Urteil des BVerwG vom 25.07.2013

Grundsatz der Gleichbehandlung, Gerichtshof für Menschenrechte, Ablauf der Frist, Disziplinarverfahren

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 2 C 63.11
VGH 16b D 08.314
Verkündet
am 25. Juli 2013
Melzer
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 25. Juli 2013
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz
und Dr. von der Weiden, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Thomsen
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung und Dr. Kenntner
für Recht erkannt:
Die Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom
22. September 2010 und des Verwaltungsgerichts
Ansbach vom 6. Dezember 2004 werden aufgehoben.
Der Beklagte wird in das Amt eines Polizeiobermeisters
(Besoldungsgruppe A 8 BBesO) versetzt.
Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufge-
hoben.
G r ü n d e :
I
Der 1958 geborene Beklagte steht als Polizeihauptmeister im Dienst der Kläge-
rin. Mit rechtskräftigem Urteil vom 17. April 2002 wurde er zu einer Freiheits-
strafe von zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausge-
setzt wurde. Er hatte am 13. Mai 2001 außerdienstlich vor seinem Anwesen
zwei Personen wegen ihres Fahrverhaltens zur Rede gestellt, beleidigt und mit
der nicht geladenen Waffe bedroht. Das sachgleiche Disziplinarverfahren wurde
im Hinblick auf das Strafurteil mit Verfügung vom 26. Juni 2002 unter Feststel-
lung einer an sich verwirkten langfristigen Kürzung der Dienstbezüge wegen
Maßnahmeverbots eingestellt.
Gegenstand der Disziplinarklage ist der durch Urteil vom 19. März 2003 rechts-
kräftig festgestellte Sachverhalt, nach dem der Beklagte am 4. Dezember 2002
einen 50-€-Schein aus der Geldbörse eines Kollegen in der Absicht, diesen für
sich zu behalten, entnahm. Die Geldbörse mit weiterem Bargeld befand sich im
unverschlossenen Aktenkoffer des Kollegen, den dieser im Umkleideraum sei-
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ner Hundertschaft abgestellt hatte. Der Beklagte wurde wegen des Diebstahls
zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt; die Strafaussetzung zur Be-
währung aus dem Urteil vom 17. April 2002 wurde nicht widerrufen.
Im sachgleichen Disziplinarklageverfahren hat das Verwaltungsgericht mit Urteil
vom 6. Dezember 2004 den Beklagten um zwei Ämter in das Eingangsamt ei-
nes Polizeimeisters zurückgestuft. Das Berufungsgericht hat den Beamten mit
Beschluss vom 10. November 2006 aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Das
Bundesverwaltungsgericht hat diese Entscheidung durch Urteil vom 25. Okto-
ber 2007 - BVerwG 2 C 43.07 - aufgehoben und die Sache zur Verhandlung
und erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Das
Berufungsgericht habe nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen,
weil § 130a VwGO im Disziplinarklageverfahren nicht anwendbar sei. Zudem
weise die Maßnahmebemessung Rechtsfehler auf.
Mit dem angegriffenen Urteil hat das Berufungsgericht den Beamten aus dem
Dienst entfernt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Der Kollegendiebstahl ziehe im Falle der Geringwertigkeit des entwendeten Be-
trags nach seiner Schwere im Regelfall eine Zurückstufung nach sich. Weitere
anerkannte Milderungsgründe oder sonstige mildernde Umstände von insge-
samt vergleichbarem Gewicht lägen nicht vor. Demgegenüber falle erschwe-
rend ins Gewicht, dass der Beklagte sich das vorhergehende Disziplinarverfah-
ren und die strafgerichtliche Verurteilung nicht zur Warnung habe dienen las-
sen. Ein Beamter, der der Versuchung nicht widerstehen könne, eine zufällig
unbewachte und unverschlossene Tasche eines Kollegen zu öffnen und aus
dem darin vorgefundenen Geldbeutel Geld zu entwenden, und sich eine zeitnah
vorangegangene Bestrafung bei noch laufender Bewährungsfrist nicht zur ab-
schreckenden Warnung dienen lasse, sei nicht mehr tragbar.
Hiergegen wendet sich der Beklagte mit der Revision. Er beantragt,
die Urteile des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom
22. September 2010 und des Verwaltungsgerichts
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Ansbach vom 6. Dezember 2004 aufzuheben und eine
mildere Disziplinarmaßnahme zu bestimmen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision des Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundes-
recht, nämlich § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 Satz 1 BDG (§ 69 BDG, § 137
Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Der Senat macht nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten
von der ihm gesetzlich eröffneten Möglichkeit Gebrauch, die Disziplinarmaß-
nahme auf der Grundlage des vom Berufungsgericht festgestellten Sachver-
halts abschließend zu bestimmen (§ 70 Abs. 1, § 65 Abs. 1 Satz 1, § 60 Abs. 2
BDG).
Das Revisionsgericht hat bei der Anwendung des revisiblen Rechts auf den
festgestellten Sachverhalt (§ 137 Abs. 2 VwGO, § 69 BDG) grundsätzlich die-
selben Befugnisse und Entscheidungsmöglichkeiten, die das Berufungsgericht
im Falle einer Zurückverweisung hätte. Das Bundesdisziplinargesetz enthält
insoweit, anders als etwa § 82 Abs. 3 Satz 2 DRiG, keine Einschränkungen.
Vielmehr gilt die Regelung des § 60 Abs. 2 Satz 2 BDG, die den Verwaltungs-
gerichten die Befugnis zur Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnah-
me überträgt, gemäß § 70 Abs. 1, § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG auch für das Revi-
sionsverfahren (Urteile vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C 9.06 - Buchholz 235.1
§ 13 BDG Nr. 3 Rn. 26, vom 24. Mai 2007 - BVerwG 2 C 25.06 - Buchholz
235.1 § 13 BDG Nr. 4 Rn. 27 und vom 29. Mai 2008 - BVerwG 2 C 59.07 -
Buchholz 235.1 § 70 BDG Nr. 3 Rn. 25).
