Urteil des BVerwG vom 26.09.2012

Wartefrist, Nichtigerklärung, Wirkung Ex Tunc, Anpassung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 2 C 48.11
OVG 3 LB 20/10
Verkündet
am 26. September 2012
Melzer
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 26. September 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen
sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz, Dr. von der Weiden,
Dr. Hartung und Dr. Kenntner
für Recht erkannt:
Die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 20. Mai 2011 und des Schleswig-
Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 3. März 2010
sowie der Bescheid des Beklagten vom 18. September
2007 und dessen Widerspruchsbescheid vom 28. August
2008 werden aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, den Festsetzungsbescheid
vom 22. Juni 2006 für den Zeitraum ab Mai 2007 aufzuhe-
ben und die Versorgungsbezüge des Klägers für den Zeit-
raum ab Mai 2007 auf der Grundlage der ruhegehaltfähi-
gen Dienstbezüge aus dem Amt des Ersten Polizeihaupt-
kommissars, BesGr A 13 BBesO, festzusetzen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
G r ü n d e :
I
Der 1946 geborene Kläger stand als Polizist im Dienst des Landes Schleswig-
Holstein. Mit Wirkung vom 1. Dezember 2004 wurde er zum Ersten Polizei-
hauptkommissar (BesGr A 13 BBesO) befördert. Einen diesem Amt entspre-
chenden Dienstposten hatte der Kläger bereits seit Januar 2002 inne. Mit Ab-
lauf des 30. Juni 2006 trat der Kläger entsprechend der besonderen Altersgren-
ze für Polizeivollzugsbeamte in den Ruhestand.
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Unter Berufung darauf, dass der Kläger erst 19 Monate vor dem Eintritt in den
Ruhestand befördert worden war, setzte der Beklagte die Versorgungsbezüge
des Klägers nach den ruhegehaltfähigen Dienstbezügen des Amtes der BesGr
A 12 BBesO fest.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht durch Beschluss vom 20. März 2007 -
2 BvL 11/04 - (BVerfGE 117, 372) die dreijährige Wartefrist nach § 5 Abs. 3
Satz 1 BeamtVG für nichtig erklärt hatte, beantragte der Kläger, die bestands-
kräftige Versorgungsfestsetzung aufzugreifen und seine Versorgungsbezüge
nach den ruhegehaltfähigen Dienstbezügen des Amtes der BesGr A 13 BBesO
neu festzusetzen. Der Antrag und der Widerspruch des Klägers blieben erfolg-
los.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit im Wesentlichen folgender Begrün-
dung abgewiesen: Das Bundesverfassungsgericht habe auch entschieden,
dass die Wartefrist von zwei Jahren noch verfassungsgemäß sei. Nach der Ge-
setzeslage sei es unerheblich, dass der Kläger das zuletzt innegehabte Amt der
BesGr A 13 BBesO erheblich länger als zwei Jahre tatsächlich wahrgenommen
habe.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen und zur Begrün-
dung auf das Urteil des Verwaltungsgerichts verwiesen. Ergänzend hat es aus-
geführt: Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ergebe sich im
Umkehrschluss, dass es die Wartefrist von zwei Jahren auch unter Wegfall der
Möglichkeit der Anrechnung der Zeiten der tatsächlichen Wahrnehmung eines
Beförderungsamtes für verfassungsrechtlich zulässig erachtet habe. Da die
Entscheidung Gesetzeskraft habe, könne sich der Kläger nicht mit Erfolg auf die
früher im Gesetz enthaltene Anrechnungsmöglichkeit berufen.
Hiergegen richtet sich die vom Oberverwaltungsgericht zugelassene Revision
des Klägers, mit der er beantragt,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 20. Mai 2011 und des Schleswig-
Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 3. März 2010
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sowie den Bescheid des Beklagten vom 18. September
2007 und dessen Widerspruchsbescheid vom 28. August
2008 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den
Festsetzungsbescheid vom 22. Juni 2006 für den Zeit-
raum ab Mai 2007 aufzuheben und die Versorgungsbezü-
ge des Klägers für den Zeitraum ab Mai 2007 auf der
Grundlage der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge aus dem
Amt des Ersten Polizeihauptkommissars, BesGr A 13
BBesO, festzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Vertreter des Bundesinteresses verteidigt das Berufungsurteil.
