqueren und zu ver-
lassen“. Unabhängig von der Frage, ob der Aufenthaltsvertrag gemäß seinem Art. 3
mit dem in Gestalt des Zwei-Plus-Vier-Vertrages vom 12. September 1990 erfolgten
„Abschluss einer friedensvertraglichen Regelung mit Deutschland“ außer Kraft getre-
ten ist oder ob er aufgrund der zwischen den beteiligten Regierungen gewechselten
- 94 -
diplomatischen Noten einstweilen fort gilt, beschränkt sich Art. 1 Abs. 4 AV schon
nach seinem Wortlaut eindeutig darauf, das Bundesgebiet auf dem Wege nach oder
von „… irgendeinem Mitgliedstaat der Nordatlantikpakt-Organisation“ zu betreten, es
zu durchqueren und zu verlassen. Die in Art. 1 Abs. 4 AV eingeräumten Rechte be-
ziehen sich mithin allein auf Transitvorgänge vom Gebiet eines NATO-
Mitgliedstaates in das Bundesgebiet oder von diesem aus in das Territorium eines
NATO-Mitgliedstaates. Eine Regelung für das Betreten, Durchqueren oder Verlassen
des Bundesgebietes „auf dem Wege nach oder von“ irgendeinem Nicht-
Mitgliedsstaat der NATO enthält der Aufenthaltsvertrag gerade nicht.
d) Dies gilt auch für den Fall, dass zwischen der Bundesrepublik Deutschland sowie
den USA und dem UK völkerrechtliche Geheim-Abkommen geschlossen worden sein
sollten, die für den Fall eines militärischen Konflikts Gegenteiliges vorsehen, jedoch
- entgegen Art. 102 UN-Charta - nicht beim Sekretariat der Vereinten Nationen re-
gistriert und veröffentlicht worden sind.
Unabhängig davon, ob solche Geheim-Abkommen überhaupt rechtliche Wirkungen
auszulösen vermögen, ist jedenfalls die Vorschrift des Art. 103 UN-Charta zwingend
zu beachten, die folgenden Wortlaut hat:
„Widersprechen sich die Verpflichtungen von Mitgliedern der Vereinten Na-
tionen aus dieser Charta und ihre Verpflichtungen aus anderen internatio-
nalen Übereinkünften, so haben die Verpflichtungen aus dieser Charta
Vorrang.“
Art. 103 UN-Charta stellt ganz allgemein den Vorrang des Rechts der UN-Charta ge-
genüber Verpflichtungen aus allen anderen völkerrechtlichen Abkommen fest. Dies
hat im vorliegenden Zusammenhang die Konsequenz, dass aus solchen - für den
Senat nicht ersichtlichen, jedoch nicht auszuschließenden - Geheim-Abkommen für
die USA und für das UK gegenüber Deutschland jedenfalls keine Rechte und Ver-
pflichtungen ableitbar sind, die der UN-Charta widersprechen, also etwa gegen das
Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta verstoßen.
- 95 -
4.1.4.1.4 Völkerrechtliche Beurteilung der militärischen Unterstützungsleistungen
Wie sich aus den vorstehenden Darlegungen (unter 4.1.4.1.1 bis 4.1.4.1.3) ergibt,
bestehen gegen mehrere im „Punktations-Papier“ des Bundesministeriums der Ver-
teidigung aufgeführte und vom Senat in der Berufungshauptverhandlung festgestellte
Unterstützungsleistungen der Bundesrepublik Deutschland zugunsten der USA und
des UK im Zusammenhang mit dem am 20. März 2003 begonnenen Krieg gegen den
Irak gravierende völkerrechtliche Bedenken.
Dies gilt jedenfalls für die Gewährung von Überflugrechten für Militärluftfahrzeuge der
USA und des UK, die im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg über das Bundesgebiet
hinweg in das Kriegsgebiet in der Golfregion flogen oder von dort zurückkamen. E-
benfalls gilt dies für die Zulassung der Entsendung von Truppen, des Transports von
Waffen und militärischen Versorgungsgütern von deutschem Boden aus in das
Kriegsgebiet sowie für alle Unternehmungen, die dazu führen konnten, dass das
Staatsgebiet Deutschlands als Ausgangspunkt oder „Drehscheibe“ für gegen den
Irak gerichtete militärische Operationen diente. Denn objektiver Sinn und Zweck die-
ser Maßnahmen war es, das militärische Vorgehen der USA und des UK zu erleich-
tern oder gar zu fördern. Wegen dieser Zielrichtung bestehen gegen das diesbezüg-
liche Verhalten der Bundesregierung im Hinblick auf das völkerrechtliche Gewaltver-
bot und die angeführten Bestimmungen des V. HA gravierende völkerrechtliche Be-
denken (vgl. Bothe, AVR 2003, 255 [268]).
Ob diese gravierenden völkerrechtlichen Bedenken auch für die Beteiligung von Sol-
daten der Bundeswehr an Einsätzen von AWACS-Flügen über der Türkei und ihre
Verwendung zur Bewachung von Kasernen sowie von militärischen und zivilen Ein-
richtungen der US-Streitkräfte in Deutschland gelten, ist nicht zweifelsfrei. Bei den
AWACS-Flügen hängt die Beantwortung der Frage maßgeblich davon ab, ob die bei
diesen Einsätzen gewonnenen Daten für die Kriegshandlungen im Irak von Bedeu-
tung waren und ob die Streitkräfte der USA und des UK darauf de facto Zugriff hat-
ten. Die Vereinbarkeit des Schutzes und der Bewachung von in Deutschland gelege-
nen Einrichtungen der US-Streitkräfte durch die Bundeswehr mit geltendem Völker-
recht war davon abhängig, ob damit entsprechende Aufgaben der in das Kriegsge-
biet verlegten US-Verbände gleichsam stellvertretend und kompensatorisch wahrge-
- 96 -
nommen wurden, um diesen den Abzug entsprechender Truppen in das Kriegsgebiet
zu ermöglichen oder zu erleichtern. Wäre dies der Fall gewesen, bestünden wegen
dieses Verstoßes gegen das in Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 V. HA normierte Verbot,
„keine der Konfliktparteien zu unterstützen“ (vgl. Nr. 1110 Satz 1 ZDv 15/2), gravie-
rende völkerrechtliche Bedenken.
4.1.4.1.5 Möglicher Zusammenhang zwischen dem IT-Projekt SASPF und der militä-
rischen Unterstützung der USA und ihrer Verbündeten
Im Kontext des auf gravierende völkerrechtliche Bedenken stoßenden, von den USA
und ihren Verbündeten gegen den Irak geführten Krieges und der deutschen militäri-
schen Unterstützungsleistungen sah sich der Soldat - nachvollziehbar - mit der Frage
konfrontiert, ob er persönlich durch seine von ihm konkret geforderte weitere Mitwir-
kung am IT-Projekt SASPF im S. selbst einen Beitrag dazu leistete, seinerseits die
Führung des Krieges zumindest mittelbar zu erleichtern oder gar zu fördern.
Dabei bedarf es allerdings im vorliegenden Zusammenhang keiner abschließenden
Prüfung und Entscheidung der Frage durch den erkennenden Senat, ob der Soldat
durch die - von ihm ab dem 7. April 2003 verweigerte - weitere Mitwirkung am IT-
Projekt SASPF während des - bis heute andauernden - Irak-Krieges direkt oder indi-
rekt diese oder andere Unterstützungsleistungen der Bundsrepublik Deutschland für
die USA und ihre Verbündeten tatsächlich kausal wirksam gefördert oder zumindest
einen relevanten Beitrag dazu geleistet hätte, was vom Truppendienstgericht im an-
gefochtenen Urteil ohne nähere Begründung („liegt für jedermann auf der Hand“) ver-
neint worden ist. Denn er hatte zu jenem Zeitpunkt jedenfalls einen nachvollziehba-
ren Anlass, dies zu befürchten.
Der (damalige) Disziplinarvorgesetzte des Soldaten, der Zeuge M., hat sowohl in der
Hauptverhandlung vor dem Truppendienstgericht als auch in der Berufungshaupt-
verhandlung vor dem Senat die Einlassung des Soldaten bestätigt, dass dieser sich
bei ihm nach dem Realitätsgehalt seiner Befürchtung hinsichtlich eines möglichen
Zusammenhangs zwischen dem IT-Projket SASPF und den deutschen militärischen
Unterstützungsleistungen im Irak-Krieg erkundigt hatte. Auf diese den Soldaten be-
sonders bedrängende Frage erklärte der Zeuge M. in seiner Eigenschaft als Leiter
- 97 -
des IT-Projekts SASPF im S., dass er diese Möglichkeit nicht ausschließen könne. In
der Berufungshauptverhandlung hat der Zeuge M. hierzu erläuternd ausgeführt,
durch das IT-Projekt SASPF sollten unter anderem die „Abläufe“ in der Bundeswehr
insgesamt optimiert werden, vor allem auch im Bereich der Logistik. Dabei gehe es
nicht um die Verwendung einer bestimmten Software, sondern um die Optimierung
von Prozessen. Falls das vorgesehene Software-Produkt SAP sich dabei als unge-
eignet erweise, könne nach seiner Einschätzung ohne großen Aufwand ein Alterna-
tiv-Produkt eingesetzt werden. Da er zum Zeitpunkt der in Rede stehenden Gesprä-
che mit dem Soldaten im Frühjahr 2003 nicht gewusst habe und auch nicht wisse,
wie lange der am 20. März 2003 begonnene Irak-Krieg andauern werde, habe er ehr-
licherweise nicht ausschließen können, dass sich das IT-Projekt SASPF in Einzelbe-
reichen auch schon vor seiner geplanten End-Einführung für den Krieg als relevant
erweisen könne.
Der Senat hat keine Veranlassung, die inhaltliche Richtigkeit dieser Bekundungen o-
der die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen M. in Zweifel zu ziehen. Dass dem
Zeugen - zumal als Leiter der zuständigen IT-Abteilung im S. - insoweit die erforderli-
che Sachkunde und fachliche Einsicht gefehlt hätte, ist nicht ersichtlich. Die Bekun-
dungen des Zeugen waren nachvollziehbar und in sich schlüssig. Trotz wiederholter
Nachfragen ist er im Kern bei seiner fachlichen Einschätzung geblieben. Konkrete
Anhaltspunkte für Widersprüche oder Ungereimtheiten sind ebenso wenig erkennbar
geworden wie Hinweise auf das Einfließen sachfremder Erwägungen. Dafür spricht
vor allem auch, dass von den Verfahrensbeteiligten gegen die diesbezüglichen Be-
kundungen des Zeugen, die er bereits in der Hauptverhandlung vor dem Truppen-
dienstgericht am 9. Februar 2004 gemacht hatte, keine inhaltlichen Einwände erho-
ben worden sind. Zwar wird in den vom Senat beim Bundesministerium der Verteidi-
gung eingeholten amtlichen Auskünften vom September 2004 zum Ausdruck ge-
bracht, dass sich das IT-Projekt SASPF im Frühjahr 2003 noch in der Phase der Er-
probung befand; eine SASPF-bezogene Unterstützung von militärisch und politisch
verbündeten Staaten sei zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht möglich gewesen. Aller-
dings sei das IT-Projekt SASPF darauf angelegt, Einsätze der Bundeswehrstreitkräf-
te innerhalb ihres „erweiterten Aufgabenspektrums“, also auch außerhalb des Be-
reichs der Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland oder (im Bündnisfall) eines
NATO-Verbündeten, zu unterstützen und auch insoweit führungsrelevante Informati-
- 98 -
onen aus den Bereichen Logistik, Personal, Rechnungswesen etc. „online“ und
„überall“ zur Verfügung zu stellen. Dadurch sollten die Bundeswehrstreitkräfte zur
„Vernetzten Operationsführung“ sowie zur „Interoperabilität mit den Streitkräften an-
derer Nationen" befähigt werden. Denn Interoperabilität sei der Schlüssel zu gemein-
samen Einsätzen mit komplementärer Aufgabenverteilung (Burden Sharing).