Das Bundesverwaltungsgericht kann von der ihm danach zustehenden, durch
die Rechtsmittelanträge eingeschränkten Befugnis jedoch nur Gebrauch ma-
chen, wenn es aufgrund der gemäß § 137 Abs. 2 VwGO, § 69 BDG bindenden
tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils eine gesetzeskonforme, d.h.
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den Anforderungen des § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG genügende Bemes-
sungsentscheidung treffen kann. Es kann weder Tatsachen berücksichtigen, die
nicht festgestellt sind, noch die Richtigkeit der festgestellten Tatsachen nach-
prüfen. Daher kann das Bundesverwaltungsgericht über die Disziplinarklage nur
dann abschließend entscheiden, wenn das Berufungsurteil alle wesentlichen
bemessungsrelevanten Gesichtspunkte enthält. Ansonsten muss es gemäß
§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO, § 70 Abs. 2 BDG aufgehoben und die Sache
an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (Urteile vom 3. Mai 2007
- BVerwG 2 C 9.06 - a.a.O. Rn. 27, vom 24. Mai 2007 a.a.O. Rn. 28 und vom
29. Mai 2008 a.a.O. Rn. 26).
Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils reichen für die Maßnah-
mebemessung gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 Satz 1 BDG aus. Die
Beteiligten sind hierzu gehört worden; sie haben keine Einwendungen erhoben
(zur Erforderlichkeit einer vorherigen Anhörung: Urteil vom 29. Mai 2008 a.a.O.
Rn. 33).
Der Senat kommt im Rahmen seiner Bemessungsentscheidung nach § 13
Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 Satz 1 BDG zu dem Ergebnis, dass der Beklagte
grundsätzlich eine Zurückstufung in das Eingangsamt seiner Laufbahn verwirkt
hat. Dabei sieht er die Vorbelastung als gravierend ins Gewicht fallenden er-
schwerenden Umstand an, jedoch würdigt er, anders als das Berufungsgericht,
die freiwillige Wiedergutmachung und Entschuldigung als entlastenden Um-
stand von beachtlichem Gewicht. Aufgrund der von Verfassungs wegen gebo-
tenen Berücksichtigung der unangemessen langen Verfahrensdauer wird der
Kläger jedoch nur in das Amt eines Polizeiobermeisters (BesGr. A 8 BBesO)
zurückgestuft.
1. Welche Disziplinarmaßnahme im Einzelfall erforderlich ist, richtet sich gemäß
§ 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG nach der Schwere des Dienstvergehens unter
angemessener Berücksichtigung der Persönlichkeit des Beamten und des Um-
fangs der durch das Dienstvergehen herbeigeführten Vertrauensbeeinträchti-
gung. Der Bedeutungsgehalt dieser gesetzlichen Begriffe ist in der Rechtspre-
chung des Senats geklärt (Urteil vom 20. Oktober 2005 - BVerwG 2 C 12.04 -
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BVerwGE 124, 252 <258 ff.> = Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 1 S. 5; seitdem
stRspr; vgl. zuletzt Urteil vom 28. Februar 2013 - BVerwG 2 C 62.11 - Rn. 39 ff.,
zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung Buchholz vorgesehen).
Danach müssen die sich aus § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG ergebenden Be-
messungskriterien mit dem ihnen im Einzelfall zukommenden Gewicht ermittelt
und in die Entscheidung eingestellt werden. Dieses Erfordernis beruht letztlich
auf dem im Disziplinarverfahren geltenden Schuldprinzip und dem Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot). Die gegen den Beamten ausgespro-
chene Disziplinarmaßnahme muss unter Berücksichtigung aller belastenden
und entlastenden Umstände des Einzelfalls in einem gerechten Verhältnis zur
Schwere des Dienstvergehens und zum Verschulden des Beamten stehen (vgl.
grundlegend Urteil vom 20. Oktober 2005 a.a.O. S. 258 f. bzw. S. 5; stRspr).
a) Wie § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG durch die Verwendung des Wortes „insbeson-
dere" zum Ausdruck bringt, ist die Schwere des Dienstvergehens maßgebendes
Bemessungskriterium für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaß-
nahme. Dies bedeutet, dass das festgestellte Dienstvergehen nach seiner
Schwere einer der im Katalog des § 5 BDG aufgeführten Disziplinarmaßnahme
zuzuordnen ist. Für die Bestimmung der Schwere des Dienstvergehens hat die
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts generelle Maßstäbe für ein-
zelne Fallgruppen entwickelt (Urteile vom 20. Oktober 2005 a.a.O. S. 258 f.
bzw. S. 6 und vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C 9.06 - a.a.O. Rn. 20; zuletzt vom
28. Juli 2011 - BVerwG 2 C 16.10 - BVerwGE 140, 185 = Buchholz 235.2
LDisziplinarG Nr. 18, jeweils Rn. 29 und vom 28. Februar 2013 a.a.O.
Rn. 39 f.).
Für die Fallgruppe der Zugriffsdelikte, d.h. für die Veruntreuung dienstlich an-
vertrauter Gelder und Güter, ist die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis
grundsätzlich Richtschnur für die Maßnahmebestimmung, wenn die veruntreu-
ten Beträge oder Werte insgesamt die Schwelle der Geringwertigkeit deutlich
übersteigen. Der Kollegendiebstahl ist hinsichtlich seiner Schwere der Verun-
treuung amtlich anvertrauter Gelder vergleichbar (Urteile vom 20. Oktober 2005
a.a.O. S. 260 ff., vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C 9.06 - a.a.O. Rn. 21 und
- BVerwG 2 C 30.05 - Rn. 30
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Abs. 1 VwGO Nr. 50>, vom 15. Oktober 2007 - BVerwG 2 C 43.07 - Rn. 19
soweit nicht veröffentlicht in Buchholz 235.1 § 65 BDG Nr. 2>, vom 29. Mai
2008 - BVerwG 2 C 59.07 – Rn. 21
235.1 § 70 BDG Nr. 3>; zuletzt vom 23. Februar 2012 - BVerwG 2 C 38.10 -
NVwZ-RR 2012, 479 ff., zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung
Buchholz vorgesehen, Rn. 12, stRspr).