II
Die Revision ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht und revi-
sibles Landesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 und 2 VwGO). Der Kläger hat einen An-
spruch darauf, dass der Beklagte den Versorgungsfestsetzungsbescheid für
den Zeitraum ab Mai 2007 aufhebt und seine Versorgungsbezüge für diesen
Zeitraum auf der Grundlage der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge aus dem Amt
des Ersten Polizeihauptkommissars, BesGr A 13 BBesO, festsetzt.
Der Anspruch des Klägers auf Aufhebung des Festsetzungsbescheids, soweit
in diesem für den Zeitraum ab Mai 2007 die Festsetzung der Versorgungsbezü-
ge des Klägers auf der Grundlage der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge eines
höheren Amtes als der BesGr A 12 BBesO abgelehnt worden ist, ergibt sich
aus § 118a Abs. 5 und § 116 Abs. 1 Satz 1 des Allgemeinen Verwaltungsgeset-
zes für das Land Schleswig-Holstein (- LVwG -) in der Fassung der Bekannt-
machung vom 2. Juni 1992 (GVOBl Schl.-H. S. 243). Nach diesen Vorschriften
kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar gewor-
den ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangen-
heit zurückgenommen werden. Entsprechend der für den Zeitraum ab Mai 2007
bestehenden Rechtslage sind die Versorgungsbezüge des Klägers sodann auf
der Grundlage der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge aus dem Amt BesGr A 13
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BBesO festzusetzen. Bei der maßgeblichen Wartefrist von zwei Jahren ist auch
die Zeit zu berücksichtigen, in der der Kläger vor seiner Ernennung die höher-
wertigen Funktionen des ihm später übertragenen Amtes des Ersten Polizei-
hauptkommissars tatsächlich wahrgenommen hat.
Der Versorgungsfestsetzungsbescheid ist im Zeitraum ab Mai 2007 insoweit
rechtswidrig, als in die Wartefrist nicht die Zeit eingerechnet worden ist, in der
der Kläger vor der Amtsübertragung die Aufgaben des höherwertigen Amtes
erfüllt hat. Da der Kläger die Aufgaben des Amtes eines Ersten Polizeihaupt-
kommissars bereits seit Januar 2002 wahrgenommen hat, hat er bei Eintritt in
den Ruhestand mit Ablauf des Juni 2006 die für die Festlegung der ruhegehalt-
fähigen Dienstbezüge maßgebliche Wartefrist von zwei Jahren erfüllt. Damit
sind für die Bestimmung der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge des Klägers die
Bezüge des Amtes des Ersten Polizeihauptkommissars, BesGr A 13 BBesO,
maßgebend (1). Das dem Beklagten nach § 116 Abs. 1 Satz 1 LVwG eröffnete
Ermessen ist zu Gunsten des Klägers dahingehend reduziert, dass der Beklag-
te den bestandskräftigen Versorgungsfestsetzungsbescheid für den Zeitraum
ab Mai 2007 mit der Folge aufheben muss, dass die Versorgungsbezüge ab
diesem Zeitpunkt nach dem höheren Amt festzusetzen sind (2).
1. Bei dem bestandskräftig gewordenen Versorgungsfestsetzungsbescheid
handelt es sich um einen Dauerverwaltungsakt. Er ist darauf gerichtet, eine lau-
fende Geldleistung zu gewähren und damit dauerhaft Rechtswirkungen zu ent-
falten. Nach dem durch § 49 Abs. 1 BeamtVG vorgegebenen Regelungsgehalt
ist dieser Bescheid die gesetzlich vorgeschriebene, rechtsverbindliche Mittei-
lung über die Höhe der Versorgungsbezüge. Wird festgestellt, dass der Be-
scheid in Bezug auf die Festsetzung der Versorgungsbezüge wegen eines
nachträglich eingetretenen Umstandes rechtswidrig geworden ist, sind für die
Aufhebung des Bescheids die Vorschriften über die Rücknahme eines rechts-
widrigen Verwaltungsakts, hier § 116 Abs. 1 Satz 1 LVwG, maßgebend (Urteile
vom 16. November 1989 - BVerwG 2 C 43.87 - BVerwGE 84, 111 <113 f.> =
Buchholz 232 § 87 BBG Nr. 64 S. 2 und vom 28. Juni 2012 - BVerwG 2 C 13.11
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BVerwGE und Buchholz vorgesehen>).