Da für den Soldaten - ebenso wie für den zuständigen Leiter der IT-Abteilung im S.,
den Zeugen M. - bei Beginn des Irak-Krieges im März 2003 nicht absehbar war, wie
lange dieser noch andauern würde, war es in diesem konkreten Kontext jedenfalls
nachvollziehbar, wenn der Soldat angesichts der ihm erkennbar gewordenen Ver-
wendungspotentiale des IT-Projekts SASPF daraus für sich die schwerwiegende
Folgerung zog, er müsse unter diesen Umständen damit rechnen, bei Ausführung
der ihm am 7. April 2003 erteilten Befehle und damit bei Fortführung seiner Tätigkeit
auf seinem Dienstposten im S. selbst in eine Erleichterung bzw. Förderung der Füh-
rung des Irak-Krieges verstrickt zu werden.
Mit einer solchen Situation musste der Soldat weder bei seinem Eintritt in die Bun-
deswehr noch bei seiner antragsgemäßen Ernennung zum Berufssoldaten rechnen.
Zwar musste ihm, zumal als Berufssoldaten, bewusst sein, dass er als Soldat der
Bundeswehr insbesondere zum „treuen Dienen“ (§ 7 SG) verpflichtet ist. Diese
Pflicht fordert nach der ständigen Rechtsprechung des Senats von dem Soldaten, im
Dienst und außerhalb des Dienstes zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Bun-
deswehr als eines militärischen Verbandes beizutragen und alles zu unterlassen,
was diese in ihrem durch die Verfassung und diese konkretisierende Gesetze festge-
legten Aufgabenkreis schwächen könnte (vgl. u.a. Urteil vom 28. Januar 2004
- BVerwG 2 WD 13.03 -
= NZWehrr 2004, 169 = ZBR 2005, 256>). Er hatte sich auch bewusst während sei-
ner Soldatenlaufbahn dafür entschieden, weiter Soldat zu bleiben und insbesondere
keinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu stellen oder auf ei-
genen Antrag aus der Bundeswehr auszuscheiden.
Der Soldat konnte und durfte ungeachtet dessen davon ausgehen, dass ihm im Rah-
men seines Dienstverhältnisses militärische Befehle lediglich unter Beachtung der
sich aus dem Soldatengesetz und dem Grundgesetz ergebenden Grenzen erteilt
- 99 -
würden und dass er in einem demokratischen Rechtsstaat nur solche Befehle seiner
Vorgesetzten auszuführen hat.
Nicht damit rechnen musste er dagegen damit, dass die an Recht und Gesetz
(Art. 20 Abs. 3 GG) und damit auch an das geltende Völkerrecht gebundene Regie-
rung der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit einem Krieg, gegen
den gravierende völkerrechtliche Bedenken bestehen, militärische Unterstützungs-
leistungen zugunsten der USA und ihrer Verbündeten beschließen und erbringen
würde und dass in diesem Kontext des Irak-Krieges die nicht auszuschließende Mög-
lichkeit bestand, dass er mit seiner konkreten dienstlichen Tätigkeit in solche Unter-
stützungshandlungen verstrickt würde.
4.1.4.2 Aufgrund des Ergebnisses der Berufungshauptverhandlung steht zur vollen
Überzeugung des Senats des Weiteren fest, dass die vom Soldaten geltend gemach-
te Gewissensentscheidung an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientiert (dazu
4.1.4.2.1) und von der erforderlichen Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit des
für ihn ethisch Gebotenen geprägt war, so dass er dagegen nicht ohne ernste Ge-
wissensnot handeln konnte (dazu 4.1.4.2.2). Der Senat hat sich dabei auch von der
persönlichen Glaubwürdigkeit des Soldaten und von seiner ernsthaften Bereitschaft
zur Konsequenz überzeugen können, der auch der Vertreter des Bundeswehrdiszip-
linaranwalts - ohne Billigung in der Sache - in der Berufungshauptverhandlung Re-
spekt gezeigt hat.
4.1.4.2.1 Zwar resultierten die schwerwiegenden Bedenken des Soldaten gegen die
in Rede stehenden deutschen Unterstützungsleistungen für die Streitkräfte der USA
und des UK zunächst vor allem aus seinen gravierenden Zweifeln an ihrer Verein-
barkeit mit zentralen Geboten des Grundgesetzes und des geltenden Völkerrechts.
Daraus folgt jedoch nicht, er habe gleichsam lediglich juristische Bedenken gegen
den Krieg erhoben und nur ihre fehlende Legalität gerügt. Der Senat hat in der Beru-
fungshauptverhandlung vielmehr die Gewissheit gewonnen, dass für den in starkem
Maße christlich geprägten Soldaten in der Frage des sittlichen „Gut“ oder „Böse“ der
Unterstützung eines Krieges im geltenden Völkerrecht und in den maßgeblichen Re-
gelungen des Grundgesetzes das „ethische Minimum“ fixiert ist, das für ihn insoweit
der Ausgangspunkt, freilich nicht der alleinige Bezugsrahmen seiner Gewissens-
- 100 -
maßstäbe war und ist. In dieser Auffassung der sozialethischen Bedeutung des
Rechts folgt er der Sache nach der Grundlinie unter anderem Georg Jellineks (Die
sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 1878, S. 42; vgl. dazu
auch Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932 , S. 47) und ähnlicher
philosophischer Strömungen. Dabei ist entscheidend, dass der Soldat von dieser
Grundposition aus nicht zuletzt aufgrund seiner erkennbar starken christlichen Prä-
gung und Überzeugung dieses „ethische Minimum“ in seinem Gewissen als ethisch
verbindliche Verhaltensnorm internalisiert hatte. Dadurch gelangte er im konkreten
Konflikt in die Situation, vor einer Missachtung und den daraus für ihn resultierenden
Folgen gewarnt zu werden. Ohnehin kommt es, wie oben in anderem Zusammen-
hang dargelegt, für den grundrechtlichen Schutz dieses komplexen sozio-psychi-
schen Vorgangs nicht darauf an, ob der ethische Normbildungsprozess letztlich auf
überwiegend rationalen oder eher gefühlsmäßigen Gründen beruht. Denn die für den
Einzelnen nach seinem Gewissen maßgeblichen ethischen Gebote können aus sehr
verschiedenen Lebens- und Erfahrungsbereichen herrühren. Der Umstand, dass sie
(auch) im geltenden Recht ihren Niederschlag gefunden haben, entkleidet sie nicht
ihres ethischen Gehalts und Charakters. Dass für einen demokratischen Rechtsstaat
ein notwendiger Zusammenhang zwischen Recht und Sittlichkeit besteht oder beste-
hen sollte, ist jedenfalls zumindest nachvollziehbar (vgl. u.a. Kriele, Recht und prakti-
sche Vernunft, 1979, S. 111 [117]; vgl. dazu auch Ralf Dreier, Recht-Moral-Ideologie,
1981, S. 180 [198 f.] m.w.N.).
4.1.4.2.2 Die erforderliche Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit der Gewis-
sensentscheidung des Soldaten ergeben sich nach den vom Senat getroffenen Fest-
stellungen insbesondere aus seinen Äußerungen und aus seinem Verhalten vor und
während der Eskalation des Konflikts a) sowie aus der Glaubwürdigkeit seiner Per-
sönlichkeit und seiner Bereitschaft zur Konsequenz b).
a) Der Soldat hat seine Entscheidung nicht spontan, sondern wohlüberlegt getroffen,
nachdem er zuvor bei verschiedenen Stellen um Rat nachgesucht und seine schwer-
wiegenden Bedenken zu besprechen versucht hatte. So suchte der Soldat am
20. März 2003, also unmittelbar am Tage des Kriegsbeginns, einen Militärgeistlichen
sowie einen Truppenarzt des Sanitätszentrums B. auf. Er tat dies, um beiden Ge-
sprächspartnern seine als sehr gravierend wahrgenommene persönliche und auch
- 101 -
dienstliche Konfliktlage darzulegen. Auf diesem Wege erhoffte er sich, Beurteilungs-
und Entscheidungshilfen zu erhalten. Vor allem wollte er Klarheit darüber gewinnen,
ob er bei der Wahrnehmung und Bewertung der von ihm der Presseberichterstattung
entnommenen Meldungen zum Krieg von fragwürdigen Grundlagen ausging oder
möglicherweise unter einer „übertriebenen Wahrnehmung“ litt. Denn er wollte nicht,
wie er es in der Berufungshauptverhandlung glaubhaft formuliert hat, das Risiko ein-
gehen, dass er völlig „schief liege“. Gespräche mit einem Truppenarzt und einem
Militärgeistlichen hielt er für hilfreich und zielführend, weil es sich bei ihnen von ihrer
Rolle her aus seiner damaligen Sicht um „neutrale Personen“, das heißt um Persön-
lichkeiten handelte, die in ihren Beurteilungsmaßstäben nicht (allein) von militäri-
schen Zweckmäßigkeits- und Nützlichkeitserwägungen geprägt waren. Trotz seiner
Überraschung und seines Befremdens über das Ansinnen und die Anordnung des
Truppenarztes, ihn im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz auf seine seelische
und geistige Gesundheit untersuchen zu lassen, ließ er sich im Lichte seines
- offenkundig sehr ernsthaften - Anliegens auf diese Untersuchungen geduldig ein.
Dabei musste er sich nach seinen glaubhaften Angaben auskleiden und sich neben
der psychiatrischen Exploration in der Zeit vom 20. bis zum 26. März 2003 zahlrei-
chen weiteren, für ihn höchst unverständlichen medizinischen Untersuchungen (u.a.
Urin, Blut, Computertomographie) unterziehen, die er jedenfalls in der Summierung
als „ungeheuerlich“ empfand und die - wie von ihm erwartet - keinen pathologischen
Befund erbrachten.
Wie ernsthaft und tief der Soldat von seinen Gewissensnöten erfasst war, zeigte sich
auch daran, dass er sich unmittelbar nach der Entlassung aus dem Bundeswehrzent-
ralkrankenhaus dazu entschloss, in einem am 27. März 2003 mit Angehörigen seines
Dezernats durchgeführten Besprechungstermin die Gründe für die von ihm als dis-
kriminierend empfundene Einweisung in das Bundeswehrzentralkrankenhaus sowie
das dort Erlebte - ohne Vorbehalte im Hinblick auf seine Reputation - offen mitzutei-
len und dabei seine ethische Notlage ungeschminkt und unmissverständlich zu of-
fenbaren. Er ließ dabei keinen Zweifel daran, dass er es mit seinem Gewissen nicht
vereinbaren könne, Befehle zu befolgen, die geeignet seien, die Kriegshandlungen
der USA und ihrer Verbündeten im Irak zu unterstützen. Eine solche - für seine Vor-
gesetzten überraschende und äußerst ungewöhnliche - Vorgehensweise erforderte
- 102 -
seinerseits die Bereitschaft und den Mut, sich damit in seiner dienstlichen Umgebung
auf unabsehbare Zeit in die Rolle eines Außenseiters zu bringen.
