Urteil des BVerwG vom 24.03.2010

Mangel des Verfahrens, Soldat, Disziplinarverfahren, Kaserne

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 WD 10.09
TDG N 4 VL 22/08
In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren
g e g e n
Herrn Hauptmann a.D.
hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Golze,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Langer
am 24. März 2010 beschlossen:
Auf die Berufung des früheren Soldaten wird das Urteil der
4. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 2.
Dezember 2008 aufgehoben.
Die Sache wird zur nochmaligen Verhandlung und
Entscheidung an eine andere Kammer des
Truppendienstgerichts Nord zurückverwiesen.
- 2 -
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt
der Schlussentscheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der ... alte frühere Berufssoldat, ..., wurde zuletzt mit Urkunde vom ... zum
Hauptmann befördert. Bis zu seiner Krankschreibung ... war er ... in B.
eingesetzt. Mit Ablauf des ... ist er in den Ruhestand getreten.
II
1. Mit Anschuldigungsschrift vom 25.
April 2008 hat die
Wehrdisziplinaranwaltschaft für den Bereich des Heeresamtes dem früheren
Soldaten folgende schuldhafte Dienstpflichtverletzungen zur Last gelegt:
„1. Der Soldat hat am 28.08.2004 gegen 13.00 Uhr,
vermutlich an seinem Wohnort in W., ..., unter dem bei
AOL Germany seiner Person zugeordneten Namen ‚...’,
fünf E-Mails an den einer anderen Person zugeordneten
AOL-Namen ‚...’ gesendet, die die auf Blatt 19 und Blatt 21
bis Blatt 31 der Strafakte der Staatsanwaltschaft H. zu ...
abgedruckten 17 Bilddateien beinhalteten, obwohl er
zumindest hätte erkennen können und müssen, dass in
den Bilddateien dem äußeren Anschein nach Kinder bei
der Vornahme sexueller Handlungen an sich selbst, an
anderen Personen oder unter bildlich betonter
Hervorhebung ihrer Geschlechtsteile dargestellt sind.
2. Am 27.06.2005 hat er, vermutlich erneut an seinem
Wohnort, unter dem bei AOL seiner Person zugeordneten
Namen ‚...’, mit seinem Computer ..., und dem E-
Mailprogramm ‚AOL’, eine E-Mail an den einer anderen
Person zugeordneten AOL-Namen ‚...’ gesendet, die die
im Beweismittelheft der Staatsanwaltschaft H. zum oben
angegebenen Aktenzeichen auf Bl. 59-61 abgedruckten 3
Bilddateien mit dem Empfänger ‚...’ beinhaltete, obwohl er
zumindest hätte erkennen können und müssen, dass in
den Bilddateien dem äußeren Anschein nach Kinder bei
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der Vornahme sexueller Handlungen an sich selbst oder
unter bildlich betonter Hervorhebung ihrer
Geschlechtsteile dargestellt sind.
3. Am 04.07. und 05.07.2005 hat er, vermutlich wiederum
an seinem Wohnort, unter Nutzung seines o.a. Computers
und des Kommunikationsprogramms ‚NetMeeting’,
nachfolgend aufgeführte Bilddateien von
Kommunikationsteilnehmern (sog. ‚Chat-Teilnehmer’)
erhalten und auf seinem Rechner abgespeichert, obwohl
er zumindest hätte erkennen können und müssen, dass in
den Bilddateien dem äußeren Anschein nach Kinder bei
der Vornahme sexueller Handlungen an sich selbst, an
anderen Personen oder unter bildlich betonter
Hervorhebung ihrer Geschlechtsteile und in mindestens
einem Fall ein Erwachsener bei der Vornahme sexueller
Handlungen an einem dem äußeren Anschein nach Kind
dargestellt sind, und zwar
a) am 04.07.2005 die in dem Beweismittelheft der
Staatsanwaltschaft H. zum oben angegebenen
Aktenzeichen auf Bl. 16-25 abgedruckten 18
Bilddateien und
b) am 05.07.2005 die in dem Beweismittelheft auf Bl. 15
abgedruckten 2 Bilddateien.