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Da der Kläger mit Ablauf des 30. Juni 2006 in den Ruhestand getreten ist, be-
stimmt sich sein Ruhegehalt nach den Vorschriften des Beamtenversorgungs-
gesetzes, die zu diesem Zeitpunkt galten. Danach ist für die Festlegung der
ruhegehaltfähigen Dienstbezüge des Klägers, aus denen sich nach § 4 Abs. 3
BeamtVG das Ruhegehalt berechnet, grundsätzlich § 5 BeamtVG in der Fas-
sung des Professorenbesoldungsreformgesetzes vom 16. Februar 2002 (-
BeamtVG F2002 -, BGBl I S. 686) maßgeblich. Die vom Land Schleswig-
Holstein erlassenen versorgungsrechtlichen Vorschriften, zum einen das Ge-
setz zur Überleitung des Bundesbesoldungsgesetzes, des Beamtenversor-
gungsgesetzes und ergänzender Vorschriften sowie Änderung dienstrechtlicher
Vorschriften vom 12. Dezember 2008 (GVOBl Schl.-H. S. 785) und zum ande-
ren das Gesetz zur Neuregelung des Besoldungs- und Beamtenversorgungs-
rechts in Schleswig-Holstein vom 26. Januar 2012 (GVOBl Schl.-H. S. 153),
sind auf die Festsetzung des Ruhegehalts von Landesbeamten, die bereits mit
Ablauf des Juni 2006 in den Ruhestand getreten sind, nicht anwendbar.
Zwar sah § 5 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG F2002 vor, dass ruhegehaltfähig nur die
Bezüge des vorher bekleideten Amtes sind, sofern ein Beamter aus einem Amt
in den Ruhestand getreten ist, das nicht der Eingangsbesoldungsgruppe seiner
Laufbahn angehört, und er die Dienstbezüge dieses oder eines mindestens
gleichwertigen Amtes vor dem Eintritt in Ruhestand nicht mindestens drei Jahre
erhalten hat. Das Bundesverfassungsgericht hat aber mit Beschluss vom 20.
März 2007 (- 2 BvL 11/04 - BVerfGE 117, 372) die Ausdehnung der Wartefrist
auf drei Jahre als mit Art. 33 Abs. 5 GG unvereinbar und § 5 Abs. 3 Satz 1
BeamtVG in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. März 1999 (BGBl I S.
322) für nichtig erklärt.
Entgegen der Annahme des Oberverwaltungsgerichts hat das Bundesverfas-
sungsgericht in seinem Beschluss vom 20. März 2007 (- 2 BvL 11/04 - a.a.O. S.
384 ff.) aber nicht mit Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) entschieden,
dass die Kombination aus einer Wartefrist von zwei Jahren und dem Wegfall
der Einrechnung von Zeiten der tatsächlichen Wahrnehmung der Aufgaben ei-
nes höherwertigen Amtes verfassungsrechtlich zulässig ist. Denn eine solche
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gesetzliche Regelung stand, weil sie vor dieser Entscheidung nie in Kraft war,
nicht zur verfassungsrechtlichen Prüfung an.
Aus § 79 Abs. 2 BVerfGG, der die Folgen der Nichtigerklärung einer gesetzli-
chen Regelung durch das Bundesverfassungsgericht für die auf dieser Norm
beruhenden unanfechtbaren Entscheidungen regelt, ergibt sich die grundlegen-
de Annahme des Gesetzgebers, dass die Rechtsfolge der Nichtigkeit eines Ge-
setzes mit Wirkung ex tunc eintritt (BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2005 -
1 BvR 1905/02 - BVerfGE 115, 51 <62>). Danach konnte das nichtige Gesetz
die zuvor bestehende gesetzliche Regelung nicht aufheben, so dass diese -
unerkannt - in Geltung geblieben ist (BVerfG, Beschlüsse vom 19. Juli 2000 - 1
BvR 539/96 - BVerfGE 102, 197 <208> und vom 21. November 2001 - 1 BvL
19/93, 1 BvR 1318, 1513, 2358/94, 308/95 - BVerfGE 104, 126 <149 f.>;
Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl., Rn. 457 f.).