Dabei beließ er es nicht. Auch in einem etwa eineinhalbstündigen Gespräch mit sei-
nem (damaligen) Disziplinarvorgesetzten, dem Zeugen P., das ebenfalls noch am
27. März 2003 stattfand, legte er offen und unmissverständlich im Zusammenhang
mit dem Irak-Krieg seine gravierenden Vorbehalte gegen die Stationierung von Bun-
deswehrangehörigen in Kuwait, die Beteiligung deutscher Soldaten an AWACS-
Flügen, die Gewährung von Überflug- und Transitrechten für die im Irak operieren-
den Streitkräfte der USA und des UK sowie die - in seinen Augen die US-Streitkräfte
personell entlastende - Bewachung von US-Liegenschaften in Deutschland durch
Soldaten der Bundeswehr dar. Auf Weisung des Zeugen P. legte er bis zum nächs-
ten Morgen seine Bedenken auch schriftlich nieder und übergab diesem das Papier.
Für den Zeugen P. war dabei offenkundig, dass sich der Soldat in einem Gewissens-
konflikt befand. Er hielt, wie er sowohl vor dem Truppendienstgericht als auch in der
Berufungshauptverhandlung ausdrücklich bestätigt hat, die Gedankengänge des
Soldaten für nachvollziehbar, die er im Ergebnis jedoch nicht billigte, auch wenn er
der Meinung war, „dass die Sache mit dem Irak hätte anders laufen sollen“.
Für die Ernsthaftigkeit des Gewissenskonfliktes des Soldaten spricht ferner, dass er
sich intensiv und nachhaltig darum bemühte, auf seine von ihm gesehenen schwer-
wiegenden rechtlichen und moralischen Einwände gegen den Irak-Krieg und die Be-
teiligung der Bundeswehr, die er als Anlagen zu einem Schreiben an den Bundesmi-
nister der Verteidigung und das Bundeskanzleramt vom 27. März 2003 zusammen-
gefasst hatte, eine inhaltliche Stellungnahme zu erhalten. Dabei setzte er sich (in
Anlage 3) explizit unter anderem mit der von dem US-Präsidenten geltend gemach-
ten Anspruch auseinander, Gott persönlich habe ihn, den US-Präsidenten, beauf-
tragt, den Krieg gegen den Irak zu beginnen. Über diese - von ihm so wahrgenom-
mene - Anmaßung war er tief empört. Demgegenüber insistierte er darauf, dass sein,
des Soldaten, Gott ein anderer sei. Er bezog sich dabei ausdrücklich auf ein vom
Katholischen Militärbischofsamt B. publiziertes „Gebet der Vereinten Nationen“ sowie
ein weiteres von diesem veröffentlichtes „Gebet Nr. 62“, in dem es heißt:
- 103 -
„Friede ist immer möglich -
aber was kann ich dafür tun?
Hilf mir heute, Herr, mit Frieden
im Kleinen anzufangen:
die Meinung der anderen zu achten,
ein grobes Wort nicht zu erwidern,
einen Nachteil auch einmal in Kauf zu nehmen,
einem Unrecht nicht beizustimmen,
guten Rat anzunehmen,
nicht immer zuerst an mich zu denken …
Friede ist möglich, aber nicht immer leicht.
Ich möchte den Mut aufbringen, Dinge zu ändern,
die ich ändern kann.
Gib mir diesen Mut, Herr,
damit heute meinem guten Willen auch die Tat folgt.“
Auf dieser Grundlage formulierte der Soldat für sich die Schlussfolgerung, er sei
„nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch verpflichtet, nach Kräften passiv und ak-
tiv für die Wiederherstellung des Rechts und eine Beendigung der Beteiligung der
Bundesrepublik Deutschland an der mörderischen Besetzung des Irak durch die USA
(und andere) einzutreten“. Der daraus resultierende Gewissenskonflikt ist in sich
schlüssig und damit nachvollziehbar.
b) Schließlich hat sich der Senat von der Ernsthaftigkeit, Tiefe und Unabdingbarkeit
der Gewissensentscheidung des Soldaten insbesondere auch aufgrund des von ihm
in der Berufungshauptverhandlung gewonnenen Eindrucks von der Glaubwürdigkeit
seiner Persönlichkeit und seiner Bereitschaft zur Konsequenz überzeugen können.
Der Soldat ist eine von seinem katholisch-christlichen Hintergrund tief geprägte Per-
sönlichkeit, die sich nicht leichtfertig zu folgenreichen Schritten entschließt. Vielmehr
ist er stets bemüht, zunächst eine sichere Beurteilungsgrundlage zu gewinnen und
seine darauf aufbauenden Einschätzungen mit anderen - vor allem auch gegenteili-
gen - zu konfrontieren. Er ist, wie es auch in den in der Vergangenheit über ihn er-
stellten dienstlichen Beurteilungen wiederholt zum Ausdruck gekommen ist, von ei-
nem starken Gerechtigkeitsempfinden sowie einem außergewöhnlichen Pflicht- und
Verantwortungsbewusstsein geprägt, ohne der Gefahr des Moralisierens oder gar
des Eiferertums zu erliegen. Dabei ist er - wenn aus seiner Sicht erforderlich und ge-
boten - unbequem und standhaft auch gegenüber starken Herausforderungen und
Widerständen. Auffallend ist sein nachhaltiges und offenkundig erfolgreiches Bemü-
- 104 -
hen um Wahrhaftigkeit und Gradlinigkeit. Opportunismus und Liebedienerei sind ihm
zuwider. Sein ersichtlich aufrichtiges Wesen und seine persönliche und kollegiale
Hilfsbereitschaft werden von seinen Vorgesetzten und Kameraden ebenso uneinge-
schränkt geschätzt wie sein fachliches Können und seine Zuverlässigkeit. Insgesamt
hat der Senat von ihm den Eindruck gewonnen, dass er eine Persönlichkeit von ho-
her Glaubwürdigkeit ist. Dies ergibt sich nicht nur aus den vorliegenden dienstlichen
Beurteilungen und seinen schriftlichen und mündlichen Einlassungen. Auch sein
(damaliger) Disziplinarvorgesetzter, der Zeuge M., hat in der Berufungshauptver-
handlung nachvollziehbar und glaubhaft bekundet, dass er aufgrund seiner mit dem
Soldaten gemachten Erfahrungen dessen Worten stets habe vertrauen können. Dies
gelte selbst in Fällen, in denen er sich zunächst an den betreffenden Vorgang oder
Hintergrund nicht mehr genau habe erinnern können. Der Soldat habe ihn in seiner
Aufrichtigkeit noch nie enttäuscht. Auch deshalb habe er ungeachtet des jetzt einge-
tretenen Konflikts in der Vergangenheit regelmäßig gut mit dem Soldaten kooperie-
ren können. Auch der Zeuge P. hat dies nicht in Zweifel gezogen.
Für die Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung des Soldaten spricht ferner, dass
er auch den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages unter dem 29. März
2003 - unter Darlegung seiner schweren rechtlichen und moralischen Einwände ge-
gen den Irak-Krieg und die deutschen Unterstützungsleistungen - um Hilfe und
Schutz bat, worauf er allerdings nach seinen glaubhaften Bekundungen in der Beru-
fungshauptverhandlung bis heute - abgesehen von einer kurzen Eingangsbestäti-
gung - keine Antwort erhielt.
Für seine Ernsthaftigkeit streitet des Weiteren der Umstand, dass er die vom Zeugen
M. erteilten Befehle und die darin geforderten Dienstleistungen erst nach reiflicher
Überlegung verweigerte, nachdem dieser, wie oben dargelegt, aus der damaligen
Sicht im Frühjahr 2003 explizit nicht ausschließen konnte, dass das IT-Projekt
SASPF für Unterstützungsleistungen im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg nament-
lich bei Verwendung einer anderen Software schon in naher Zukunft für logistische
Aufgaben Verwendung finden könne.
Für die Ernsthaftigkeit und Konsequenz der Haltung des Soldaten in dem von ihm
erfahrenen schweren Gewissenskonflikt spricht ferner, dass er die nicht hinreichende
- 105 -
Beratung und Belehrung durch den Zeugen S. zum Gegenstand einer Wehrbe-
schwerde vom 29. März 2003 machte, die allerdings ohne Erfolg blieb und durch Be-
scheid des Inspekteurs der Streitkräftebasis vom 19. Mai 2003 zurückgewiesen wur-
de.
Zudem wandte sich der Soldat mit Schreiben vom 2. Juni 2003 an den Inspekteur
der Streitkräftebasis und bekräftigte seine Auffassung, dass er mit der herrschenden
juristischen Meinung der Überzeugung sei, die Besetzung des Irak sei völkerrechts-
widrig und damit schon deshalb ethisch unzulässig. Alle bisherigen Reaktionen auf
seine Beschwerden hätten ihm gezeigt, dass offenbar unter gar keinen Umständen
seine Rechtsauffassung mit den sich daraus ergebenden Folgerungen geteilt werden
solle, allerdings ohne jedes Eingehen auf seine Argumente in der Sache. Statt des-
sen habe man ihm mit Konsequenzen gedroht. Er halte deshalb an seiner Auffas-
sung fest, sehe jedoch von weiteren - unter diesen Umständen sinnlosen - Be-
schwerden ab.
Der Soldat hat auch aufgrund und in der Konsequenz seines Verhaltens erhebliche
Belastungen auf sich genommen. Um sich selber treu zu bleiben und die nach sei-
nen glaubhaften Angaben für ihn zwingenden Gebote seines Gewissens nicht zu
missachten, war er auch unter dem realen Druck der Durchführung eines gerichtli-
chen Disziplinarverfahrens und eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens bereit,
die sich daraus unter Umständen für ihn ergebenden schwerwiegenden Auswirkun-
gen auf sich zu nehmen. Er musste, wie die Anschuldigungsschrift und die Anträge
des Wehrdisziplinaranwaltes deutlich gemacht haben, sogar mit seiner Entfernung
aus dem Dienst, zumindest aber mit schweren nachteiligen Auswirkungen für seinen
weiteren Berufsweg rechnen. Davon ließ er sich nicht abschrecken.
4.1.5 Der Soldat hat mit seinem von Anschuldigungspunkt 2 erfassten Verhalten
(Nichtausführung der beiden ihm am 7. April 2003 erteilten Befehle seines Vorge-
setzten M.) auch nicht die immanenten Schranken des in Anspruch genommenen
Grundrechts der Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) überschritten. Art. 4
Abs. 1 GG enthält keinen Gesetzesvorbehalt (dazu 4.1.5.1). Das Grundrecht steht
ferner nicht unter einem numerischen Vorbehalt der Inanspruchnahme (dazu 4.1.5.2)
und wird - jedenfalls im vorliegenden Konfliktfall - auch nicht durch die wehrverfas-
- 106 -
sungsrechtlichen Vorschriften Art. 12a, 65a, 73 Nr. 1, Art. 87a und 115a ff. GG unter
dem Gesichtspunkt der notwendigen „Funktionsfähigkeit der Bundeswehr“ verdrängt
(dazu 4.1.5.3).
4.1.5.1 Da Art. 4 Abs. 1 GG - anders als Art. 135 der Weimarer Reichsverfassung
(WRV) - keinen Gesetzesvorbehalt enthält, ist eine Begrenzung der Gewissensfrei-
heit durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes unzulässig und damit verfassungs-
widrig. Im Hinblick auf Art. 1 Abs. 3 GG darf weder der Gesetzgeber noch eine ande-
re öffentliche Gewalt dieses Grundrecht in seinem sachlichen Gehalt einschränken.