Danach ist für den nach § 57 Abs. 1 Satz 1 BDG bindend festgestellten Kolle-
gendiebstahl aufgrund der Geringwertigkeit des entwendeten Geldbetrages von
50 € die Zurückstufung nach § 9 BDG Richtschnur für die Maßnahmebemes-
sung.
b) Davon ausgehend kommt es für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme
darauf an, ob Erkenntnisse zum Persönlichkeitsbild des Beamten und zum Um-
fang der Vertrauensbeeinträchtigung nach § 13 Abs. 1 Satz 3 und 4 BDG im
Einzelfall derart ins Gewicht fallen, dass eine andere als die durch die Schwere
indizierte Maßnahme geboten ist (Urteile vom 20. Oktober 2005 a.a.O. S. 259 f.
,
28. Juli 2011 - BVerwG 2 C 16.10 - a.a.O. Rn. 29, vom 28. Februar 2013
- BVerwG 2 C 3.12 - Rn. 26 f. = NVwZ 2013, 1087
Entscheidungssammlungen BVerwGE und Buchholz vorgesehen> und
- BVerwG 2 C 62.11 - NVwZ-RR 2013, 693
vorgesehen> juris Rn. 39; stRspr). Deshalb dürfen die nach der Schwere des
Dienstvergehens angezeigten Regeleinstufungen nicht schematisch angewandt
werden.
Je schwerwiegender das Dienstvergehen oder die mit ihm einhergehende Ver-
trauensbeeinträchtigung ist, umso gewichtiger müssen die sich aus dem Per-
sönlichkeitsbild ergebenden mildernden Umstände sein, um gleichwohl eine
andere Maßnahme zu rechtfertigen (stRspr; Urteile vom 20. Oktober 2005
a.a.O. S. 261 ff. bzw. S. 7 ff., vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C 9.06 - a.a.O.
Rn. 21 ff.; vom 24. Mai 2007 - BVerwG 2 C 25.06 - Buchholz 235.1 § 13 BDG
Nr. 4 Rn. 22 und vom 28. Februar 2013 a.a.O. Rn. 40; zuletzt Urteile vom
28. Februar 2013 - BVerwG 2 C 3.12 - a.a.O. Rn. 33 und - BVerwG 2 C 62.11 -
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a.a.O. Rn. 46). Umgekehrt können Gesichtspunkte des Persönlichkeitsbildes
oder eine besondere Vertrauensbeeinträchtigung die Entfernung aus dem Be-
amtenverhältnis rechtfertigen, obwohl diese Maßnahme nach der Schwere des
Dienstvergehens für sich genommen nicht indiziert ist.
Das Bemessungskriterium „Umfang der Beeinträchtigung des Vertrauens des
Dienstherrn oder der Allgemeinheit“ gemäß § 13 Abs. 1 Satz 4 BDG erfordert
eine Würdigung des Fehlverhaltens des Beamten im Hinblick auf seinen allge-
meinen Status, seinen Tätigkeitsbereich innerhalb der Verwaltung und seine
konkret ausgeübte Funktion (Urteil vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C 30.05 -
Rn. 24
Nr. 50). Maßstab ist hierbei, in welchem Umfang die Allgemeinheit dem Beam-
ten noch Vertrauen in eine zukünftig pflichtgemäße Amtsausübung entgegen-
bringen kann, wenn ihr das Dienstvergehen einschließlich der belastenden und
entlastenden Umstände bekannt würde (grundlegend Urteil vom 20. Oktober
2005 a.a.O. S. 260 bzw. S. 7, seitdem stRspr; zuletzt Urteil vom 28. Februar
2013 - BVerwG 2 C 62.11 - a.a.O. Rn. 56). Die Prüfung, ob der betreffende Be-
amte im Beamtenverhältnis verbleiben darf, hat sich auf sein Amt als Ganzes
und nicht nur auf einen begrenzten Tätigkeitsbereich (Amt im funktionellen Sin-
ne) zu beziehen (Urteil vom 22. Mai 1996 - BVer- Buchholz 232
§ 54 Satz 3 BBG Nr. 6 S. 17 m.w.N.).
Die Stellung als Polizeibeamter kann sich für die Bewertung außerdienstlichen
Verhaltens erschwerend auswirken, wenn ein Bezug zur Dienstausübung des
Beamten gegeben ist (stRspr; vgl. z.B. Beschlüsse vom 21. Dezember 2010
- BVerwG 2 B 29.10 - Buchholz 232 § 77 BBG Nr. 32 Rn. 5 ff., vom 25. Mai
2012 - BVerwG 2 B 133.11 - NVwZ-RR 2012, 607 Rn. 9 m.w.N. und vom 5. Ap-
ril 2013 - BVerwG 2 B 79.11 - juris Rn. 4 ff.). Entsprechendes gilt für inner-
dienstliche Pflichtverletzungen, die unter Ausnutzung der dienstlichen Stellung
begangen werden (vgl. Urteile vom 23. Februar 2012 - BVerwG 2 C 38.10 -
NVwZ-RR 2012, 479 ff. Rn. 16 und vom 28. Februar 2013 - BVerwG 2 C 3.12 -
a.a.O. Rn. 31 ff., 36). Dagegen hängt die disziplinarische Bewertung eines Kol-
legendiebstahls nicht davon ab, welcher Laufbahn oder welchem Verwaltungs-
zweig der Beamte angehört oder welche dienstlichen Aufgaben er wahrnimmt.