4. Er hat zumindest am 07.07.2005, die im oben
angegebenen Beweismittelheft der Staatsanwaltschaft H.
abgedruckten 107 Bilddateien, obwohl er zumindest hätte
erkennen können und müssen, dass in den Bilddateien
dem äußeren Anschein nach Kinder bei der Vornahme
sexueller Handlungen an sich selbst, an anderen
Personen oder unter bildlich betonter Hervorhebung ihrer
Geschlechtsteile oder Erwachsene bei der Vornahme
sexueller Handlungen an dem äußeren Anschein nach
Kindern dargestellt sind und obwohl er zumindest hätte
wissen können und müssen, dass sich die Bilddateien auf
der Festplatte seines oben angegebenen Computers
befinden, gegen 7.00 Uhr in den Bereich ... in B.
eingebracht, bis sein Computer dort am 07.07.2005 gegen
09.00 Uhr im Rahmen einer Durchsuchung durch die
Polizei ... beschlagnahmt wurde.
Durch sein Verhalten hat der Soldat die ihm obliegenden
Dienstpflichten verletzt,
- der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen (zu Ziffer
5. des Tatvorwurfs),
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- der Achtung und dem Vertrauen gerecht zu werden, die
sein Dienst als Soldat erfordert (zu Ziffer 5. des
Tatvorwurfs) und
- sich außer Dienst, außerhalb der dienstlichen
Unterkünfte und Anlagen so zu verhalten, dass er die
Achtung und das Vertrauen, die seine dienstliche
Stellung erfordert, nicht ernsthaft beeinträchtigt (zu Ziffer
1. bis 4. des Tatvorwurfs)
wobei er als Vorgesetzter in Haltung und Pflichterfüllung
ein schlechtes Beispiel gegeben hat.
Dienstvergehen nach § 23 Abs. 1 Soldatengesetz (SG) in
Verbindung mit § 7, 17 Abs. 2 Satz 1 und 2 SG unter den
erschwerenden Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 SG.“
2. Das gegen den früheren Soldaten geführte sachgleiche Strafverfahren
„wegen Bezug und Besitz von Kinderpornografie gemäß § 184b Abs. 4 StGB“
wurde durch die Staatsanwaltschaft H. nach Zahlung eines Betrages von 3.000
€ an den Deutschen Kinderschutzbund am 2. März 2009 gemäß § 153a Abs. 1
StPO endgültig eingestellt.
3. Auf der Grundlage der Anschuldigungsschrift vom 25. April 2008 hat die 4.
Kammer des Truppendienstgerichts Nord durch Urteil vom 2. Dezember 2008
gegen den damals noch aktiven Soldaten ein Beförderungsverbot für die Dauer
von 48 Monaten verhängt und zugleich seine Dienstbezüge für die Dauer von
fünf Jahren um ein Zwanzigstel gekürzt. Dabei hat die Kammer u.a. festgestellt,
dass im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen der Kreispolizeibehörde S.
gegen einen Dritten der Soldat als Empfänger und Versender von
elektronischer Post mit kinderpornografischen Bilddateien identifiziert worden
sei. Am 7. Juli 2005 sei deshalb eine richterlich angeordnete Durchsuchung
seines Wohnhauses ... und - da sich der Soldat zu diesem Zeitpunkt bereits an
seinem Dienstort aufgehalten habe - seines Kraftfahrzeugs in der ... in B.
erfolgt. In seinem Kraftfahrzeug sei ein privater tragbarer Computer
aufgefunden worden; die Auswertung des Datenspeichers habe zum Auffinden
von mehr als 100 der im Tatvorwurf benannten kinderpornografischen Dateien
geführt, die der Soldat entweder besessen oder im angeschuldigten Umfang
auch an Dritte weitergegeben habe. Der Soldat habe sämtliche Vorwürfe
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eingeräumt. Nach den überzeugenden Ausführungen des medizinischen
Sachverständigen sei dem Soldaten für das ihm vorgeworfene Fehlverhalten
eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB
zuzubilligen.