Der Gesetzgeber darf mit von ihm geschaffenen Regelungen lediglich die Grenzen
offen legen, die in den Begriffen des Art. 4 Abs. 1 GG selbst oder in anderen Verfas-
sungsbestimmungen enthalten sind. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in stän-
diger Rechtsprechung zum Grundrecht des Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG, das sogar - an-
ders als Art. 4 Abs. 1 GG - einem Gesetzesvorbehalt zur Regelung „des Näheren“
vorsieht, wiederholt entschieden (vgl. u.a. Urteile vom 13. April 1978 - 2 BvF 1/77
u.a. - und vom 24. April 1985 - 2 BvF 2/83 u.a. - ).
Dies ergibt sich für Art. 4 Abs. 1 GG nicht nur aus dem fehlenden Gesetzesvorbehalt,
sondern unmittelbar auch aus dem Normtext selbst. Denn die verfassungsrechtliche
Regelung ordnet an, dass im Konflikt zwischen Gewissen und Rechtspflicht die Frei-
heit des Gewissens „unverletzlich“ ist. Auch eine geringfügige Verletzung ist unzu-
lässig.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können sich für die ohne
Gesetzesvorbehalt gewährleisteten Grundrechte wie Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 3
GG allerdings immanente Grenzen aus anderen Grundrechts- oder sonstigen Ver-
fassungsbestimmungen ergeben. Dementsprechend wären z.B. religiöse Riten der
Tempelunzucht, der Menschopfer, der Witwenverbrennung oder Polygamie wegen
Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 bzw. Art. 6 Abs. 1 GG nicht von der Ge-
wissens-, Glaubens-, Bekenntnis- oder Religionsfreiheit gedeckt. Für die vorbehaltlos
gewährleisteten Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsge-
richt wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass sie ihre Grenzen nur in den von der
Verfassung selbst bestimmten Grenzen finden (vgl. u.a. Beschluss vom 19. Oktober
1971 - 1 BvR 387/65 -
- 107 -
„Die Freiheitsverbürgung des Art. 4 Abs. 1 GG geht wie alle Grundrechte
vom Menschenbild des Grundgesetzes aus, d.h. vom Menschen als eigen-
verantwortlicher Persönlichkeit, die sich innerhalb der sozialen Gemein-
schaft frei entfaltet. Diese vom Grundgesetz anerkannte Gemeinschafts-
bindung des Individuums macht auch Grundrechte, die vorbehaltlos ge-
währleistet sind, gewissen äußersten Grenzziehungen zugänglich. Jedoch
dürfen die Grenzen der Glaubensfreiheit - wie die der Kunstfreiheit (vgl.
BVerfGE 30, 173 [193]) - nur von der Verfassung selbst bestimmt werden.“
In einem Beschluss vom 11. August 1999 - 1 BvR 2181/98 u.a. - hat die
1. Kammer des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts diese Rechtsprechung
erneut bekräftigt und ausdrücklich auch auf die in Art. 4 Abs. 1 GG vorbehaltlos ge-
währleistete Freiheit des Gewissens angewandt.
4.1.5.2 Einem Soldaten, der eine ernsthafte Gewissensentscheidung im Sinne des
Art. 4 Abs. 1 GG getroffen hat und sich dadurch an der Ausführung eines ihm erteil-
ten Befehls gehindert sieht, darf angesichts der ohne Gesetzesvorbehalt jedem Ein-
zelnen zustehenden grundrechtlichen Gewährleistung auch nicht entgegengehalten
werden, dass sich nicht nur er, sondern u.a. auch andere auf die Gewissensfreiheit in
einem vergleichbaren Fall berufen haben oder berufen könnten. Hinge für Soldaten
der grundrechtliche Schutz der Gewissensfreiheit von dem zahlenmäßigen Umfang
der Inanspruchnahme durch andere Grundrechtsträger in gleichen oder ähnlichen
Situationen ab, wäre das Grundrecht der Gewissensfreiheit nicht mehr „unverletz-
lich“, sondern stünde unter einem numerischen Vorbehalt. Dies lässt sich weder
Art. 17a GG noch anderen Vorschriften des Grundgesetzes entnehmen.
4.1.5.3 Die Auslegung einer verfassungsrechtlichen Vorschrift, auch wenn es sich
um ein ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistetes Grundrecht handelt, darf nicht iso-
liert auf die einzelne Norm erfolgen. Vielmehr muss stets der Regelungszusammen-
hang beachtet werden, in dem die Norm steht. Dies ist Teil der gebotenen „systema-
tischen Interpretation“ und zugleich auch des vom Bundesverfassungsgericht in
ständiger Rechtsprechung angewandten „Grundsatzes der Einheit der Verfassung“.
Danach ist eine verfassungsrechtliche Regelung stets so auszulegen, dass Wider-
sprüche zu anderen Verfassungsnormen nach Möglichkeit vermieden werden. Denn
es kann nicht unterstellt werden, dass der Verfassungsgeber im selben Regelungs-
werk einander widersprechende Regelungen treffen und damit unterschiedliche
Rechtsanwendungsbefehle für den gleichen Regelungsbereich erteilen wollte. Der
- 108 -
Grundsatz der Einheit der Verfassung verlangt deshalb, unter Beachtung des Wort-
lautes der betreffenden Normen mögliche Widersprüche zu harmonisieren. Die Beru-
fung auf den Grundsatz der Einheit der Verfassung darf allerdings nicht dazu benutzt
werden, an die Stelle der vom Verfassungsgeber in den einschlägigen grundgesetzli-
chen Vorschriften getroffenen verfassungsrechtlichen Regelungen eine davon ab-
weichende Inhaltsbestimmung vorzunehmen. Dies ginge über die Grenzen normori-
entierter und methodisch überprüfbarer Verfassungskonkretisierung hinaus. Aus-
gangspunkt und Maßstab für eine an Recht und Gesetz gebundene Harmonisierung
(vgl. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 GG) muss deshalb stets der jeweilige Geltungs-
gehalt der beteiligten Verfassungsvorschriften sein, der durch ihre methodengerechte
Auslegung zu ermitteln ist. Ist im Einzelfall aufgrund einer solchen Auslegung eine
Kollision des Geltungsgehalts mehrerer Grundrechtsbestimmungen oder sonstiger
Verfassungsnormen im Sinne einer (partiellen) Überschneidung ihrer sachlichen Gel-
tungsbereiche festzustellen, so stellt sich die Aufgabe, „praktische Konkordanz“ her-
zustellen. Diese erfordert, um logische und systematische Widersprüche zu vermei-
den, eine „Optimierung“ des Geltungsgehalts aller beteiligten Verfassungsnormen
unter möglichster „Schonung“ ihres jeweiligen Regelungsanspruchs. Der Geltungs-
anspruch der in Rede stehenden Normen darf nur insoweit immanent beschränkt
werden, „wie das logisch und systematisch zwingend erscheint“; dabei muss „ihr
sachlicher Grundwertgehalt … in jedem Fall respektiert werden“ (vgl. u.a. Beschluss
vom 26. Mai 1970 - 1 BvR 83/69 u.a. - ).
Diese Aufgabe, widerstreitende Belange gegeneinander abzugrenzen, obliegt in ers-
ter Linie dem Gesetzgeber (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 6. Juni 1969 - 1 BvR
921/85 -
hungen nicht vorliegen, ist im Rahmen dieser Herstellung von „praktischer Konkor-
danz“ Raum für unumgänglich notwendige Abgrenzungen durch die zur Entschei-
dung berufenen Richterinnen und Richter des zuständigen Gerichts, denen im Streit-
fall nach Art. 92 GG die Rechtsprechung, also die verbindliche Auslegung und An-
wendung des geltenden Rechts, „anvertraut“ ist.
Dabei geht es darum, kollidierende Regelungen so auszulegen, dass sie in ihrer spe-
zifischen Wirkungskraft jeweils optimal zur Geltung kommen. Festzuhalten ist jedoch:
- 109 -
Voraussetzung für die Notwendigkeit der Herstellung „praktischer Konkordanz“ ist
stets, dass tatsächlich eine Kollision zwischen den sachlichen Geltungsbereichen
mehrerer Verfassungsbestimmungen vorliegt, die es logisch und systematisch zwin-
gend erscheinen lässt, eine wechselseitige Optimierung vorzunehmen (vgl. hierzu
Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland,
20. Aufl. 1995, § 10 II 2 RNr. 317 ff. m.w.N.; Stein/Frank, Staatsrecht, 19. Aufl. 2004,
§ 32 III 1, S. 264 m.w.N.).
Aus - gegenüber der in Art. 4 Abs. 1 GG gewährleisteten Freiheit des Gewissens -
anderen Grundrechtsbestimmungen oder anderen Verfassungsnormen ergeben sich
jedenfalls im vorliegenden Falle der Weigerung des Soldaten, gegen sein Gewissen
verstoßende Befehle auszuführen, keine Begrenzungen, die die Schutzwirkung des
Grundrechts zurückdrängen
4.1.5.3.1 Ausdrückliche Schranken für die in Art. 4 Abs. 1 GG gewährleisteten
Grundrechte ergeben sich allgemein etwa aus Art. 7 Abs. 2 und 3 GG, Art. 140 GG
i.V.m. Art. 136 Abs. 3 Satz 2 WRV, Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV
und Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 6 WRV. Alle diese im Grundgesetz ausdrücklich
enthaltenen Schranken sind hier jedoch nicht einschlägig und vermögen deshalb im
vorliegenden Zusammenhang das Grundrecht der Gewissensfreiheit eines Soldaten
gegenüber einem militärischen Befehl nicht einzuschränken.
4.1.5.3.2 Die Verfassungsnormen der Art. 12a, 65a, 73 Nr. 1, Art. 87a Abs. 1 und
Art. 115a ff. GG kollidierennach ihrem sich aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte,
Regelungszusammenhang und Normzweck ergebenden Regelungsgehalt nicht mit
dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG und verdrängen ihn nicht.
Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen den Vor-
schriften der Art. 12a, 73 Nr. 1, Art. 87a und 115b GG eine „verfassungsrechtliche
Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung“ entnommen,
kraft deren u.a. die „Einrichtung“ und „Funktionsfähigkeit“ der Bundeswehr „verfas-
sungsrechtlichen Rang“ haben. Diese Rechtsprechung ist sowohl bei einzelnen Rich-
tern des Bundesverfassungsgerichts (vgl. dazu das Sondervotum der Richter Mah-
renholz und Böckenförde zum Urteil vom 24. April 1985 - 2 BvF 2/83 u.a. -
- 110 -
69, 1 [57 ff.]>) als auch im Schrifttum (vgl. dazu u.a. Kempen, JZ 1971, 452;
R. Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Grenzproblem
des Rechts, 1986, S. 159 ff. m.w.N.) auf erhebliche Kritik gestoßen.