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Der Kollegendiebstahl ist hinsichtlich seiner Schwere im Grundsatz deshalb der
Veruntreuung amtlich anvertrauter Gelder vergleichbar, weil der Dienstherr sich
auch hier auf die Ehrlichkeit seiner Bediensteten verlassen können muss. Ein
Diebstahl zum Nachteil eines Kollegen belastet das Betriebsklima und stört den
Arbeitsfrieden und damit letztlich die Funktionsfähigkeit der Verwaltung in
schwerwiegender Weise (stRspr; zuletzt Urteil vom 29. Mai 2008 - BVerwG 2 C
59.07 - Rn. 21
m.w.N.). Insofern macht es keinen Unterschied, ob ein Polizeibeamter oder ein
Beamter aus einem anderen Verwaltungszweig seine Kollegen bestiehlt.
Das Persönlichkeitsbild nach § 13 Abs. 1 Satz 3 BDG erfasst die persönlichen
Verhältnisse des Beamten und sein sonstiges dienstliches Verhalten vor, bei
und nach dem Dienstvergehen. Insbesondere sind frühere disziplinarische oder
strafrechtliche Verfehlungen, deren Berücksichtigung bei der Maßnahmebe-
messung kein rechtliches Hindernis entgegensteht, in die Würdigung einzube-
ziehen. Dies beruht darauf, dass - anders als im Strafrecht - mit einer Diszipli-
narmaßnahme nicht eine einzelne Tat bestraft wird. Gegenstand der disziplinar-
rechtlichen Betrachtung und Wertung ist die Frage, welche Disziplinarmaßnah-
me in Ansehung der gesamten Persönlichkeit des Beamten geboten ist, um die
Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und die Integrität des Berufsbeam-
tentums möglichst ungeschmälert aufrechtzuerhalten (Urteile vom 3. Mai 2007
- BVerwG 2 C 30.05 - Rn. 25
Abs. 1 VwGO Nr. 50>, - BVerwG 2 C 9.06 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3
Rn. 16 und vom 23. Februar 2012 - BVerwG 2 C 38.10 - NVwZ-RR 2012, 479
<481>; stRspr). Aus einer Vorbelastung kann geschlossen werden, dass sich
der Beamte eine vorherige strafgerichtliche oder disziplinarische Sanktionierung
nicht hat zur Mahnung dienen lassen.
Die Berücksichtigung einer Vorbelastung als erschwerender Umstand bei der
Maßnahmebemessung nach § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG scheidet aus, wenn
ein Verwertungsverbot eingreift. Dies bestimmt sich für strafrechtliche Verurtei-
lungen nach den Tilgungsvorschriften des Bundeszentralregistergesetzes. Da-
nach kann die erste strafrechtliche Verurteilung nicht mehr im Revisionsverfah-
ren berücksichtigt werden (vgl. § 51 Abs. 1 BZRG). Für disziplinare Vorbelas-
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tungen gelten die Verwertungsverbotsregelungen des § 16 BDG. Absatz 4 der
Vorschrift erfasst diejenigen Disziplinarvorgänge, die - wie hier - nicht zur Ver-
hängung einer Disziplinarmaßnahme geführt haben. Die Frist für das Verwer-
tungsverbot und die Tilgungspflicht beträgt bei erwiesenen Dienstvergehen zwei
Jahre (§ 16 Abs. 4 Satz 2 Alt. 2 BDG). Aufgrund der Einleitung des neuen, hier
streitgegenständlichen Disziplinarverfahrens vor Ablauf der Frist, hat diese Frist
noch nicht geendet (§ 16 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 BDG). Das Gewicht
einer Vorbelastung hängt vor allem von der dafür rechts- oder bestandskräftig
ausgesprochenen Disziplinarmaßnahme und vom zeitlichen Abstand zur neuen
Verfehlung ab.
Danach fällt das außerdienstliche Fehlverhalten des Beklagten vom 13. Mai
2001 erheblich zum Nachteil des Beklagten ins Gewicht. Es handelt sich um
eine rechtskräftig abgeurteilte Straftat, für die die Klägerin eine Kürzung der
Dienstbezüge (§ 8 BDG) für verwirkt hielt. Vor allem aber beging der Beklagte
den Kollegendiebstahl am 13. Dezember 2002 nicht einmal ein halbes Jahr
nach Beendigung des ersten Disziplinarverfahrens.
Als durchgreifende Entlastungsgründe kommen vor allem die Milderungsgründe
in Betracht, die in der Rechtsprechung des Disziplinarsenats des Bundesver-
waltungsgerichts zu den Zugriffsdelikten entwickelt worden sind. Diese Milde-
rungsgründe erfassen typisierend Beweggründe oder Verhaltensweisen des
Beamten, die regelmäßig Anlass für eine noch positive Persönlichkeitsprognose
geben. Zum einen tragen sie existenziellen wirtschaftlichen Notlagen sowie
körperlichen oder psychischen Ausnahmesituationen Rechnung, in denen ein
an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet und daher
nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Zum anderen erfassen sie ein tätiges
Abrücken von der Tat, insbesondere durch die freiwillige Wiedergutmachung
des Schadens oder die Offenbarung des Fehlverhaltens jeweils vor drohender
Entdeckung (Urteil vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C 30.05 - Rn. 31
nicht abgedruckt in Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 50>).
Unter Geltung der Bemessungsvorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG
ist es nicht mehr möglich, diese Milderungsgründe als abschließenden Kanon
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der bei Zugriffsdelikten allein beachtlichen Entlastungsgründe anzusehen (vgl.