Die Truppendienstkammer hat das festgestellte Fehlverhalten des damals
aktiven Soldaten als vorsätzliche Verletzung seiner soldatischen Pflicht
gewertet, sich so zu verhalten, dass er der Achtung und dem Vertrauen gerecht
werde, die sein Dienst als Soldat erfordere (§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG). Wer sich
als Soldat Kinderpornografie verschaffe, diese auf dem Rechner speichere, sie
wenigstens vorübergehend in der Kaserne aufbewahre und schließlich sogar an
Dritte weitergebe, schädige durch diese Handlungen, die strafrechtlich als
„Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer Schriften“ gemäß § 184b
StGB zu qualifizieren seien und demnach kriminelles Unrecht darstellten, seine
eigene innerdienstliche Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit. Er habe ein
Dienstvergehen im Sinne des § 23 Abs. 1 SG begangen und hafte dafür als
Vorgesetzter, der in Haltung und Pflichterfüllung ein schlechtes Beispiel
gegeben habe, gemäß § 10 Abs. 1 SG verschärft.
Im Rahmen der Bemessungserwägungen hat das Truppendienstgericht u.a.
mildernd berücksichtigt, dass es sich weitestgehend um ein außerdienstliches
Fehlverhalten handele, welches sich - was den Erwerb und die Weitergabe
entsprechenden Bildmaterials anbelange - ausschließlich in der Privatsphäre
des Soldaten abgespielt und andere Soldaten nicht in den Kreis der Beteiligten
einbezogen habe. Es seien keine dienstlichen Mittel oder Einrichtungen
verwendet worden. Das Fehlverhalten des Soldaten sei auch im
Kameradenkreis nicht weiter bekannt geworden. Dass der Soldat das
Bildmaterial in seinem Fahrzeug vorübergehend auf dem Kasernenparkplatz
gelagert habe, sei mehr dem Umstand geschuldet gewesen, dass er den
Rechner nicht unbeaufsichtigt zu Hause habe lassen wollen, als seinem
Bestreben, entsprechende Aktivitäten in den dienstlichen Bereich zu tragen.
4. Gegen das ihm am 20. Dezember 2008 zugestellte Urteil hat der frühere
Soldat durch seinen Verteidiger am 19. Januar 2009 Berufung eingelegt mit
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dem Antrag, das gerichtliche Disziplinarverfahren unter Feststellung eines
Dienstvergehens einzustellen. Zur Begründung macht er im Wesentlichen
geltend:
Einzige Ursache des Dienstvergehens sei sein „nervenaufreibendes
jahrelanges Doppelleben“ gewesen. Als er im Jahr 2003 erfahren habe, dass
ihn sein „Freund betrüge“, habe er mehrere Nervenzusammenbrüche und
Weinkrämpfe erlitten und wiederholt vor der Entscheidung gestanden, sich das
Leben zu nehmen. Um sich von den schlimmsten Depressionen abzulenken,
sei es zum kritiklosen anonymen Konsum von Pornografie im Internet
gekommen. Zudem sei bei der Hausdurchsuchung nur eine vergleichsweise
geringe Anzahl kinderpornografischer Dateien aufgefunden worden.
Dementsprechend sei wegen des äußerst geringen Verschuldens das
Strafverfahren gegen Zahlung von 3.000 € eingestellt worden. Er, der Soldat,
habe über einen sehr langen Zeitraum seine Pflichten vorbildlich erfüllt. Das
Truppendienstgericht habe zu Recht festgestellt, dass sich das Dienstvergehen
ausschließlich in seiner Privatsphäre abgespielt habe, d.h. andere Soldaten
nicht in den Kreis der Beteiligten einbezogen worden seien. Er bedauere sein
Fehlverhalten außerordentlich.
Auf den gerichtlichen Hinweis, dass es sich wohl um eine „auf die
Disziplinarmaßnahme beschränkte Berufung“ handele, hat der Verteidiger mit
Schriftsatz vom 4. Juni 2009 mitgeteilt, dass sich die Berufungsbegründung
gegen die erstinstanzliche Bemessung der Disziplinarmaßnahme richte. Die
Feststellung eines Dienstvergehens werde nicht angegriffen; es sei allerdings
nur fahrlässig begangen worden. Der frühere Soldat habe nicht beabsichtigt
gehabt, den privaten Laptop innerhalb der Kaserne zu benutzen. Er habe
damals einfach nur vergessen gehabt, ihn zu Hause aus dem Kofferraum zu
nehmen. Von einem absichtlichen und damit vorsätzlichen Einführen von
Dateien auf das Gelände der Bundeswehr könne keine Rede sein.