Art. 4 Abs. 1 GG kollidiert nicht mit dem Geltungsgehalt der genannten wehrverfas-
sungsrechtlichen Regelungen.
a) Art. 12a GG eröffnet dem Gesetzgeber die Kompetenz, Männer vom vollendeten
achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz
oder in einem Zivilschutzverband zu verpflichten (Abs. 1). Wer aus Gewissensgrün-
den den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflich-
tet werden (Abs. 2). Darüber hinaus sehen die weiteren Bestimmungen des Art. 12a
GG vor, dass im Verteidigungsfall Bürger zur Erfüllung bestimmter Dienstpflichten
durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes herangezogen werden können. Die
Wahrnehmung dieser durch Art. 12a GG dem Gesetzgeber und der Verwaltung ein-
geräumten verfassungsrechtlichen Befugnisse wird ersichtlich nicht dadurch beein-
trächtigt oder gar verhindert, dass Soldaten gegenüber einem ihnen erteilten militäri-
schen Befehl von ihrem Grundrecht nach Art. 4 Abs. 1 GG Gebrauch machen. Dies
bedarf keiner näheren Darlegung.
b) Art. 73 Nr. 1 GG enthält lediglich eine Gesetzgebungs-Kompetenz. Inwiefern von
dieser innerhalb von grundrechtlichen Schutzbereichen durch den Gesetzgeber
Gebrauch gemacht werden darf, ergibt sich nicht aus dieser Kompetenznorm, son-
dern richtet sich nach dem jeweiligen grundrechtlichen Schutzbereich und den vom
Verfassungsgeber vorgesehenen (oder auch nicht vorgesehenen) jeweiligen Geset-
zesvorbehalt. Dadurch, dass der Gesetzgeber durch eine Verfassungsvorschrift (z.B.
Art. 73 Nr. 1 GG) zu einem bestimmten legislativen Tun ermächtigt wird, erhält „das,
was er tut“, also das legislatorische „Produkt“, noch keinen Verfassungsrang (so zu
Recht u.a. R. Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen 1981,
S. 36). Die ausschließliche Gesetzgebungs-Kompetenz des Bundes über „die aus-
wärtigen Angelegenheiten sowie die Verteidigung“ (Art. 73 Nr. 1 GG) wird im Falle
einer Inanspruchnahme des Grundrechts der Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1
GG) de jure und de facto durch einen Soldaten weder beschnitten noch sonst ver-
- 111 -
kürzt. Denn die gesetzgeberische Tätigkeit kann nur vom Gesetzgeber selbst vorge-
nommen werden.
c) Auch die Verfassungsnormen der Art. 115a ff. GG werden hinsichtlich der in ihnen
vorgesehenen Rechtsfolgen nicht beschnitten. Die den dort genannten staatlichen
Organen eingeräumten Kompetenzen werden weder aufgehoben noch auch nur ver-
kürzt, wenn sich ein Soldat gegenüber einem ihn in seinem Gewissen ernsthaft be-
lastenden militärischen Befehl seiner Vorgesetzten auf sein Grundrecht aus Art. 4
Abs. 1 GG beruft und eine gewissenschonende Handlungsalternative begehrt.
d) Ebenso wenig wird durch die Berufung eines Soldaten auf das Grundrecht der
Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG die in Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG enthaltene
Verfassungsnormierung in Frage gestellt, wonach der Bund „Streitkräfte zur Verteidi-
gung“ aufstellt. Denn unabhängig davon, ob es sich dabei lediglich um eine Ermäch-
tigung oder aber um ein zwingendes verfassungsrechtliches Gebot handelt, bleibt
der Regelungsgehalt dieser Norm auch im Falle einer Inanspruchnahme des Grund-
rechts aus Art. 4 Abs. 1 GG durch Soldaten unangetastet.
Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass der verfassungsändernde Ge-
setzgeber mit der Einfügung des Art. 87a Abs. 1 GG die Aufstellung von „Streitkräf-
ten zur Verteidigung“ als verfassungsrechtliche Entscheidung positiv normiert hat,
bedeutet dies jedoch nicht, dass damit Grundrechte von Soldaten, zumal wenn sie
ohne Gesetzesvorbehalt gewährt sind, gegenüber dieser verfassungsrechtlichen Ent-
scheidung über die Aufstellung von „Streitkräften zur Verteidigung“ immer dann zu-
rücktreten müssten, wenn sich die Berufung auf das Grundrecht in den Augen der
jeweiligen Vorgesetzten als für die Bundeswehr „störend“ oder für den Dienstbetrieb
„belastend“ darstellt. Ferner ist zu beachten, dass sich der Verfassungsgeber (das
„Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt“), „von dem Willen beseelt,
als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu die-
nen“ (Präambel zum Grundgesetz), bewusst dafür entschieden hat, dass die „unver-
letzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“, mithin also auch das Grundrecht
der Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG), „Grundlage“ jeder menschlichen, also
auch der staatlichen „Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“
sein sollen (Art. 1 Abs. 2 GG). Indem der Verfassungsgeber sich in dieser Weise zu
- 112 -
den - im Grundgesetz im Einzelnen konkretisierten - Menschenrechten bekennt und
sie als Grundlage, d.h. als Voraussetzung und Basis seines Werks bezeichnet, ver-
steht er sie als seiner Verfassungsgebung vorausbestehend (so u.a. Robbers,
a.a.O., Art. 1 RNr. 72) oder jedenfalls als zentralen Richtpunkt und Maßstab der ver-
fassten Staatlichkeit. Die konkrete Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und Befug-
nisse durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und vollziehende Gewalt hat sich an
den grundrechtlichen Geboten und Vorgaben zu orientieren, nicht umgekehrt. Dies
gilt auch für die Streitkräfte. Das Grundgesetz normiert damit eine Bindung der
Streitkräfte an die Grundrechte, nicht jedoch eine Bindung der Grundrechte an die
Entscheidungen und Bedarfslagen der Streitkräfte. Es unterwirft die Grundrechte
keinem allgemeinen oder speziellen Vorbehalt hinsichtlich der Bedürfnisse der Bun-
deswehr.
Ohnehin unterliegen die Streitkräfte - im Gegensatz zum Grundrecht der Freiheit des
Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) - einem (einfachen) Gesetzesvorbehalt. Dies folgt
nicht nur aus Art. 20 Abs. 3 GG, sondern auch aus Art. 87a Abs. 1 Satz 2 GG. Da-
nach müssen sich die zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge der Organisation der
Bundeswehr aus dem Haushaltsplan, mithin aus dem Haushaltsgesetz ergeben.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind zudem „die auf die
Streitkräfte bezogenen Regelungen des Grundgesetzes ... - in den verschiedenen
Stufen ihrer Ausformung - stets darauf angelegt, die Bundeswehr nicht als Machtpo-
tential allein der Exekutive zu überlassen, sondern als ‚Parlamentsheer’ in die demo-
kratisch rechtsstaatliche Verfassungsordnung einzufügen, d.h. dem Parlament einen
rechtserheblichen Einfluss auf Aufbau und Verwendung der Streitkräfte zu sichern“
(Urteil vom 12. Juli 1994 - 2 BvE 3/92 u.a. - ). Anders als
das ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistete Grundrecht der Freiheit des Gewissens
(Art. 4 Abs. 1 GG) müssen die Streitkräfte damit von Verfassungs wegen einen weit-
gehenden Regelungsvorbehalt des einfachen Gesetzgebers respektieren, dem sie
unterworfen sind. Diese verfassungsrechtliche Entscheidung darf weder bei der Be-
stimmung der differenzierten Schutzbereiche der in Art. 4 Abs. 1 GG vorbehaltlos
gewährleisteten Grundrechte einerseits und der angeführten wehrrechtlichen Be-
stimmungen andererseits noch - bei einer im konkreten Einzelfall festgestellten „Kol-
lision“ - im Rahmen der Herstellung „praktischer Konkordanz“ missachtet werden.
- 113 -
Die Begriffe der „Einrichtung“ und „Funktionsfähigkeit“ der Bundeswehr, die, wie dar-
gelegt, ihrerseits als „Parlamentsheer“ in mehrfacher Hinsicht einem ausdrücklichen
Gesetzesvorbehalt unterliegt, dürfen mithin insbesondere nur unter Beachtung und
Wahrung der grundrechtlichen Regelungsgehalte, also „grundrechtskonform“ ausge-
legt und angewendet werden. Selbst im Verteidigungsfall ist die Bindung der Streit-
kräfte an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) sowie an „Gesetz und Recht“ (Art. 20
Abs. 3 GG) gerade nicht aufgehoben. Darin unterscheidet sich der im Grundgesetz in
Art. 115a ff. geregelte „Verteidigungsfall“ gerade von dem in früheren Verfassungs-
epochen vorgesehenen „Belagerungszustand“, der im Falle des „Krieges“ oder des
„Aufruhrs“ verhängt werden konnte (vgl. z.B. das Preuß. Gesetz über den Belage-
rungszustand vom 4. Juni 1851 , das bis 1918 als provisorisches
Reichsgesetz galt). Im „Belagerungszustand“ nach diesem Gesetz konnten die Streit-
kräfte ermächtigt werden, die Exekutivfunktionen der zivilen Behörden zu überneh-
men, außerordentliche Kriegsgerichte einzurichten und in die bürgerlichen Freiheits-
rechte einzugreifen (vgl. dazu u.a. H. Boldt, Rechtsstaat und Ausnahmezustand,
1967, S. 195 ff.). Im „Verteidigungsfall“ des Grundgesetzes können dagegen, wie
sich aus Art. 115c Abs. 2 GG ergibt, nur die dort ausdrücklich genannten Grundrech-
te (Art. 14 Abs. 3 Satz 2, Art. 104 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 1 GG) sowie gemäß
Art. 12a GG auch Art. 12 Abs. 1 GG eingeschränkt werden, dagegen - selbst in die-
sem Ausnahmefall - nicht die anderen Grundrechte und damit auch nicht der die
Würde des Menschen schützende Art. 1 GG und der die Gewissensfreiheit gewähr-
leistende Art. 4 Abs. 1 GG. Das Grundgesetz sieht auch im „Verteidigungsfall“ kein
generelles oder allgemeines Außerkraftsetzen oder Außeranwendunglassen oder
Zurücktreten der Grundrechte vor. Dies heißt zugleich: Besteht kein - nach der Ver-
fassung erklärter - „Verteidigungsfall“, greifen auch die dafür vorgesehenen Ein-
schränkungen von Grundrechten nicht. Dies gilt sowohl bei Einsätzen der Bundes-
wehr „zur Verteidigung“ (Art. 87a Abs. 2 GG) als auch bei Verwendungen auf der
Grundlage von Art. 24 Abs. 2 GG im Rahmen und nach den Regeln eines „Systems
gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ sowie auch sonst bei im Grundgesetz ausdrück-
lich zugelassenen Einsätzen (Art. 87a Abs. 2 i.V.m. Art. 35 Abs. 2 und 3, Art. 87a
Abs. 3 und 4 GG).