Urteil vom 20. Oktober 2005 a.a.O. S. 262 ff. bzw. S. 8 f., seitdem stRspr). Viel-
mehr gelten auch hier die dargestellten Anforderungen an die prognostische
Gesamtwürdigung. Demnach dürfen entlastende Gesichtspunkte bei Zugriffsde-
likten nicht deshalb unberücksichtigt bleiben, weil sie für das Vorliegen eines
solchen Milderungsgrundes ohne Bedeutung sind oder nicht ausreichen, um
dessen Voraussetzungen - im Zusammenwirken mit anderen Umständen - zu
erfüllen. Die Milderungsgründe bieten jedoch Vergleichsmaßstäbe für die Be-
wertung, welches Gewicht entlastenden Gesichtspunkten in der Summe zu-
kommen muss, um eine Fortsetzung des Beamtenverhältnisses in Betracht zie-
hen zu können. Generell gilt, dass deren Gewicht umso größer sein muss, je
schwerer das Dienstvergehen aufgrund der Höhe des Schadens, der Anzahl
und Häufigkeit der Zugriffshandlungen, der Begehung von „Begleitdelikten“ und
anderer belastender Gesichtspunkte im Einzelfall wiegt (Urteil vom 3. Mai 2007
- BVerwG 2 C 30.05 - Rn. 32
Abs. 1 VwGO Nr. 50>).
Einen Aspekt des Persönlichkeitsbildes stellt die tätige Reue dar, wie sie durch
die Offenbarung des Fehlverhaltens oder die freiwillige Wiedergutmachung des
Schadens jeweils noch vor der drohenden Entdeckung zum Ausdruck kommt
(Urteil vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C 30.05 - Rn. 23). Der anerkannte Milde-
rungsgrund der freiwilligen Offenbarung greift nicht ein, wenn der Beamte das
Dienstvergehen deshalb offenbart, weil er damit rechnet, dass gegen ihn ermit-
telt wird. Durch die freiwillige Offenbarung zeigt der Beamte, dass er sein Fehl-
verhalten bereut und aus innerer Einsicht entschlossen ist, sich künftig rechts-
treu zu verhalten. Sein Persönlichkeitsbild im Sinne von § 13 Abs. 1 Satz 3
BDG erscheint in einem günstigeren Licht, sodass die Erwartung gerechtfertigt
ist, die von ihm verursachte Ansehensschädigung könne wettgemacht werden.
Mit dem Zweck des Milderungsgrundes der freiwilligen Offenbarung lässt sich
nicht vereinbaren, den in die Tat umgesetzten Persönlichkeitswandel generell
für unbeachtlich zu erklären. Vielmehr führt die Umkehr des Beamten aus freien
Stücken selbst bei schwerwiegenden innerdienstlichen Pflichtenverstößen re-
gelmäßig zur Bestimmung einer Disziplinarmaßnahme, die um eine Stufe nied-
riger liegt als die durch die Schwere des Dienstvergehens indizierte Maßnahme.
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Dies gilt nur dann nicht, wenn dem Milderungsgrund erschwerende Umstände
von ganz erheblichem Gewicht gegenüberstehen (zum Ganzen zuletzt: Urteil
vom 28. Juli 2011 - BVerwG 2 C 16.10 - BVerwGE 140, 185 = Buchholz 235.2
LDisziplinarG Nr. 18, jeweils ab Rn. 37 m.w.N.).
Einer Selbstanzeige, die der Beamte aus Furcht vor Entdeckung abgibt, kommt
naturgemäß ein geringeres Gewicht als einer freiwilligen Offenbarung zu. Hier
muss davon ausgegangen werden, dass der Beamte weniger aus innerer Ein-
sicht als vielmehr in dem Bestreben tätig wird, die nachteiligen Folgen seines
Fehlverhaltens so gering wie möglich zu halten. Daher hängt es vom Hinzutre-
ten weiterer, dem Persönlichkeitsbild zuzuordnenden mildernden Umständen
ab, welches Gewicht diesem Verhalten beizumessen ist. Dieses Gewicht erhöht
sich, wenn der Beamte nach der Selbstanzeige aus Furcht vor Entdeckung den
Schaden alsbald ausgeglichen hat. Gleiches gilt, wenn der Beamte durch seine
Mitwirkung die Aufklärung des Dienstvergehens ermöglicht oder erheblich ver-
einfacht hat (zum Ganzen: Urteil vom 28. Juli 2011 a.a.O. Rn. 38 f. m.w.N.).
Danach ist das hier vom Beklagten gezeigte Verhalten nicht unbeachtlich, auch
wenn es nicht den anerkannten Milderungsgrund der freiwilligen Offenbarung
erfüllt. Zwar war bereits die Tat entdeckt, der Täter war aber noch nicht ermittelt
worden, als sich der Beklagte dem geschädigten Kollegen gegenüber offenbart
hat. Insofern ist von Bedeutung, dass durch die Mitwirkung des Beamten die
Aufklärung des Dienstvergehens vereinfacht wird. Dies ist bei einem Geständ-
nis zu einem frühen Zeitpunkt, d.h. bevor die vom Berufungsgericht aufgezeig-
ten Ermittlungsmaßnahmen bereits angelaufen sind, der Fall. Der Beklagte hat
außerdem den Schaden „alsbald“ ausgeglichen und sich beim Geschädigten
entschuldigt. Er hatte das Geld noch vor der Aufdeckung seiner Täterschaft zu-
rückgesandt. Dies alles lässt sein Persönlichkeitsbild im Sinne von § 13 Abs. 1
Satz 3 BDG in einem günstigeren Licht erscheinen.
c) Nach alledem hält es der Senat für erforderlich, aber noch ausreichend, den
Beklagten in das Eingangsamt seiner Laufbahn, d.h. um zwei Ämter, zurückzu-
stufen.