Nach den allgemeinen Kollisionsregeln gilt für die Fortgeltung der scheinbar
verdrängten Normen zum einen, dass eine generelle Norm, der die nichtige
spezielle Norm nach dem Grundsatz lex specialis zuvor - scheinbar - vorging,
wieder anwendbar ist. Zum anderen sind ältere (auch spezielle) Vorschriften,
die von der nichtigen jüngeren (ebenfalls speziellen) Vorschrift sinngemäß oder
ausdrücklich aufgehoben worden sind, unverändert anzuwenden (vgl. Graßhof,
in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl., § 78 Rn. 17; Pestalozza, Ver-
fassungsprozessrecht, 3. Aufl., § 20 Rn. 127).
Nach diesen Grundsätzen ist infolge der Nichtigerklärung durch den Beschluss
des Bundesverfassungsgerichts vom 20. März 2007 (- 2 BvL 11/04 - a.a.O.) für
die Bestimmung der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge des Klägers nicht die all-
gemeine Vorschrift des § 5 Abs. 1 BeamtVG, sondern die früher geltende, spe-
zielle Vorschrift der zweijährigen Wartefrist des § 5 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG in
der Fassung des Reformgesetzes vom 24. Februar 1997 (- BeamtVG F1997 -,
BGBl I S. 322) maßgeblich. Ein Ausnahmefall, bei dem sich aus dem nichtigen
Reformgesetz ergibt, dass der Gesetzgeber den alten Zustand nicht lediglich
verbessern, sondern auf jeden Fall abschaffen wollte, so dass mangels Gültig-
keit der neuen Regelung keine spezielle Regelung besteht, liegt hier nicht vor
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(vgl. Graßhof, a.a.O.; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 78 Rn.
51). Aus den Materialien zum Versorgungsreformgesetz 1998 vom 29. Juni
1998 (- BeamtVG F1998 -, BGBl I S. 1666), durch das die Wartefrist auf drei
Jahre verlängert wurde, ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber an der Warte-
frist grundsätzlich festhalten wollte (Gesetzentwurf der Bundesregierung,
BTDrucks 13/9527, S. 37 zu Art. 6 Nr. 4).
Neben der generellen Regelung der Wartefrist von zwei Jahren des § 5 Abs. 3
Satz 1 BeamtVG F1997 sind auch die darauf bezogenen Ausnahmen und An-
rechnungsregelungen dieser Fassung anzuwenden. Zwar hat das Bundesver-
fassungsgericht im Beschluss vom 20. März 2007 (- 2 BvL 11/04 - a.a.O.) die
Ausnahmen und Anrechnungsregelungen des § 5 Abs. 3 Satz 3 und 4
BeamtVG F 1998 nicht für nichtig erklärt. Diese Regelungen sehen im Gegen-
satz zu § 5 Abs. 3 Satz 4 BeamtVG F1997 die Anrechnung von Beschäfti-
gungszeiten auf Beförderungsdienstposten vor der Beförderung auf die Warte-
zeit nicht mehr vor. Nach ihrem Wortlaut beziehen sie sich jedoch auf die War-
tefrist von drei Jahren und haben, weil diese Regelung infolge der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts vom 20. März 2007 (- 2 BvL 11/04 - a.a.O.) von
Anfang an nichtig ist, keinen Anwendungsbereich.
Die infolge der Nichtigerklärung des Bundesverfassungsgerichts maßgebliche
Regelung der zweijährigen Wartefrist (§ 5 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG F1997) steht
mit den Ausnahmevorschriften und den Anrechnungsregelungen der Absätze 3
bis 5 dieser Fassung in einem einheitlichen Regelungszusammenhang. Sie be-
ruhen auf einer einheitlichen gesetzgeberischen Entscheidung, so dass neben
der generellen Wartefrist von zwei Jahren auch wiederum die darauf bezoge-
nen Anrechnungsregelungen maßgeblich sind.