Es wäre deshalb - zumal außerhalb eines Einsatzfalles - verfassungsrechtlich ver-
fehlt, zunächst von den Streitkräften oder ihrer jeweiligen politischen Führung defi-
- 114 -
nierte Bedarfs-, Effektivitäts- oder Funktionsanforderungen heranzuziehen und diese
dann dem Grundrecht der Gewissensfreiheit gegenüber zu stellen und in einer „Ab-
wägung“ entgegen zu setzen. Zur Gewährleistung der „Funktionsfähigkeit einer wirk-
samen Landesverteidigung“ nach dem Grundgesetz gehört stets, sicherzustellen,
dass der von der Verfassung zwingend vorgegebene Schutz u.a. des Grundrechts
der Gewissensfreiheit nicht beeinträchtigt wird. Dies müssen nicht nur der Gesetzge-
ber und die Exekutive beachten. Auch die Gerichte haben dies bei der Auslegung
und Anwendung des Rechts zwingend zugrunde zu legen (Art. 1 Abs. 3 GG).
e) Allerdings steht die Berufung des Soldaten auf sein Grundrecht der Freiheit des
Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) gegenüber den ihm als Untergebenen am 7. April
2003 erteilten beiden Befehlen in einem Spannungsverhältnis zu Art. 65a GG, der
dem Bundesminister der Verteidigung die „Befehls- und Kommandogewalt“ über die
Streitkräfte zuweist. Diese beinhaltet freilich nicht, dass mit ihr auch die Befugnis ver-
bunden ist, vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte durch Akte der vollziehenden
Gewalt einzuschränken. Denn eine solche Befugnis steht nicht einmal dem Gesetz-
geber zu (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG). Beruft sich ein Soldat im konkreten Einzelfall ge-
genüber einem Befehl, der vom Inhaber der „Befehls- und Kommandogewalt“
(Art. 65a GG) oder in seinem Auftrag von einem militärischen Vorgesetzten erteilt
worden ist, auf sein Grundrecht der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG, so wird
die verfassungsrechtlich gewährleistete „Befehls- und Kommandogewalt“ nach
Art. 65a GG nicht aufgehoben oder auch nur in Frage gestellt. Denn es geht dabei
nur darum, dass bei ihrer Wahrnehmung und Ausübung die in der Verfassung, ins-
besondere in den Grundrechten normierten Verfassungsgebote eingehalten werden
müssen. Diese Rechtslage ergibt sich für alle Teile der vollziehenden Gewalt unmit-
telbar aus Art. 1 Abs. 3 GG, der zu den auch im Wege einer Verfassungsänderung
nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht abänderbaren „in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten
Grundsätze(n)“ gehört. Es ist mithin Bestandteil der Verfassung und damit auch der
in Art. 65a GG normierten „Befehls- und Kommandogewalt“, dass das durch die Ver-
fassung zwingend Vorgegebene sowohl bei der Befehlsgebung als auch bei der Be-
fehlsdurchsetzung beachtet werden muss. Insofern steht die durch Art. 65a GG ge-
währleistete „Befehls- und Kommandogewalt“ des Bundesministers der Verteidigung
- ebenso wie die von ihm auf militärische Vorgesetzte übertragene Befehlsgewalt -
unter einem verfassungsrechtlichen Ausübungsvorbehalt. Namentlich dürfen die sich
- 115 -
aus der Verfassung ergebenden strikten Bindungen an „Recht und Gesetz“ (Art. 20
Abs. 3 GG), an die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ (Art. 25 GG) und an die
Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) nicht zur Seite geschoben und durch „Abwägung“ in
ihrem Geltungsgehalt und -anspruch gelockert werden, auch wenn dies politisch oder
militärisch im Einzelfall unter Umständen zweckmäßig erscheinen mag. Im Einzelfall
sich daraus ergebende faktische Konflikte und Unzuträglichkeiten sind nach dem
Gebot der „praktischen Konkordanz“ zu lösen bzw. zu vermeiden. Dabei ist ein beide
Rechtspositionen in ihrem jeweiligen Regelungsbereich möglichst schonender Aus-
gleich anzustreben. Diese Aufgabe, widerstreitende Belange gegeneinander abzu-
grenzen, obliegt dabei in erster Linie dem Gesetzgeber (vgl. Beschluss vom
27. November 1990 - 1 BvR 402/87 - ). Nur insoweit, als
- verfassungsmäßige - gesetzliche Grenzziehungen nicht vorliegen, ist Raum für un-
umgängliche Abgrenzungen durch das angerufene zuständige Gericht.
Dabei ist im Wege der Herstellung „praktischer Konkordanz“ nach Lösungen zu su-
chen, die beide kollidierenden Schutzgüter möglichst wenig beeinträchtigen, also bei-
de zu optimaler Wirksamkeit kommen lassen (vgl. hierzu Konrad Hesse, a.a.O.). Im
Anwendungsbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) muss
angestrebt werden, den aufgetretenen Gewissenskonflikt unter Wahrung konkret
feststellbarer berechtigter Belange der Bundeswehr in einer Art und Weise zu
mildern und zu lösen, die die normierte „Unverletzlichkeit“ der Freiheit des Gewis-
sens nicht in Frage stellt, sondern gewährleistet.
Das erfordert ein konstruktives Mit- und Zusammenwirken beider Seiten.
Vom jeweiligen Soldaten kann erwartet werden, dass er seine Gewissensnöte seinen
zuständigen Vorgesetzten möglichst umgehend und nicht „zur Unzeit“ darlegt sowie
auf baldmöglichste faire Klärung der zugrunde liegenden Probleme dringt. Dies ergibt
sich nicht zuletzt aus seiner in § 7 SG normierten Pflicht, der Bundesrepublik
Deutschland „treu zu dienen“. Sie erfordert nach der ständigen Rechtsprechung des
erkennenden Senats von dem Soldaten, im Dienst und außerhalb des Dienstes zur
Funktionsfähigkeit der Bundeswehr als eines militärischen Verbandes beizutragen
und alles zu unterlassen, was die Bundeswehr in ihrem durch die Verfassung festge-
legten Aufgabenbereich schwächen könnte (vgl. u.a. Urteile vom 31. Juli 1996
- 116 -
- BVerwG 2 WD 21.96 -
= NZWehrr 1997, 117 = NJW 1997, 536 = NVwZ 1997, 395> und vom 28. Januar
2004 - BVerwG 2 WD 13.03 - m.w.N. sowie weitere Einzelnachweise bei
Scherer/Alff, a.a.O., § 7 RNr. 5).
Auf der anderen Seite sind seine militärischen Vorgesetzten gehalten, sich der vom
Soldaten geltend gemachten Gewissensentscheidung zu stellen. Sie dürfen diese
- schon im Hinblick auf ihre Fürsorgepflicht (§ 10 Abs. 3 SG) - weder negieren noch
lächerlich machen oder gar unterdrücken. Insoweit ist auch in diesem Zusammen-
hang an die dargelegte gefestigte Rechtsprechung des erkennenden Senats zu erin-
nern, der für Fälle, in denen Gewissensnöte gegenüber einem militärischen Befehl
u.a. aus völkerrechtlichen Normen hergeleitet oder darauf gestützt wurden, in seinen
oben im Einzelnen genannten Entscheidungen vom 17. Dezember 1992 - BVerwG
2 WD 11.92 - und vom 27. Januar 1993 - BVerwG 2 WD 23.92 - ausgeführt
hat:
„Die Bundeswehr muss sich solchen Anfragen stellen, die aus dem Gewis-
sen eines Soldaten kommen, und sollte eine derartige Persönlichkeit, die
unter den ethischen Problemen ihres Dienstes leidet, ermutigen, das, was
sie innerlich bedrückt, offen, gegebenenfalls auch ungeschützt zu artikulie-
ren (vgl. Beestermöller, Verantwortung wagen, Zweifel ertragen - Ethische
Aspekte der Menschenführung in der Bundeswehr, Information über die
Truppe, Heft 5, 1992, 16). Die Möglichkeit hierzu bietet § 33 SG, nach dem
die Soldaten staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Unterricht zu erhal-
ten haben und über ihre staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Pflichten
und Rechte im Frieden und im Kriege zu unterrichten sind.“
Notwendig ist in einem solchen Konfliktfall eine möglichst vollständige Information
des Soldaten über die konflikt-relevanten Tatsachen, vor allem die vom Soldaten be-
fürchteten tatsächlichen Auswirkungen der befohlenen Dienstleistung sowie die Kon-
sequenzen einer Nichtausführung des Befehls für die Streitkräfte oder sonstige
Schutzgüter. Dazu gehört ferner insbesondere auch eine möglichst objektive Unter-
richtung aller Beteiligten über die maßgebliche Rechtslage. Diese Unterrichtung
muss sich - grundrechtskonform - daran orientieren, wie ein gegebenenfalls mit der
Frage befasstes rechtsstaatliches Gericht die Sache voraussichtlich beurteilen wür-
de.
- 117 -
Hält der betroffene Soldat ungeachtet dessen daran fest, dass sein Gewissen ihm
die Ausführung des in Rede stehenden Befehls verbietet und ist dies im dargelegten
Sinn nachvollziehbar, muss ein für beide Seiten schonender Ausgleich angestrebt
werden.
Soweit der Gesetzgeber dem Soldaten Rechtsschutzmöglichkeiten eingeräumt hat,
kann er diese nutzen, um sein Grundrecht auf Gewissensfreiheit zu schützen. Im
Rahmen ihrer Fürsorgepflicht (§ 10 Abs. 3 SG) können Vorgesetzte ihrerseits gehal-
ten sein, auf diesen Weg zur Herbeiführung einer verbindlichen Klärung der aufge-
worfenen Fragen hinzuweisen. Denn aus der Fürsorgepflicht ergibt sich, dass jeder
Vorgesetzte grundsätzlich verpflichtet ist, den Untergebenen über seine Pflichten und
Rechte zu belehren und ihm gegebenenfalls auch Auskünfte zu erteilen (Beschluss
vom 23. April 1980 - BVerwG 1 WB 126.78 -
fentlicht>; Scherer/Alff, a.a.O., § 10 RNr. 29). In diesem Verfahren nach der Wehrbe-
schwerdeordnung kann dann gegebenenfalls gemäß §§ 17 ff. WBO durch das Trup-
pendienstgericht und - u.a. bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf Vor-
lage des Truppendienstgerichts (§ 18 Abs. 4 WBO) - durch den zuständigen Wehr-
dienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts gerichtlich geklärt werden, ob der dem
Soldaten erteilte Befehl aus den oben dargelegten Gründen unverbindlich ist oder je-
denfalls wegen der Schutzwirkung des Art. 4 Abs. 1 GG nicht befolgt zu werden
braucht. Gegen eine für ihn negative Entscheidung kann der Soldat anschließend
gegebenenfalls auch im Wege der Verfassungsbeschwerde das Bundesverfas-
sungsgericht anrufen.
Eine nach der Wehrbeschwerdeordnung gegen einen militärischen Befehl eingelegte
Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung. Der Soldat handelt mithin selbst bei
eingelegter Beschwerde dienstpflichtwidrig, wenn er gegenüber einem militärischen
Befehl keinen Gehorsam leistet, sofern dieser nicht unverbindlich ist, d.h. sofern kei-
ne Unverbindlichkeitsgründe eingreifen. Wenn der Soldat in einer solchen Situation
bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über seine Beschwerde den erteilten Be-
fehl aus Gewissensgründen unter Berufung auf Art. 4 Abs. 1 GG nicht befolgt, muss
die abschließende maßgebliche Entscheidung über die Verbindlichkeit oder Unver-
bindlichkeit des Befehls dann unter Umständen erst im Rahmen eines gerichtlichen
- 118 -
Disziplinarverfahrens getroffen werden, falls ein solches - wie im vorliegenden Fall -
eingeleitet worden ist.
Unterlässt der Soldat - etwa aus Unkenntnis oder wie hier aufgrund einzelner dabei
gemachter negativer Erfahrungen - die Beschreitung des Beschwerdeweges, macht
dies zwar einen unverbindlichen Befehl nicht zu einem verbindlichen. Er trägt jedoch
das nicht geringe Risiko, dass ein gerichtliches Disziplinarverfahren und unter Um-
ständen auch ein Strafverfahren wegen Gehorsamsverweigerung (§ 20 WStG) ge-
gen ihn eingeleitet wird. Dies macht im Übrigen deutlich, dass die Geltendmachung
eines Gewissenskonflikts und die Berufung auf Art. 4 Abs. 1 GG für Soldaten in der
Regel alles andere als einfach sind und demzufolge ein „Massenverschleiß“ des Ge-
wissens nicht zu erwarten steht. Der einzelne, individuell handelnde Soldat befindet
sich in einem solchen Konfliktfalle ohnehin regelmäßig in der Gefahr, sich im Kame-
radenkreis zu isolieren, zum Außenseiter abgestempelt zu werden oder sonst auf
Ablehnung in seinen beruflichen Sozialbeziehungen zu stoßen. In einem wegen Un-
gehorsam eingeleiteten Strafverfahren droht ihm darüber hinaus, zu einer Kriminal-
strafe verurteilt sowie daneben noch in einem gerichtlichen Disziplinarverfahren mit
einer empfindlichen Disziplinarmaßnahme belegt zu werden und in der Konsequenz
für seinen weiteren beruflichen Lebensweg bei Beförderungen, Verwendungsent-
scheidungen oder sonstigen Fördermaßnahmen erhebliche Nachteile hinnehmen zu
müssen.