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Die Schwere des Kollegendiebstahls indiziert die Entfernung aus dem Beam-
tenverhältnis nicht, weil dem Beklagten der Milderungsgrund der Geringfügig-
keit der entwendeten Sache zugute kommt. Demnach käme die Entfernung aus
dem Beamtenverhältnis nur in Betracht, wenn die außerdienstliche Bedrohung,
die als Vorbelastung zum Nachteil des Beklagten in die Gesamtwürdigung nach
§ 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG einzubeziehen ist, nicht durch das ihm gut zu
bringende Nachtatverhalten kompensiert wird. Wie dargelegt, ist die Vorbelas-
tung erheblich. Dies folgt aus der als angemessen erachteten Kürzung der
Dienstbezüge und dem engen zeitlichen Zusammenhang mit der neuerlichen
gravierenden Dienstpflichtverletzung.
Dem steht gegenüber, dass der Beklagte den Geldschein zurückgegeben und
sich später gegenüber dem Geschädigten offenbart hat, bevor die Tat entdeckt
war. Zwar reicht dies nicht aus, um den anerkannten Milderungsgrund der frei-
willigen Offenbarung zu erfüllen. Das Verhalten lässt jedoch Gesichtspunkte
des Persönlichkeitsbildes erkennen, die die Einschätzung rechtfertigen, das
Vertrauen, der Beklagte werde sich künftig inner- und außerdienstlich einwand-
frei verhalten, sei noch nicht zerstört, sondern nur stark erschüttert.
Der Senat gewichtet damit das Nachtatverhalten anders als das Berufungsge-
richt, das mildernden Umständen außerhalb des Anwendungsbereichs der frei-
willigen Offenbarung eine zu geringe Bedeutung beigemessen hat. Die Verwal-
tungsgerichte müssen bei der Gesamtwürdigung offen dafür sein, dass mil-
dernden Umständen im Einzelfall auch dann ein beachtliches Gewicht für die
Maßnahmebemessung zukommen kann, wenn sie zur Erfüllung eines so ge-
nannten anerkannten Milderungsgrundes nicht ausreichen. Sie dürfen nicht als
nebensächlich oder geringfügig zurückgestellt werden, ohne dass sie in Bezug
zur Schwere des Dienstvergehens und belastenden Gesichtspunkten gesetzt
werden.
2. Der Zurückstufung um ein Amt, die hier wegen der unangemessen langen
Dauer des Disziplinarverfahrens angemessen ist, steht nicht das Verschlechte-
rungsverbot nach §§ 129, 141 Satz 1 VwGO entgegen, das nach § 3 BDG auch
für Disziplinarklageverfahren gilt. Es wirkt sich als Beschränkung der grundsätz-
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lich uneingeschränkten Befugnis des Rechtsmittelgerichts aus, die Disziplinar-
maßnahme zu bestimmen (vgl. Urteil vom 28. Februar 2013 - BVerwG 2 C
3.12 - a.a.O. Rn. 24). Das Rechtsmittelgericht darf nach §§ 129, 141 Satz 1
VwGO nur eine Disziplinarmaßnahme festsetzen, die sich innerhalb des Rah-
mens hält, der durch den Antrag des Rechtsmittelführers bestimmt wird (§ 64
Abs. 1 Satz 4 BDG).
Zwar konnte unter der Geltung der Bundesdisziplinarordnung aufgrund des Ver-
weises in § 25 Satz 1 BDO auf die Vorschriften der Strafprozessordnung auch
bei zu Lasten des Beamten eingelegten Berufungen des Bundesdisziplinaran-
walts zugunsten des Beamten entschieden werden (vgl. § 301 StPO; dazu z.B.
Urteil vom 11. März 1997 - BVerwG 1 D 68.95 - juris Rn. 7). Dies ist aber nach
Inkrafttreten des Bundesdisziplinargesetzes nicht mehr möglich. Das Bundes-
disziplinargesetz hat das Disziplinarrecht verfahrensrechtlich von der Bindung
an das Strafprozessrecht gelöst und stattdessen eng an das Verwaltungsver-
fahrens- und Verwaltungsprozessrecht angelehnt (BTDrucks 14/4659, S. 33).
Sinnfällig wird dies durch die Streichung dese zeitgleiche Ein-
fügung der Verweisung i die ergänzend anzuwendenden Be-
stimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes und der Verwaltungsgerichts-
ordnung. Auf Regelungen der Strafprozessordnung wird nur noch punktuell in
den Fällen verwiesen, in denen auf sie nicht verzichtet werden kann (BTDrucks
14/4659 S. 34 f.; vgl. zum Ganzen auch Urteil vom 24. September 2009
- BVerwG 2 C 80.08 - BVerwGE 135, 24 = Buchholz 235.1 § 55 BDG Nr. 4, je-
weils Rn. 15).
Vorliegend hat nur die Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung ein-
gelegt, das den Beklagten um zwei Ämter zurückgestuft hatte. Allerdings ist hier
eine Durchbrechung des Verschlechterungsverbots zugunsten des Beklagten
geboten, um den Vorgaben von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Konven-
tion zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (EMRK) Rech-
nung zu tragen. Die unangemessen lange Dauer des Disziplinarverfahrens
muss zu einer Herabsetzung der Disziplinarmaßnahme auf eine Zurückstufung
um ein Amt führen.
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Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über
Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen
oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unab-
hängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen
Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dessen Rechtspre-
chung über den jeweils entschiedenen Fall hinaus Orientierungs- und Leitfunk-
tion für die Auslegung der EMRK hat, entnimmt Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ei-
nen Anspruch auf abschließende gerichtliche Entscheidung innerhalb ange-
messener Zeit. Die Angemessenheit der Dauer des Verfahrens ist aufgrund
einer Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der Schwierigkeit des Falles,
des Verhaltens der Parteien, der Vorgehensweise der Behörden und Gerichte
sowie der Bedeutung des Verfahrens für die Parteien zu beantworten. Dies gilt
auch für Disziplinarverfahren. Sie müssen innerhalb angemessener Zeit, d.h.
ohne schuldhafte Verzögerungen, unanfechtbar abgeschlossen sein. Dabei
sind behördliches und gerichtliches Verfahren als Einheit zu betrachten (vgl. nur
EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 - 8453/04 - NVwZ 2010, 1015 <1017>).