Die Grundsätze über die Teilnichtigkeit eines Gesetzes sind auf die hier vorlie-
gende Konstellation nicht in der Weise übertragbar, dass Teilelemente aus ver-
schiedenen Fassungen einer gesetzlichen Regelung von den Gerichten eigen-
verantwortlich zu einer Gesamtregelung zusammengefügt werden können (an-
ders VGH München, Beschluss vom 17. Januar 2012 - 3 BV 08.1947 - juris Rn.
52). Bei der Teilnichtigkeit ist entscheidend, ob von der gesetzlichen Regelung
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trotz der Nichtigkeit eines Teils ein Anwendungsrest bestehen bleibt, der für
sich genommen ein sinnvolles Regelungsgefüge darstellt und dessen Geltung
ohne den nichtigen Teil dem hypothetischen Willen des Normgebers entspricht
(BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 2010 - 2 BvL 16/09 - NVwZ-RR 2011,
387, Rn. 29). Kennzeichen des Grundsatzes der Teilnichtigkeit ist aber, dass
die Norm, die teilweise aufrechterhalten wird, von einem einheitlichen gesetz-
geberischen Willen getragen ist. Demgegenüber würden bei einer gleichzeitigen
Anwendung der zweijährigen Wartefrist des § 5 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG F1997
und der Anrechnungsregelungen des § 5 Abs. 3 Satz 3 und Abs. 4 BeamtVG
F1998 Elemente aus verschiedenen gesetzgeberischen Entscheidungen mit-
einander kombiniert. Es ist aber nicht die Aufgabe von Gerichten, aus verschie-
denen, vom Gesetzgeber zu unterschiedlichen Zeitpunkten geschaffenen Teil-
regelungen eine gesetzliche Gesamtregelung zusammenzustellen, die als sol-
che nie erlassen wurde und daher nicht von einem einheitlichen Willen des Ge-
setzgebers getragen ist. Die Schaffung eines aufeinander abgestimmten Sys-
tems von Wartefrist und Ausnahme- oder Anrechnungsregelungen ist allein Sa-
che des Gesetzgebers. Diesem Regelungsauftrag ist der Bundesgesetzgeber
durch das Dienstrechtsneuordnungsgesetz vom 5. Februar 2009 (Art. 4 Nr. 5
Buchst. b und c, BGBl I S. 160) auch nachgekommen. Auch das Land Schles-
wig-Holstein hat durch die oben genannten gesetzlichen Vorschriften die Warte-
frist umfassend neu geregelt.
Im Übrigen hat der Gesetzgeber mit einer Wartefrist nach § 5 Abs. 3 Satz 1
BeamtVG von zwei Jahren unter Anrechnung von Zeiten der Wahrnehmung der
Aufgaben des Beförderungsamtes die Grenze, bis zu der der Gesetzgeber nach
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den gemäß Art. 33 Abs. 5
GG zu beachtenden Grundsatz der Versorgung aus dem letzten Amt ein-
schränken kann, ausgeschöpft (BVerfG, Beschlüsse vom 7. Juli 1982 - 2 BvL
14/78, 2/79 und 7/82 - BVerfGE 61, 43 und vom 20. März 2007 - 2 BvL 11/04 -
a.a.O.).
Die danach anzuwendende Vorschrift des § 5 Abs. 3 Satz 4 BeamtVG F1997
bestimmt, dass Zeiten, in denen der Beamte vor der Amtsübertragung die hö-
herwertigen Funktionen des ihm später übertragenen Amtes tatsächlich wahr-
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genommen hat, in die Zweijahresfrist einzurechnen sind. Deshalb hat der Klä-
ger, weil die Zeiten der tatsächlichen Wahrnehmung der höherwertigen Funkti-
onen des Amtes des Ersten Polizeihauptkommissars seit Januar 2002 einzu-
rechnen sind, die maßgebliche Wartefrist erfüllt.
2. Das dem Beklagten nach § 116 Abs. 1 Satz 1 LVwG eröffnete Ermessen ist
infolge des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 20. März 2007
dahingehend reduziert, dass er den bestandskräftigen Versorgungsfestset-
zungsbescheid für den Zeitraum ab Mai 2007 aufheben muss. Als Folge hier-
von muss der Beklagte die Versorgungsbezüge des Klägers ab Mai 2007 auf
der Grundlage der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge aus dem Amt des Ersten
Polizeihauptkommissars, BesGr A 13 BBesO, festsetzen.