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- 7 -
Die vom früheren Soldaten eingelegte Berufung hat Erfolg und führt zur
Zurückverweisung der Sache an eine andere Kammer des
Truppendienstgerichts Nord zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung,
weil ein schwerer Mangel des Verfahrens vorliegt (§ 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO).
Die Entscheidung ergeht durch Beschluss außerhalb der Hauptverhandlung (§
120 Abs. 1 WDO) in der Besetzung mit drei Richtern (§ 80 Abs. 3 Satz 1
Halbsatz 2 WDO). Den Beteiligten ist gemäß § 120 Abs. 2 WDO vor der
Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Der frühere
Soldat hat durch seinen Verteidiger mitgeteilt, dass von einer Stellungnahme
zur Sache abgesehen werde. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hat erklärt, das
erstinstanzliche Urteil leide zwar an einem Mangel. Dieser wiege jedoch nicht
schwer, so dass es keiner Zurückverweisung der Sache bedürfe.
1. Die zulässige Berufung ist auf die Disziplinarmaßnahme beschränkt eingelegt
worden. Dies ergibt sich aus dem Berufungsschriftsatz vom 19. Januar 2009.
Mit seiner Berufungsbegründung macht der frühere Soldat nur Umstände
geltend, die für die Bemessung der Disziplinarmaßnahme von Bedeutung sein
können. Weder werden die erstinstanzlichen Tat- und Schuldfeststellungen
angegriffen noch wird die Qualifizierung des festgestellten Fehlverhaltens als
vorsätzlich begangenes Dienstvergehen in Zweifel gezogen. Diese Auslegung
des Berufungsschriftsatzes hat der Verteidiger des früheren Soldaten mit
seinem ergänzenden Schreiben vom 4. Juni 2009 grundsätzlich bestätigt,
allerdings nunmehr erstmals die Feststellungen des Truppendienstgerichts zur
Schuldform des Dienstvergehens gerügt. Danach dürfte nunmehr eine
unbeschränkt eingelegte Berufung gewollt sein. Denn die Bestimmung der
richtigen Schuldform ist nicht nur für die Disziplinarbemessung, sondern
zugleich auch - als sogenannter doppelrelevanter Umstand - für die
Schuldfrage, d.h. den subjektiven Tatbestand des Dienstvergehens von
Bedeutung. Fahrlässigkeit ist kein „minus“ zum Vorsatz; beide Schuldformen
stehen als „aliud“ nebeneinander (ständige Rechtsprechung, z.B. Urteile vom
26. März 1996 - BVerwG 1 D 56.94 - Buchholz 232 § 54 Satz 2 BBG Nr. 6 - und
vom 9. April 2002 - BVerwG 1 D 17.01 - Buchholz 232 § 73 BBG Nr. 25, jeweils
mit weiteren Nachweisen - zum Beamtendisziplinarrecht).
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Die nachträgliche Rüge der erstinstanzlichen Feststellungen zur Schuldform ist
allerdings rechtlich unerheblich; das eingelegte Rechtsmittel bleibt gemäß dem
Berufungsschriftsatz vom 19. Januar 2009 auf die Disziplinarmaßnahme
beschränkt. Dies folgt aus dem Umstand, dass das wehrdisziplinargerichtliche
Verfahren keine gesonderte Frist für die Berufungsbegründung kennt. Das
Rechtsmittel ist vielmehr innerhalb der Einmonatsfrist zur Einlegung der
Berufung zu begründen (vgl. § 115 Abs. 1, § 116 Abs. 2 WDO; Beschluss vom
24. Mai 2000 - BVerwG 2 WDB 3.00 und 4.00 - Buchholz 235.0 § 111 WDO Nr.
3 = NZWehrr 2001, S. 77). Nach Ablauf der Berufungsfrist - hier am 20. Januar
2009 - kann die wirksam gewordene Rechtsmittelbeschränkung als
Prozesshandlung nicht mehr widerrufen oder zurückgenommen werden (vgl.
dazu Dau, WDO, 5. Aufl. 2009, § 116 Rn. 24 m.w.N.).