Bis zu einer verbindlichen Klärung der angesprochenen Rechtsfragen durch das zu-
ständige Gericht sind die Vorgesetzten des Soldaten zur Herstellung „praktischer
Konkordanz“ zwischen der grundrechtlichen Gewährleistung und der militärischen
Bedarfslage („Funktionsfähigkeit“) gehalten zu prüfen, ob nach der jeweiligen Sach-
lage im konkreten Einzelfall von einer Durchsetzung des Befehls einstweilen Abstand
genommen und dem Soldaten eine gewissenschonende Handlungsalternative ange-
boten werden kann (z.B. anderweitige Verwendung, Wegkommandierung, Verset-
zung o.ä.). Dies gebietet im Übrigen schon die in § 10 Abs. 3 SG verankerte Fürsor-
gepflicht. Aufgrund der dort normierten Fürsorgepflicht hat jeder Vorgesetzte den Un-
tergebenen nach Recht und Gesetz zu behandeln. Die Vorschrift verpflichtet den
Vorgesetzten darüber hinaus, von seinen Befugnissen unter angemessener Berück-
sichtigung der persönlichen Belange des Untergebenen Gebrauch zu machen. Er
- 119 -
muss sich bei allen Handlungen vom Wohlwollen dem Untergebenen gegenüber lei-
ten lassen und stets bemüht sein, diesen vor Nachteilen und Schäden zu bewahren
(stRspr.: vgl. u.a. Urteile vom 6. Juli 1976 - BVerwG 2 WD 11.76 -
178 [181]>, vom 13. Februar 2003 - BVerwG 2 WD 33.02 -
WDO Nr. 1 = NVwZ-RR 2003, 574>, vom 27. Januar 2004 - BVerwG 2 WD 2.04 -
m.w.N., vom 19. Februar
2004 - BVerwG 2 WD 14.03 -
2002 Nr. 16 = NZWehrr 2004, 209> und vom 16. März 2004 - BVerwG 2 WD 3.04 -
213>).
Diesen rechtlichen Anforderungen zur Herstellung „praktischer Konkordanz“ zwi-
schen dem Anspruch des Soldaten auf Beachtung seines Grundrechts auf Gewis-
sensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) und der Gestaltung des konkreten Dienstbetriebes
entsprach der Umgang der zuständigen Vorgesetzten mit dem Soldaten bis zu seiner
am 8. April 2003 erfolgten Ablösung von seinen in Rede stehenden Dienstaufgaben
im S. nicht.
Der Zeuge P. hat zwar, unmittelbar nachdem er von den vom Soldaten erhobenen
Bedenken hinsichtlich des möglichen Zusammenhangs zwischen der Tätigkeit im IT-
Projekt SASPF einerseits und Unterstützungsleistungen der Bundeswehr zugunsten
der USA und des UK im Irak-Krieg andererseits Kenntnis erhalten hatte, in seiner
Eigenschaft als ChdSt S. und (damaliger) Disziplinarvorgesetzter zu Recht veran-
lasst, dass der (damalige) Leitende Rechtsberater des S., der Zeuge S., ein klären-
des Gespräch mit dem Soldaten über „die rechtlichen Hintergründe“ und die mögli-
chen Folgen seines Verhaltens führt. Dabei war ihm - wie er als Zeuge in der Beru-
fungshauptverhandlung vor dem Senat ausdrücklich bekundet hat - bewusst, dass
sich der Soldat in einem schwerwiegenden Gewissenskonflikt befand. Der Soldat
stand für das Gespräch mit dem Leitenden Rechtsberater auch sofort zur Verfügung
und war seinerseits an einer umgehenden ernsthaften Klärung der von ihm aufge-
worfenen Fragen intensiv interessiert und darum bemüht. Diese berechtigten Erwar-
tungen des Soldaten wurden nach den vom Senat getroffenen Feststellungen jedoch
nicht erfüllt. Über den Inhalt dieses Gesprächs, insbesondere über den Umfang der
rechtlichen Beratung und Belehrung durch den Leitenden Rechtsberater, haben der
- 120 -
Zeuge S. und der Soldat zwar zunächst unterschiedliche Darstellungen abgegeben.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme durch den Senat hat es sich jedoch letzt-
lich als feststehend herausgestellt, dass der Zeuge S. den Soldaten in diesem etwa
zehnminütigen Gespräch nicht, wie von dem Soldaten erbeten, über die völkerrecht-
lichen Aspekte des Irak-Konflikts informierte und es strikt ablehnte, insoweit in eine
rechtliche Erörterung einzutreten. Der Zeuge S. hat vor dem Senat ausgesagt und
dies auf Nachfrage mehrfach wiederholt, für diesen Rechtsbereich habe ihm die er-
forderliche fachliche Kompetenz gefehlt. Er sei in völkerrechtlichen Fragen nicht aus-
gebildet. Ihm hätten die notwendigen Erkenntnisquellen nicht zur Verfügung gestan-
den. Ihm sei auch der Inhalt der vom Bundesminister der Verteidigung herausgege-
benen ZDv 15/2 („Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten“) nicht geläufig.
Abgesehen davon sei er als Leitender Rechtsberater des S. ohnehin nicht dazu da
gewesen, einzelne Soldaten in völkerrechtlichen Fragen zu beraten und zu belehren.
Der Zeuge S. verkennt in diesem Zusammenhang allerdings, dass er ausweislich der
glaubhaften Erklärung des Zeugen P., die dieser in der Berufungshauptverhandlung
vor dem Senat abgegeben hat, von diesem gerade um eine solche rechtliche Bera-
tung und Belehrung des Soldaten gebeten worden war und sich damit auch diesem
gegenüber einverstanden erklärt hatte. Es handelte sich dabei nicht um die Wahr-
nehmung einer fachfremden Aufgabe. Denn die Beratung des Kommandeurs und der
diesem unterstellten Disziplinarvorgesetzten in allen Fragen des Wehrrechts und des
Völkerrechts sowie die rechtliche Mitprüfung von Befehlen und Anweisungen gehört
zu den Aufgaben eines Rechtsberaters (Nr. 146 ZDv 15/2). Die Beweisaufnahme hat
nicht ergeben, dass der Zeuge P. lediglich um eine eingeschränkte rechtliche Bera-
tung und Belehrung unter Außerachtlassung völkerrechtlicher Gesichtspunkte als
Gegenstand des von ihm veranlassten Rechtsgesprächs gebeten hatte. Die Einlas-
sung des Soldaten, er sei entgegen seinen eigenen und den durch den Zeugen P.
bei ihm geweckten Erwartungen durch den Leitenden Rechtsberater nicht im erbete-
nen Maße umfassend über die von ihm aufgeworfenen Fragen und Probleme belehrt
worden, ist daher nachvollziehbar und für den Senat glaubhaft.
Auch sonst hat nach den Feststellungen des Senats im hier in Rede stehenden Zeit-
raum nach Beginn des Irak-Krieges und der öffentlichen Debatten über die Zulässig-
keit der von der Bundesregierung zugesagten Unterstützungsleistungen keine Unter-
richtung jedenfalls der Angehörigen der IT-Abteilung des S. über die maßgeblichen
- 121 -
soldaten-, verfassungs- und völkerrechtlichen Fragen stattgefunden. Dies hat der
Soldat in der Berufungshauptverhandlung glaubhaft dargelegt, ohne dass dies von
einem anderen Verfahrensbeteiligten in Zweifel gezogen worden ist. Der Leiter der
IT-Abteilung im S., der Zeuge M., hat die diesbezüglichen Einlassungen des Solda-
ten der Sache nach ausdrücklich bestätigt und bekundet, dass auch in der Folgezeit
für eine Unterrichtung kein hinreichend großer Versammlungsraum zur Verfügung
gestanden habe.
Auch das „Punktations-Papier“, das nach Aussage des Zeugen S. ihm, dem Zeugen,
von der zuständigen Stelle des Bundesministeriums der Verteidigung auf Anforde-
rung kurzfristig übermittelt wurde und das ihm als Grundlage für das Gespräch mit
dem Soldaten diente, enthielt keine Hinweise oder Erläuterungen zu den völkerrecht-
lichen Fragen des Irak-Konflikts. In ihm werden lediglich die „Zusagen“ der Bundes-
regierung gegenüber „den USA und Großbritannien“ im Zusammenhang mit dem
Irak-Krieg skizziert. Auf insgesamt einer Seite wird des Weiteren ausgeführt, die
Bundesregierung habe mit ihren „Zusagen“ angesichts des jahrzehntelangen „solida-
rischen Verhaltens“ der Partner ihren „politischen Verpflichtungen“ Rechnung getra-
gen; die Frage, ob zur Legitimation „von militärischen Zwangsmaßnahmen“ gegen
den Irak eine weitere Resolution des UN-Sicherheitsrats erforderlich sei, sei bei der
Verabschiedung der Resolution 1441 (2002) „bewusst offen gelassen“ worden; „vor
diesem Hintergrund“ werde die Bundesregierung „ihrer Verpflichtung zur Solidarität“
mit ihren Partnern im Geiste des NATO-Vertrages und der daraus abzuleitenden „po-
litischen Verpflichtungen“ weiter nachkommen. Das „Punktations-Papier“ beschränkt
sich damit auf eine ausschließlich politische Argumentation. Es nimmt von einer Dar-
legung des Ergebnisses (und der dafür maßgeblichen Gründe) ihrer Prüfung der
rechtlichen Voraussetzungen des Krieges sowie ihrer damit im Zusammenhang ste-
henden Unterstützungsleistungen Abstand. Angesichts der oben dargelegten gravie-
renden völkerrechtlichen Bedenken gegen die Führung und Unterstützung des Krie-
ges gegen den Irak und der darüber in der Öffentlichkeit und im Fachschrifttum ge-
führten Debatten bestand hierzu jedoch jedenfalls im Hinblick auf die vorgesehene
Verwendung des „Punktations-Papiers“ durch Rechtsberater in diesbezüglichen Kon-
fliktfällen besondere Veranlassung. Auf die durch die in Rede stehenden Unterstüt-
zungsleistungen der Bundeswehr im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg entstande-
nen schwerwiegenden rechtlichen Probleme hat zu Recht jüngst auch Dreist in sei-
- 122 -
nem in der Zeitschrift „Bundeswehrverwaltung“ erschienenen Beitrag „50 Jahre Bun-
deswehr - Rahmenbedingungen für Einsätze im Ausland im Spannungsfeld zwischen
Politik und Recht - Teil II -“ (Heft 3 März 2005, S. 49 ff. [59]) hingewiesen, und sich
unter Bezugnahme auf die einschlägige Fachliteratur wie folgt geäußert:
„Entgegen allen öffentlichen Äußerungen ist auch die Lage der Bundesre-
publik während des III. Golf-Konflikts durchaus als heikel anzusehen: Sie
kann insbesondere aufgrund der aktiven Unterstützung der Aufmarschbe-
mühungen der USA und ihrer Verbündeten und der Erlaubnis für diese, die
Militärflugplätze in Deutschland für den Aufmarsch und die Versorgung
sowie die Durchführung der Kampfeinsätze als Landebasen zu nutzen,
sowie aufgrund der Nicht-Inhaftierung zurückkehrender Soldaten der Ver-
bündeten, die sich aktiv an Kampfhandlungen beteiligt hatten, aus völker-
rechtlicher Sicht als Partei des Konflikts betrachtet werden, die sich durch
diese Handlungen ihres neutralen Status in diesem Konflikt begeben hat-
te“.