Dies ergibt sich aus der in § 79 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommenden
gesetzgeberischen Wertung. Sofern der Gesetzgeber die Reaktion auf die Nich-
tigerklärung einer gesetzlichen Vorschrift durch das Bundesverfassungsgericht
durch eine allgemeine Regel des Verwaltungsverfahrensrechts in das Ermes-
sen der Behörde stellt, muss sich dieses Ermessen an den Vorgaben des § 79
Abs. 2 BVerfGG ausrichten, wenn sich aus dem jeweiligen Fachgesetz, wie
hier, nichts anderes ergibt (Urteil vom 24. Februar 2011 - BVerwG 2 C 50.09 -
Buchholz 316 § 51 VwVfG Nr. 58 Rn. 14 ff.). Danach kann der Betroffene für
die Zukunft auch die Anpassung eines Dauerverwaltungsakts an die verfas-
sungsrechtlich klargestellte Rechtslage verlangen (Bethge, a.a.O. § 79 Rn. 53
m.w.N.; Graßhof, a.a.O. § 79 Rn. 31; Lechner/Zuck, BVerfGG, 6. Aufl., § 79 Rn.
13; Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Band III, §
70, Rn. 118 Fn. 912 m.w.N.).
Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bleiben die nicht mehr anfechtbaren Ent-
scheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm be-
ruhen, vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer beson-
deren gesetzlichen Regelung unberührt. Hierdurch hat der Gesetzgeber für die
Vergangenheit, d.h. für die Zeit vor der Nichtigerklärung, der Rechtssicherheit
den Vorrang vor der materiellen Gerechtigkeit eingeräumt. Unanfechtbare Ent-
scheidungen sollen trotz feststehender anfänglicher Rechtswidrigkeit für die
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Vergangenheit rechtswirksam bleiben. Ein Verwaltungsakt, der auf einer für
nichtig erklärten Norm beruht, ist unverändert Rechtsgrundlage für die von ihm
geregelten Rechtsbeziehungen. Die Behörde kann weder die vor der Nichtiger-
klärung zu Unrecht gewährten Leistungen zurückverlangen noch kann der Be-
günstigte für diese Zeit nachträglich höhere als die festgesetzten Leistungen
beanspruchen (BVerfG, Beschlüsse vom 11. Oktober 1966 - 1 BvR 164,178/64
- BVerfGE 20, 230 <235 f.> und vom 16. Januar 1980 - 1 BvR 127, 679/78 -
BVerfGE 53, 115 <130>; Bethge, a.a.O. § 79 Rn. 44).
Demgegenüber erklärt § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG die Vollstreckung aus unan-
fechtbaren Entscheidungen für unzulässig. Danach kann der Geltungsanspruch
der nach Satz 1 unberührt bleibenden Entscheidung, wozu in erster Linie Ver-
waltungsakte gehören (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1966- 1 BvR
164, 178/64 - a.a.O. S. 236), gegen den Willen des Betroffenen nicht mehr
durchgesetzt werden.
Somit stellt die Nichtigerklärung einer gesetzlichen Regelung durch das Bun-
desverfassungsgericht die zeitliche Grenze für den Geltungsanspruch der auf
der für nichtig erklärten Vorschrift beruhenden unanfechtbaren Entscheidungen
dar. Bis zur Nichtigerklärung der gesetzlichen Regelung gebührt der Rechtssi-
cherheit der Vorrang. Für den Zeitraum danach setzt sich demgegenüber das
Prinzip der materiellen Gerechtigkeit durch. Das Bundesverfassungsgericht hat
dementsprechend aus den Regelungen des § 79 Abs. 2 BVerfGG den allge-
meinen Rechtsgedanken abgeleitet, dass einerseits zwar unanfechtbar gewor-
dene fehlerhafte Akte der öffentlichen Gewalt nicht rückwirkend aufgehoben
und die in der Vergangenheit von ihnen ausgegangenen nachteiligen Wirkun-
gen nicht beseitigt werden, andererseits jedoch zukünftige Folgen, die sich aus
einer zwangsweisen Durchsetzung der verfassungswidrigen Entscheidung er-
geben würden, abgewendet werden sollen (stRspr, BVerfG, Beschlüsse vom
27. November 1997 - 1 BvL 12/91 - BVerfGE 97, 35 <48> und vom 6. Dezem-
ber 2005 - 1 BvR 1905/02 - BVerfGE 115, 51 <63> m.w.N.).