2. Da das Rechtsmittel mithin nach dem maßgeblichen Inhalt der Begründung
in beschränktem Umfang eingelegt worden ist, hat der Senat von Rechts wegen
die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die disziplinarrechtliche Würdigung des
Truppendienstgerichts seiner Entscheidung zugrunde zu legen (§ 91 Abs. 1
Satz 1 WDO i.V.m. § 327 StPO) und nur noch über die angemessene
Disziplinarmaßnahme zu befinden, wobei er an das Verschlechterungsverbot (§
91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 331 Abs. 1 StPO) gebunden ist. Auf dieser
Grundlage kann der Senat im vorliegenden Fall jedoch nicht entscheiden. Das
Urteil des Truppendienstgerichts weist einen so schweren Verfahrensmangel
auf, dass es mit seinen tatsächlichen und disziplinarrechtlichen Feststellungen
zur Schuld des früheren Soldaten nicht ausreicht, um eine Grundlage für die
Entscheidung des Senats über die Maßnahmebemessung abzugeben.
a) Ein schwerer Mangel des Verfahrens im Sinne der genannten Bestimmung
liegt vor, wenn gegen eine Verfahrensvorschrift verstoßen worden ist, deren
Verletzung schwerwiegend und für den Ausgang des Verfahrens (noch) von
Bedeutung ist. Das ist regelmäßig dann gegeben, wenn die Rechte eines
Verfahrensbeteiligten wesentlich beeinträchtigt worden sind oder wenn der
Verfahrensverstoß den Zweck einer Formvorschrift wesentlich vereitelt. Für den
Ausgang des Berufungsverfahrens sind solche Mängel des
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truppendienstgerichtlichen Verfahrens dann (noch) von Bedeutung, wenn die
Entscheidung über das eingelegte Rechtsmittel im Falle einer Behebung des
Verfahrensfehlers anders als im Vergleich zu dessen Nichtbehebung ausfallen
kann. Als schwerwiegender Mangel des Verfahrens im dargelegten Sinne ist in
der Rechtsprechung u.a. das Fehlen von ausreichenden und
widerspruchsfreien Feststellungen zur Tat- und Schuldfrage anerkannt (stRspr,
vgl. zuletzt Urteil vom 10. Dezember 2008 - BVerwG 2 WD 8.08 - Buchholz
450.2 § 91 WDO 2002 Nr. 3 = NZWehrr 2009 S. 212 - 214 m.w.N.). Dies ist
insbesondere bei einer beschränkten Berufung der Fall, bei der die
Tatfeststellungen des erstinstanzlichen Urteils sowie die darin vorgenommene
disziplinarrechtliche Würdigung des Verhaltens des Soldaten als
Dienstvergehen für das Berufungsgericht nach § 91 Abs. 1 WDO i.V.m. § 327
StPO bindend und nicht mehr nachprüfbar sind, weil der Prozessstoff des
Berufungsverfahrens bei einer beschränkten Berufung durch die unnachprüfbar
gewordenen Tat-
und Schuldfeststellungen des Urteils des
Truppendienstgerichts festgelegt wird und vom Berufungsgericht nicht mehr
geändert werden kann.
Im gerichtlichen Disziplinarverfahren muss der Tatrichter den
entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen erforschen und
feststellen sowie diesen und die daraus gezogenen rechtlichen
Schlussfolgerungen in den Urteilsgründen darlegen (§ 91 Abs. 1 WDO i.V.m. §
267 Abs. 1 StPO). Grundsätzlich muss jedes Strafurteil und damit auch jedes
Urteil in einem gerichtlichen Disziplinarverfahren aus sich selbst, d.h. aus den
Urteilsgründen heraus verständlich sein. Erfüllt ein Urteil nach seinen
Entscheidungsgründen diese Anforderungen nicht, liegt - wie hier - ein
schwerwiegender Mangel des Verfahrens im Sinne des § 120 Abs. 1 Nr. 2
WDO bzw. § 121 Abs. 2 WDO vor (vgl. Urteil vom 10. Dezember 2008 a.a.O.
m.w.N.). Denn Voraussetzung für die im Berufungsverfahren zu treffende
Entscheidung über die gebotene und angemessene Disziplinarmaßnahme ist,
dass die durch die Beschränkung der Berufung unangreifbar gewordenen
tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils, wie sie sich aus den
Urteilsgründen ergeben, sowie die auf dieser Grundlage getroffenen
Feststellungen zu den schuldhaften Pflichtverletzungen (=
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Schuldfeststellungen) des Angeschuldigten nachvollziehbar, in sich schlüssig
und widerspruchsfrei sind. Unklare, widersprüchliche oder lückenhafte
Feststellungen können keine ausreichende Grundlage für das festzusetzende
Disziplinarmaß abgeben (vgl. Urteil vom 10. Dezember 2008 a.a.O. m.w.N).