Für die innerstaatlichen Rechtsfolgen einer unangemessen langen Verfahrens-
dauer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ist zu beachten, dass diese Be-
stimmung nur Verfahrensrechte einräumt. Diese dienen der Durchsetzung und
Sicherung des materiellen Rechts; sie sind aber nicht darauf gerichtet, das ma-
terielle Recht zu ändern. Daher kann eine unangemessen lange Verfahrens-
dauer nicht dazu führen, dass den Verfahrensbeteiligten eine Rechtsstellung
zuwächst, die ihnen nach dem innerstaatlichen materiellen Recht nicht zusteht.
Vielmehr kann sie für die Sachentscheidung in dem zu lange dauernden Ver-
fahren nur berücksichtigt werden, wenn das materielle Recht dies vorschreibt
oder zulässt. Ob diese Möglichkeit besteht, ist durch die Auslegung der ent-
scheidungserheblichen materiellrechtlichen Normen und Rechtsgrundsätze zu
ermitteln. Bei dieser Auslegung ist das Gebot der konventionskonformen Ausle-
gung im Rahmen des methodisch Vertretbaren zu berücksichtigen (Urteil vom
28. Februar 2013 - BVerwG 2 C 3.12 - a.a.O. Rn. 50; Beschluss vom 16. Mai
2012 - BVerwG 2 B 3.12 - NVwZ-RR 2012, 609 Rn. 12).
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Daraus folgt für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme nach einem unan-
gemessen lange dauernden Disziplinarverfahren:
Ergibt die Gesamtwürdigung aller be- und entlastenden Umstände nach Maß-
gabe des § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG, dass wegen eines schwerwiegenden
Dienstvergehens die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis geboten ist, so
lässt sich der Verbleib im Beamtenverhältnis allein aufgrund einer unangemes-
sen langen Verfahrensdauer nicht mit dem Zweck der Disziplinarbefugnis, näm-
lich dem Schutz der Integrität des Berufsbeamtentums und der Funktionsfähig-
keit der öffentlichen Verwaltung, vereinbaren. Diese Schutzgüter und der
Grundsatz der Gleichbehandlung schließen es aus, dass ein Beamter, der
durch gravierendes Fehlverhalten im öffentlichen Dienst untragbar geworden
ist, weiterhin Dienst leisten und als Repräsentant des Dienstherrn hoheitliche
Befugnisse ausüben kann, weil das gegen ihn geführte Disziplinarverfahren
unangemessen lange gedauert hat. Das von dem Beamten zerstörte Vertrauen
kann nicht durch Zeitablauf und damit auch nicht durch eine verzögerte diszipli-
narrechtliche Sanktionierung schwerwiegender Pflichtenverstöße wiederherge-
stellt werden.
Ergibt die Gesamtwürdigung dagegen, dass eine pflichtenmahnende Diszipli-
narmaßnahme ausreichend ist, steht fest, dass der Beamte im öffentlichen
Dienst verbleiben kann. Hier kann das disziplinarrechtliche Sanktionsbedürfnis
gemindert sein, weil die mit dem Disziplinarverfahren verbundenen beruflichen
und wirtschaftlichen Nachteile positiv auf den Beamten eingewirkt haben. Unter
dieser Voraussetzung kann eine unangemessen lange Verfahrensdauer bei der
Bestimmung der Disziplinarmaßnahme aus Gründen der Verhältnismäßigkeit
mildernd berücksichtigt werden (zum Ganzen: BVerfG, Beschluss vom 4. Ok-
tober 1977 - 2 BvR 80/77 - BVerfGE 46, 17 <28 f.>; Kammerbeschluss vom
9. August 2006 - 2 BvR 1003/05 - DVBl 2006, 1372 <1373>; BVerwG, Urteile
vom 22. Februar 2005 - BVerwG 1 D 30.03 - juris Rn. 80, vom 8. Juni 2005
- BVerwG 1 D 3.04 - juris Rn. 27 und vom 29. März 2012 - BVerwG 2 A 11.10 -
juris Rn. 84 f.; Beschlüsse vom 13. Oktober 2005 - BVerwG 2 B 19.05 -
Buchholz 235.1 § 15 BDG Nr. 2 Rn. 8, vom 26. August 2009 - BVerwG 2 B
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66.09 - juris Rn. 11, vom 16. Mai 2012 a.a.O. Rn. 9 f. und vom 28. Februar
2013 - BVerwG 2 C 3.12 - a.a.O. Rn. 53 f.).
Da nach der Gesamtwürdigung der Beklagte im Dienst verbleibt, ist nach die-
sen Maßstäben die unangemessen lange Verfahrensdauer von mittlerweile
über 11 ½ Jahren zu seinen Gunsten zu berücksichtigen. Die Verfahrensverzö-
gerungen beruhten nicht auf einem Verhalten des Beamten, sondern auf der
Behandlung des Verfahrens durch die Gerichte und sind daher als unangemes-
sen anzusehen. Es liegt auf der Hand, dass die mit dem Disziplinarverfahren
verbundenen beruflichen und wirtschaftlichen Nachteile bei einer dermaßen
langen Verfahrensdauer zu einer erheblichen Belastung des Beklagten geführt
und positiv auf ihn eingewirkt haben. Eine bloße Verkürzung des Beförderungs-
verbots nach § 9 Abs. 3 BDG genügt nicht, um diese Belastungen auszuglei-
chen, sondern bei der Maßnahmebemessung ist aus Gründen der Verhältnis-
mäßigkeit von einer Zurückstufung um zwei Stufen auf eine solche um nur eine
Stufe zurückzugehen.