Die hinreichende Klärung dieser Fragen im vorliegenden Falle war auch ein Gebot
der Fürsorgepflicht (§ 10 Abs. 3 SG), die jedem militärischen Vorgesetzten gegen-
über seinen Untergebenen obliegt und der im militärischen Über- und Unterord-
nungsverhältnis angesichts der damit verbundenen Konsequenzen und Risiken be-
sondere Bedeutung zukommt. Sie steht neben der Fürsorgepflicht des Dienstherrn
(§ 31 SG) und verlangt, den Untergebenen vor Nachteilen und Schäden zu bewah-
ren (vgl. die Einzelnachweise bei Scherer/Alff, a.a.O., § 10 RNr. 21). Die Fürsorge-
pflicht kann es auch erfordern, einen Soldaten auf die Möglichkeit hinzuweisen, ge-
gebenenfalls einen Anwalt seines Vertrauens zu konsultieren. Der Zeuge P. hat dies
in seiner Eigenschaft als (damaliger) Disziplinarvorgesetzter des Soldaten nach dem
Ergebnis der Berufungshauptverhandlung auch getan. Im vorliegenden Falle reichte
dies angesichts der Komplexität der einschlägig relevanten soldaten-, verfassungs-
und völkerrechtlichen Fragen sowie der Ungewissheiten über die konkreten Auswir-
kungen des IT-Projekts SASPF auf den im Frühjahr 2003 begonnenen und in seiner
Dauer nicht abschätzbaren Irak-Krieg sowie die damit im Zusammenhang stehenden
Unterstützungsleistungen der Bundeswehr nicht aus. Weder die Bundeswehrführung
noch die zuständigen militärischen Vorgesetzten durften sich der hinreichenden Klä-
rung dieser Fragen gerade auch aus Fürsorgegründen gegenüber den ihnen unter-
stellten Soldaten entziehen und es unterlassen, daraus die gebotenen Konsequen-
zen zu ziehen.
- 123 -
Im vorliegenden Falle ist allerdings der vom Soldaten unter Berufung auf sein Grund-
recht der Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) beanspruchte und auch gebote-
ne konkrete gewissenschonende Konfliktausgleich von den zuständigen Stellen am
7./8. April 2003 herbeigeführt worden. Dies geschah durch die mit Einverständnis
des Soldaten erfolgte anderweitige Verwendung ab dem 8. April 2003 im S. und spä-
ter dann durch Kommandierung und Versetzung des Soldaten an das S.amt in M.
Diese Personalmaßnahmen waren - wie der Soldat ausdrücklich bestätigt hat - dis-
kriminierungsfrei. Sie entsprachen im Ergebnis den verfassungsrechtlichen Vorgaben
und insbesondere dem Gebot der Herstellung „praktischer Konkordanz“. Dies wird
nicht zuletzt auch dadurch belegt, dass sie nach den vom Senat in der Berufungs-
hauptverhandlung getroffenen Feststellungen von allen Beteiligten zwischenzeitlich
als sachgerecht empfunden werden, auch wenn der Soldat aufgrund seiner Fach-
kenntnisse im S. zunächst als schwer entbehrlich erschien.
4.1.6 Angesichts dessen kann und muss mangels Entscheidungserheblichkeit im
vorliegenden Verfahren offen bleiben, ob die verweigerte und unterbliebene Ausfüh-
rung der dem Soldaten am 7. April 2003 erteilten beiden Befehle (Anschuldigungs-
punkt 2) auch deshalb nicht gegen § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 SG verstieß, weil die
Ausführung dieser Befehle aus den vom Soldaten angeführten Gründen (teilweise)
nicht-dienstlichen Zwecken gedient hätte. Darauf kommt es nach alledem nicht mehr
an.
Aus dem gleichen Grunde kann und muss hier auch offen bleiben, ob die Erbringung
der von dem Soldaten am 7. April 2003 geforderten Dienstleistungen tatsächlich
- wie er befürchtete - konkret und kausal der Vorbereitung oder gar Führung eines
Angriffskrieges im Sinne des Art. 26 Abs. 1 Satz 1 GG gedient hätte und/oder ob er
damit einen Verstoß gegen die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ (Art. 25 GG)
bewirkt oder jedenfalls dazu beigetragen hätte.
4.2 Das von Anschuldigungspunkt 2 erfasste Verhalten des Soldaten stellte auch kei-
ne Verletzung seiner Pflicht zum treuen Dienen (§ 7 SG) dar.
Die Einschränkung oder Verweigerung der Bereitschaft zur Dienstleistung ist dann
nicht als schuldhafte Dienstpflichtverletzung im Sinne von § 7 SG zu qualifizieren,
- 124 -
wenn ein erteilter Befehl unverbindlich ist (vgl. Urteil vom 31. Juli 1996 - BVerwG
2 WD 21.96 -
1997, 117 = NJW 1997, 536 = NVwZ 1997, 395>) oder der betroffene Soldat ihn aus
rechtlichen Gründen nicht zu befolgen braucht. Der Soldat hat hier die ihm erteilten
beiden Befehle nicht ausgeführt, die er aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht
auszuführen brauchte, weil er aufgrund der Schutzwirkung des Grundrechts der
Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) einen Anspruch darauf hatte, dass ihm
durch seine zuständigen Vorgesetzten eine gewissenschonende Handlungsalternati-
ve zur Verfügung gestellt wird. Da er berechtigt war, gegenüber den konkret in Rede
stehenden beiden Befehlen den Gehorsam zu verweigern, konnte er insoweit auch
nicht die Pflicht zur gewissenhaften Dienstleistung verletzen. Darüber hinaus hatte er
sich von seinen Dienstpflichten als Soldat nicht losgesagt und auch seine Loyalität
gegenüber dem Dienstherrn nicht aufgekündigt oder in Frage gestellt. Namentlich hat
er nicht für sich in Anspruch genommen, seine Dienstleistungspflicht nach eigenen
rechtsfreien Maßstäben zu handhaben. In der Berufungshauptverhandlung hat er
glaubhaft ausdrücklich bekundet, er stehe in der soldatischen Pflicht, seine dienstli-
chen Aufgaben fortwährend zu erfüllen, gegebenenfalls auch in einem - verfassungs-
mäßigen - Auslandseinsatz.
4.3 Der Soldat hat mit seinem von Anschuldigungspunkt 2 erfassten Verhalten auch
nicht gegen seine Pflicht als Vorgesetzter zur Dienstaufsicht aus § 10 Abs. 2 SG ver-
stoßen. Die Dienstaufsichtspflicht ist die Pflicht zur Überwachung der Untergebenen,
so dass diese zur treuen Pflichterfüllung angehalten werden (vgl. u.a. Urteile vom
6. Juli 1976 - BVerwG 2 WD 11.76 - und vom 17. Oktober
2000 - BVerwG 2 WD 12, 13.00 -
2343>). Für den vorliegenden Fall ist kennzeichnend, dass dem Soldaten am 7. April
2003 zwei Weisungen zu einem bestimmten Verhalten mit dem Anspruch auf Gehor-
sam und damit als Befehle erteilt wurden, die die Folge eines konkreten, vom Vorge-
setzten missbilligten Verhaltens des Soldaten waren. Da insoweit eine Pflichtverlet-
zung nicht vorlag, ist auch nicht ersichtlich, dass der Soldat in diesem Zusammen-
hang seine aus den erteilten Befehlen resultierende Pflicht zur Dienstaufsicht verletzt
hätte.
- 125 -
4.4 Der Soldat hat ferner nicht gegen seine Pflicht zur Durchsetzung eigener Befehle
(§ 10 Abs. 5 Satz 2 SG) verstoßen, weil die Durchsetzung eines dem Soldaten erteil-
ten und aufgrund der Schutzwirkung des Art. 4 Abs. 1 GG nicht auszuführenden Be-
fehls nicht von § 10 Abs. 5 Satz 2 SG erfasst wird.
4.5 Schließlich hat der Soldat mit seinem von Anschuldigungspunkt 2 erfassten Ver-
halten auch nicht seine Pflicht zur innerdienstlichen Achtungs- und Vertrauenswah-
rung nach § 17 Abs. 2 Satz 1 SG verletzt. Für die Feststellung eines Verstoßes ge-
gen die Vorschrift kommt es - ungeachtet der im Hinblick auf ihre relative Unbe-
stimmtheit bestehenden, hier aber nicht entscheidungsrelevanten verfassungsrechtli-
chen Bedenken - nach der Rechtsprechung des Senats nicht darauf an, ob eine An-
sehensschädigung im konkreten Fall tatsächlich eingetreten ist. Es reicht vielmehr
aus, dass das Verhalten eines Soldaten geeignet war, eine ansehensschädigende
Wirkung auszulösen (stRspr.: vgl. u.a. Beschluss vom 12. Oktober 1993 - BVerwG
2 WDB 15.92 - m.w.N.; Urteile vom 6. De-
zember 1998 - BVerwG 2 WD 11.88 -
und vom 29. Oktober 2002 - BVerwG 2 WD 9.03 -
235.01 § 38 WDO 2002 Nr. 13>). Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit eines Solda-
ten können durch sein Verhalten schon dann Schaden nehmen, wenn dieses Zweifel
an seiner Zuverlässigkeit weckt oder seine Eignung für die jeweilige Verwendung in
Frage stellt (vgl. Urteil vom 2. April 1974 - BVerwG 2 WD 5.74 -
[248] = NZWehrr 1975, 69 [71 f.]). Dies war hier nicht der Fall. Die Einschränkung
seiner Dienstleistungsbereitschaft bezog sich lediglich auf die beiden hier in Rede
stehenden Befehle vom 7. April 2003 hinsichtlich seiner Mitwirkung am IT-Projekt
SASPF im S., die er - wie oben dargelegt - aufgrund der Schutzwirkung des Grund-
rechts der Freiheit des Gewissens (Art. 4 Abs. 1 GG) nicht befolgen musste, da er
Anspruch auf eine gewissenschonende Handlungsalternative hatte, die ihm schließ-
lich auch zur Verfügung gestellt wurde. Sein Verhalten lässt ihm Übrigen keinerlei
Rückschlüsse auf ein mangelhaftes und unzureichendes Pflichtenverständnis oder
auf eine fehlende Gesetzes- und Rechtstreue zu.
Der Soldat war daher auch von Punkt 2 der Anschuldigungsschrift insgesamt freizu-
stellen sowie mithin in vollem Umfange von dem Vorwurf eines Dienstvergehens frei-
- 126 -
zusprechen, da ihm ein schuldhaftes Fehlverhalten gemäß § 23 Abs. 1 SG nicht
nachzuweisen war.
5. Da der Soldat freigesprochen wurde, waren gemäß § 138 Abs. 3 und 4 WDO die
Kosten beider Rechtszüge und gemäß § 140 Abs. 1 WDO die ihm darin erwachse-
nen notwendigen Auslagen dem Bund aufzuerlegen.
Prof. Dr. Widmaier Dr. Frentz Dr. Deiseroth