b) Dies ist hier der Fall. Zwar sind die tatsächlichen Feststellungen im
angefochtenen Urteil der Truppendienstkammer nachvollziehbar und in sich
widerspruchsfrei. Die auf dieser Grundlage vom Gericht getroffenen
Schuldfeststellungen einschließlich der disziplinarrechtlichen Würdigung sind
jedoch grob fehlerhaft und können keine ausreichende Grundlage für das im
Berufungsverfahren vom Senat festzusetzende Disziplinarmaß abgeben.
Soweit die Truppendienstkammer im angefochtenen Urteil hinsichtlich aller vier
Anschuldigungspunkte insgesamt einen vorsätzlichen Verstoß des früheren
Soldaten gegen die innerdienstliche Wohlverhaltenspflicht gemäß § 17 Abs. 2
Satz 1 SG, beruhend auf einer Straftat im Sinne des § 184b StGB,
angenommen hat, steht diese Schuldfeststellung und disziplinarrechtliche
Würdigung sowohl im offenkundigen und klaren Widerspruch zu den
tatsächlichen Urteilsfeststellungen als auch zu Ausführungen im Rahmen der
Disziplinarbemessung; danach handelte es sich „weitestgehend um ein
außerdienstliches Fehlverhalten“.
Zunächst hat das Gericht - in Übereinstimmung mit den Anschuldigungspunkten
1 bis 3 - festgestellt (Urteilsabdruck S. 8), dass der Soldat aufgrund der
Durchsuchung seines Wohnhauses und seines Kraftfahrzeugs mittels seines
privaten tragbaren Computers, d.h. im privaten Bereich, als Empfänger und
Versender von elektronischer Post (E-Mail) mit kinderpornografischen
Bilddateien identifiziert worden sei; da sich der frühere Soldat im
Durchsuchungszeitpunkt aber bereits in der Kaserne aufhielt, erfolgte die
Durchsuchung seines privaten Kraftfahrzeugs auf dem Dienstgelände (vgl.
Anschuldigungspunkt 4). Dennoch würdigte die Truppendienstkammer ihre
Feststellungen - ohne nähere Begründung - insgesamt als rein innerdienstliches
Fehlverhalten (Urteilsabdruck S. 9 unten, S. 10 oben). Der frühere Soldat habe
vorsätzlich seine soldatische Pflicht verletzt, sich so zu verhalten, dass er der
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Achtung und dem Vertrauen gerecht werde, die sein Dienst als Soldat erfordere
(§ 17 Abs. 2 Satz 1 SG). Denn wer sich als Soldat Kinderpornografie
verschaffe, auf seinem Rechner speichere, wenigstens vorübergehend in der
Kaserne aufbewahre und schließlich sogar an Dritte weitergebe, schädige durch
diese nach § 184b StGB strafbaren Handlungen seine eigene „innerdienstliche
Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit“. Im Rahmen der anschließenden
Disziplinarbemessung hat die Kammer u.a. aber ausgeführt (Urteilsabdruck S.
12), dass es sich hier „weitestgehend um ein außerdienstliches Fehlverhalten“
handele, welches sich - was den Erwerb und die Weitergabe entsprechenden
Bildmaterials anbelange - ausschließlich in der Privatsphäre des Soldaten
abgespielt habe. Weder seien andere Soldaten in den Kreis der Beteiligten
einbezogen worden noch sei das Fehlverhalten im Kameradenkreis bekannt
geworden. Es seien auch keine dienstlichen Mittel oder Einrichtungen
verwendet worden.
Dieser offenkundig bestehende Widerspruch zwischen den tatsächlichen
Feststellungen sowie den Schuldfeststellungen und der disziplinarrechtlichen
Würdigung lässt sich anhand der Urteilsgründe nicht auflösen.