Das Verschlechterungsverbot nach §§ 129, 141 Satz 1 VwGO, § 3 BDG hindert
die Berücksichtigung einer unangemessenen langen Verfahrensdauer bei der
Bestimmung der Disziplinarmaßnahme zugunsten des Beamten nicht, wenn sie
erst nach Ablauf einer Rechtsmittelfrist eintritt. Hier kann dem Beamten nicht
zum Nachteil gereichen, dass er eine pflichtenmahnende Disziplinarmaßnahme
akzeptiert hat. Er konnte bei seiner Entscheidung, kein Rechtsmittel einzulegen,
nicht wissen, dass sich die verhängte Maßnahme wegen der Dauer des vom
Dienstherrn betriebenen Rechtsmittelverfahrens als überzogen erweisen würde.
In derartigen Fällen ist es nicht nur konventionsrechtlich, sondern auch verfas-
sungsrechtlich geboten, eine Ausnahme vom Verschlechterungsverbot und der
dadurch herbeigeführten Teilrechtskraft zuzulassen.
Der Schutz vor unangemessen langer Verfahrensdauer ist nicht nur im Konven-
tionsrecht verankert, er folgt auch aus dem Recht auf ein faires rechtsstaatli-
ches Verfahren und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Daraus folgt, dass der
Ablauf und insbesondere die Dauer des Disziplinarverfahrens wegen ihrer Aus-
wirkungen auf den Beamten bei der Bestimmung der Disziplinarmaßnahme in
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den Blick genommen werden müssen, wenn das materielle Disziplinarrecht dies
zulässt (zur Berücksichtigung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen im
Strafverfahren vgl. zuletzt BVerfG, Kammerbeschluss vom 8. April 2013 - 2 BvR
2567/10 - juris Rn. 16; vgl. auch Kammerbeschluss vom 21. Januar 2004
- 2 BvR 1471/03 - BVerfGK 2, 239 Rn. 29, 31; stRspr).
Eine unangemessen lange Dauer des Disziplinarverfahrens vermindert das dis-
ziplinarrechtliche Sanktionsbedürfnis, weil anzunehmen ist, dass das Verfahren
selbst den Betroffenen belastet. Die nachteiligen Wirkungen können der Sank-
tion gleichkommen (vgl. speziell zum Disziplinarverfahren BVerfG, Beschlüsse
vom 4. Oktober 1977 - 2 BvR 80/77 -<29>, vom 8. September
1993 - 2 BvR 1517/92 - NVwZ 1994, 574 und vom 9. August 2006 - 2 BvR
1003/05 - BVBl 06, 1372). In Folge des Zeitablaufs veränderte Lebensumstän-
de können Wirkungen, die von einer staatlichen Sanktion für das künftige Leben
des Betroffenen zu erwarten sind, verstärken.
Im vorliegenden Fall musste der Beklagte nach Erlass des erstinstanzlichen
Urteils nicht damit rechnen, dass es anschließend noch fast neun Jahre bis zu
einer rechtskräftigen Entscheidung dauern würde. Für ihn bestand auch kein
Anlass, selbst ein Rechtsmittel gegen die erstinstanzliche Entscheidung einzu-
legen, weil zum damaligen Zeitpunkt die auf eine Zurückstufung in das Ein-
gangsamt lautende Bemessungsentscheidung nicht zu beanstanden war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Dr. Heitz Dr. von der Weiden Thomsen
Dr. Hartung Dr. Kenntner
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Sachgebiet:
BVerwGE: ja
Beamtendisziplinarrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
BDG
§§ 3, 13, § 60 Abs. 2 Satz 2, § 64 Abs. 1 Satz 4,
§ 65 Abs. 1 Satz 1, § 70 Abs. 1
VwGO
§§ 129, 141
EMRK
Art. 6 Abs. 1
Stichworte:
Kollegendiebstahl; Geringwertigkeit; Vorbelastung; Verwertungsverbot; Berück-
sichtigung einer strafrechtlichen oder disziplinaren Vorbelastung; Polizistenma-
lus; Gesamtwürdigung aller be- und entlastenden Umstände; Funktionsfähigkeit
der öffentlichen Verwaltung; Rechtskraft; Verschlechterungsverbot; Disziplinar-
befugnis der Rechtsmittelgerichte; unangemessen lange Dauer des Disziplinar-
verfahrens als mildernder Umstand; Rechtskraftdurchbrechung bei unange-
messen langer Verfahrensdauer.
Leitsätze:
1. Eine Vorbelastung stellt einen belastenden Umstand bei der Gesamtwürdi-
gung nach § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG dar, wenn sie ein erhebliches Gewicht
hat und im zeitlichen Zusammenhang mit dem nunmehr zu beurteilenden
Dienstvergehen steht.
2. Die Stellung als Polizeibeamter kann bei der Gesamtwürdigung erschwerend
berücksichtigt werden, wenn der Pflichtenverstoß einen Bezug zu dieser Stel-
lung aufweist.
3. Die Rechtsmittelgerichte haben bei der Bestimmung der Disziplinarmaßnah-
me das Verschlechterungsverbot nach §§ 129, 141 Satz 1 VwGO, § 3 BDG zu
beachten.
4. Eine unangemessen lange Verfahrensdauer des Disziplinarverfahrens, die
erst im allein vom Dienstherrn betriebenen Rechtsmittelverfahren eintritt, kann
zugunsten des Beamten eine Ausnahme von dem prozessualen Verschlechte-
rungsverbot erforderlich machen.
Urteil des 2. Senats vom 25. Juli 2013 - BVerwG 2 C 63.11
I. VG Ansbach
vom 06.12.2004 - Az.: VG
AN 6a D 04.1963
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II. VGH München vom 22.09.2010 - Az.: VGH 16b D 08.314 -