Dieser Rechtsgedanke ist auf Dauerverwaltungsakte wie Versorgungsfestset-
zungsbescheide, die nicht im engeren Sinne des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG
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vollstreckt werden, sondern die Grundlage für monatlich im Voraus zu zahlende
Versorgungsbezüge bilden, zu übertragen. Ihre Bestandskraft wird nur für die
Vergangenheit geschützt, so dass der Betroffene nicht unter Berufung auf die
Nichtigerklärung einer gesetzlichen Regelung für die Vergangenheit höhere
Leistungen beanspruchen kann. Demgegenüber gebührt für die Zukunft der
materiellen Gerechtigkeit, nicht der Rechtssicherheit der Vorrang, so dass der
Dauerverwaltungsakt an die Rechtslage anzupassen ist (Bethge, a.a.O. § 79
Rn. 53 m.w.N.; Graßhof, a.a.O. § 79 Rn. 31). Andernfalls müsste Dauerverwal-
tungsakten zeitlich unbegrenzte Geltung beigemessen werden, obwohl ihre ge-
setzliche Grundlage wegen der Nichtigerklärung weggefallen ist. Ihre nach dem
Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit gebotene Anpassung an die klarge-
stellte Rechtslage hinge dann von Zufälligkeiten ab, d.h. vom Eintritt von Um-
ständen, die die Behörde unabhängig von der Nichtigerklärung der gesetzlichen
Grundlage durch das Bundesverfassungsgericht zur Abänderung des Dauer-
verwaltungsakts veranlassen.
Auch die verfassungsrechtliche Verankerung des Versorgungsanspruchs des
Klägers spricht dafür, dass das nach § 116 Abs. 1 Satz 1 LVwG eröffnete Rück-
nahmeermessen nach dem Rechtsgedanken des § 79 Abs. 2 BVerfGG zu des-
sen Gunsten auf Null reduziert ist. Durch die bei Eintritt in den Ruhestand gel-
tenden Regeln hat der Gesetzgeber den Gestaltungsspielraum ausgeübt, der
ihm verfassungsrechtlich durch den Alimentationsgrundsatz eröffnet ist. Der
sich daraus ergebende Versorgungsanspruch genießt verfassungsrechtlichen
Schutz, weil ihn der Versorgungsberechtigte erdient hat (BVerfG, Beschluss
vom 20. März 2007 - 2 BvL 11/04 - a.a.O. S. 387 m.w.N.). Der Dienstherr behält
einen fiktiven Anteil der Dienstbezüge ein, um die Altersversorgung der Beam-
ten zu finanzieren (Urteil vom 27. Januar 2011 - BVerwG 2 C 25.09 - Buchholz
449.4 § 55b SVG Nr. 1 Rn. 22 m.w.N.).
Dem Anspruch des Klägers auf Anpassung des bestandskräftigen Versor-
gungsfestsetzungsbescheids an die Nichtigerklärung ab Mai 2007 steht auch
nicht die Aussage des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom
20. März 2007 (- 2 BvL 11/04 - a.a.O. S. 391) entgegen, wonach die auf der für
nichtig erklärten Vorschrift beruhenden, im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Ent-
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scheidung bereits bestandskräftigen Versorgungsfestsetzungsbescheide von
der Entscheidung unberührt bleiben. Diese Aussage bezieht sich, wie dem
Verweis auf den dort zitierten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom
28. April 1999 (- 1 BvL 32/95, 1 BvR 2105/95 - BVerfGE 100, 1 <58 f.>) unmit-
telbar zu entnehmen ist, auf die Zeit vor der Bekanntgabe des Beschlusses.
Die hier beantragte Anpassung der Versorgungsbezüge des Klägers an die
Nichtigerklärung der dreijährigen Wartefrist (§ 5 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG F1998)
durch das Bundesverfassungsgericht für den Zeitraum ab Mai 2007 könnte er-
messensfehlerfrei nur dann zeitlich hinausgeschoben werden, wenn hierfür ein
gewichtiger Grund bestünde, der eine unverzügliche Anpassung als unange-
messen erscheinen ließe (Urteil vom 24. Februar 2011 a.a.O. Rn. 24). Ein der-
artiger Grund liegt hier nicht vor.