Es spricht zunächst nichts dafür, dass die Einstufung aller Pflichtverletzungen
als innerdienstliches Dienstvergehen auf einem offensichtlichen
Schreibversehen beruht. In Übereinstimmung mit dem Wortlaut des § 17 Abs. 2
Satz 1 SG hat die Truppendienstkammer ausdrücklich einen Verstoß gegen die
„innerdienstliche“ Wohlverhaltenspflicht angenommen, zumal im
Anschuldigungspunkt 4 dem früheren Soldaten auch zur Last gelegt wird, die
Bilddateien in den Kasernenbereich eingebracht zu haben.
Die Widersprüchlichkeit der erstinstanzlichen Feststellungen lässt sich auch
nicht mit dem Hinweis des Bundeswehrdisziplinaranwalts lösen, § 17 Abs. 2 SG
enthalte als „einheitliche ratio“ die grundlegende Pflicht des Soldaten, sein
gesamtes, d.h. inner- wie außerdienstliches Verhalten, jederzeit so
auszurichten, dass die ihm zukommende Achtung und das in ihn gesetzte
Vertrauen nicht beschädigt würden. Das Truppendienstgericht habe lediglich
versäumt, § 17 Abs. 2 Satz 2 SG, der das Schwergewicht des Dienstvergehens
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präge, zu zitieren. Diese Auffassung ist nicht geeignet, die Widersprüchlichkeit
der Schuldfeststellungen aufzulösen und damit eine Zurückverweisung zu
vermeiden.
Nach § 17 Abs. 2 Satz 1 SG muss das Verhalten eines Soldaten dem Ansehen
der Bundeswehr sowie der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die
sein Beruf als Soldat erfordert. Satz 2 der Vorschrift bestimmt, dass sich der
Soldat außer Dienst außerhalb der dienstlichen Unterkünfte und Anlagen so zu
verhalten hat, dass er das Ansehen der Bundeswehr oder die Achtung und das
Vertrauen, die seine dienstliche Stellung erfordert, nicht ernsthaft beeinträchtigt.
§ 17 Abs. 2 SG regelt damit zwar die Anforderungen an die allgemeine
Wohlverhaltenspflicht eines Soldaten in räumlicher und zeitlicher Hinsicht - im
und außer Dienst sowie innerhalb und außerhalb dienstlicher Unterkünfte und
Anlagen - umfassend und abschließend. Das Verhalten eines Soldaten ist
jedoch entweder nach § 17 Abs. 2 Satz 1 oder nach Satz 2 SG zu beurteilen.
Nur wenn sich der Soldat außer Dienst und außerhalb dienstlicher Unterkünfte
und Anlagen im Sinne des § 17 Abs. 2 Satz 2 SG befindet - beide
Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen -, bestehen weniger strenge
Anforderungen an seine allgemeine Wohlverhaltenspflicht (vgl. Urteil vom 14.
Oktober 2009 - BVerwG 2 WD 16.08, juris). Der Senat hat deshalb in seiner
ständigen Rechtsprechung auch stets zwischen innerdienstlichem (§ 17 Abs. 2
Satz 1 SG) und außerdienstlichem Fehlverhalten (§ 17 Abs. 2 Satz 2 SG)
unterschieden und eine außerdienstliche Pflichtverletzung im Ausgangspunkt
der Zumessungserwägungen in der Regel als weniger schwerwiegend
eingestuft (vgl. zuletzt z.B. Urteil vom 10. Februar 2010 - BVerwG 2 WD 9.09
m.w.N.; dazu auch Dau a.a.O. § 38 Rn. 26 m.w.N.).
Kann dem mit der „beschränkten Berufung“ angefochtenen Urteil des
Truppendienstgerichts nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit entnommen
werden, ob und ggf. in welchem Umfang inner- und/oder außerdienstliche
Pflichtverletzungen vorliegen, fehlt es an der notwendigen Grundlage für die
vom Senat zu treffende Entscheidung über die zulässige und angemessene
Disziplinarmaßnahme. Insbesondere im Hinblick auf „Eigenart und Schwere des
Dienstvergehens“ (§ 58 Abs. 7 i.V.m. § 38 Abs. 1 WDO) muss eindeutig
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feststehen, welche Dienstpflichten der frühere Soldat schuldhaft verletzt hat. Da
der Senat aufgrund der Berufungsbeschränkung gehindert ist, die
widersprüchlichen Schuldfeststellungen der Truppendienstkammer von sich aus
zu ändern oder eigene Schuldfeststellungen zu treffen, kann der (heilbare)
Verfahrensmangel nicht im Berufungsverfahren geheilt werden.
c) Dies führt zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an eine andere
Kammer des Truppendienstgerichts Nord.
Zwar steht die Entscheidung darüber gemäß § 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO im
gerichtlichen Ermessen. Da der Senat aber mangels eindeutiger
Schuldfeststellungen und disziplinarrechtlicher Würdigung des Sachverhalts
aufgrund der „beschränkten Berufung“ nicht in der Sache entscheiden kann, ist
eine Zurückverweisung geboten (vgl. z.B. Urteile vom 1. Juli 2003 - BVerwG 2
WD 34.02 - BVerwGE 118, 262 ff. = Buchholz 235.01 § 108 WDO 2002 Nr. 2 =
NZWehrr 2004, S. 36 - und vom 10. Dezember 2008 a.a.O.; Beschluss vom 19.
August 2009 - BVerwG 2 WD 31.08, juris). Das Beschleunigungsgebot (§ 17
Abs. 1 WDO) steht einer solchen Entscheidung schon deshalb nicht entgegen,
weil die Zurückverweisung zur Sicherstellung des Anspruchs auf ein faires
rechtsstaatliches Disziplinarverfahren (speziell zum gerichtlichen
Wehrdisziplinarverfahren BVerfG, Kammerbeschluss vom 14. Juni 2000 - 2
BvR 993/94 - ZBR 2001, 208) und zur Herbeiführung einer ausreichenden
Entscheidungsgrundlage unvermeidbar ist. Die gemäß § 120 Abs. 2 WDO
erforderliche Anhörung der Verfahrensbeteiligten ist - wie erwähnt - erfolgt.
Für eine Zurückverweisung an ein anderes Truppendienstgericht sieht der
Senat keine Veranlassung.
3. Im Rahmen einer erneuten Hauptverhandlung wird die nun zuständige
Truppendienstkammer u.a. festzustellen und näher zu begründen haben, ob
und ggf. inwieweit der frühere Soldat seine Dienstpflichten gemäß § 17 Abs. 2
Satz 1 und/oder § 17 Abs. 2 Satz 2 SG „schuldhaft“ verletzt hat. Bislang war
das Truppendienstgericht insgesamt von einem vorsätzlichen Dienstvergehen
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ausgegangen, hatte jedoch im Rahmen der Bemessungserwägungen (zu
Anschuldigungspunkt 4) folgendes ausgeführt (Urteilsabdruck S. 12):
„Dass der Soldat das Bildmaterial vorübergehend auf
dem Kasernenparkplatz in seinem Fahrzeug lagerte, ist
mehr dem Umstand geschuldet, dass er den Rechner
nicht unbeaufsichtigt zu Hause lassen wollte, als seinem
Bestreben, entsprechende Aktivitäten in den dienstlichen
Bereich zu tragen.“
Dies könnte darauf hindeuten, dass der frühere Soldat nach Auffassung der
Kammer insoweit eigentlich nur fahrlässig gehandelt hat, was hilfsweise wohl
auch angeschuldigt ist; insoweit lässt es das erstinstanzliche Urteil ebenfalls an
Eindeutigkeit vermissen.
Im Rahmen der Bestimmung der angemessenen Disziplinarmaßnahme wird die
nun zuständige Truppendienstkammer u.a. zu beachten haben, dass sich der
frühere Berufssoldat inzwischen im Ruhestand befindet, sodass als zulässige
Maßnahme nach § 58 Abs. 2 WDO nur noch eine Kürzung seines Ruhegehalts
(§ 64 WDO, vgl. aber auch § 58 Abs. 4 Satz 3 WDO) in Betracht kommt; alle
weiteren in § 58 Abs. 2 WDO genannten Disziplinarmaßnahmen scheiden
wegen der Geltung des Verschlechterungsverbotes aus. Das Gericht wird dann
allerdings gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 2 WDO zu prüfen haben, ob im Hinblick auf
die Einstellung des sachgleichen Strafverfahrens nach § 153a Abs. 1 StPO
noch eine Kürzung des Ruhegehalts verhängt werden darf.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens und die Erstattung der dem
früheren Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen ist der
Schlussentscheidung vorbehalten.
Golze
Dr. Müller
Dr. Langer
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