Insbesondere kann die Anpassung des Versorgungsfestsetzungsbescheids
nicht von einem entsprechenden Antrag des Ruhestandsbeamten abhängig
gemacht werden. Das Antragserfordernis ist keine allgemeine ungeschriebene
Voraussetzung für beamtenrechtliche Ansprüche. Ein Antrag im Sinne einer
Rügeobliegenheit oder Hinweispflicht des Beamten kommt als ungeschriebene
Anspruchsvoraussetzung nur in Betracht, wenn es um nicht normativ festgeleg-
te Ansprüche geht. Der Versorgungsanspruch ist aber gesetzlich festgelegt und
kann deshalb nicht an einen solchen Antrag geknüpft werden (Urteil vom 26.
Juli 2012 - BVerwG 2 C 29.11 - juris Rn. 27
scheidungssammlungen BVerwGE und Buchholz vorgesehen>).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Domgörgen Dr. Heitz Dr. von der Weiden
Dr. Hartung Dr. Kenntner
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B e s c h l u s s
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird nach den Grundsätzen für den
Teilstatus (Beschluss vom 7. Oktober 2009 - BVerwG 2 C 48.07 - Buchholz 360
§ 52 GKG Nr. 11) auf 7 377,84 € festgesetzt (§ 47 Abs. 1 sowie § 52 Abs. 1
GKG; zweifacher Jahresbetrag der Differenz der Versorgungsbezüge).
Domgörgen Dr. Hartung Dr. Kenntner
Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Beamtenversorgungsrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
GG
Art. 33 Abs. 5
BeamtVG F1997
§ 5 Abs. 3
BeamtVG F1998
§ 5 Abs. 3 und 4
BeamtVG F2002
§ 5 Abs. 3 und 4
BVerfGG
§ 79 Abs. 2
LVwG Schl.-H.
§ 116 Abs. 1 Satz 1, § 118a Abs. 5
Stichworte:
Versorgungsbezüge; ruhegehaltfähige Dienstbezüge; Versorgung aus dem letz-
ten Amt; Festsetzungsbescheid; Dauerverwaltungsakt; Wartefrist; höherwertige
Funktionen; tatsächliche Wahrnehmung; Einrechnung; Anrechnungsregelung;
Nichtigerklärung; ex tunc-Wirkung; Teilnichtigkeit; Rücknahme für die Zukunft;
Reduzierung des Rücknahmeermessens auf Null.
Leitsatz:
Die Nichtigerklärung der dreijährigen Wartefrist des § 5 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG
F1998 durch das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 20. März 2007 - 2
BvL 11/04 - BVerfGE 117, 372) zieht die Unanwendbarkeit der darauf bezoge-
nen Ausnahme- und Anrechnungsregelungen nach sich. Bis zu einer gesetzli-
chen Neuregelung gilt die frühere Wartefrist von zwei Jahren mit den darauf
bezogenen Ausnahme- und Anrechnungsregelungen übergangsweise weiter.
Hat das Bundesverfassungsgericht die gesetzliche Grundlage eines Versor-
gungsfestsetzungsbescheids für nichtig erklärt, so kann der Betroffene für den
Zeitraum ab Bekanntgabe dieser Entscheidung die Aufhebung des Festset-
zungsbescheids und damit die Anpassung seiner Versorgungsbezüge an die
verfassungsrechtlich klargestellte Rechtslage verlangen. Das Ermessen der
Behörde zur Rücknahme des rechtswidrigen Versorgungsfestsetzungsbe-
scheids ist wegen des Rechtsgedankens des § 79 Abs. 2 BVerfGG und des
verfassungsrechtlichen Schutzes des Versorgungsanspruchs auf Null reduziert.
Urteil des 2. Senats vom 26. September 2012 - BVerwG 2 C 48.11
I.
VG Schleswig vom 03.03.2010 - Az.:
VG 11 A 176/08 -
II. OVG Schleswig vom 20.05.2011 - Az.: OVG 3 LB 20/10 -