Urteil des BVerwG vom 30.03.2006

Gleitende Arbeitszeit, Unabhängigkeit des Richters, Subjektives Recht, Freiheit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 2 C 42.04
Verkündet
OVG 1 A 651/02
am 30. März 2006
Schütz
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 30. März 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Albers und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dawin, Groepper, Dr. Bayer und
Dr. Heitz
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Oberver-
waltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom
6. Oktober 2004 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin ist im gehobenen Justizdienst des beklagten Landes bei einem
Amtsgericht als Rechtspflegerin in der Vormundschaftsabteilung tätig. Zum
1. Mai 1999 wurde dort durch Dienstvereinbarung zwischen dem Direktor des
Amtsgerichts und dem örtlichen Personalrat die gleitende Arbeitszeit eingeführt.
Daraufhin beantragte die Klägerin, sie als Rechtspflegerin von der Anwendung
der Dienstvereinbarung zu befreien; die Reglementierung der Arbeitszeit sowie
die Dienstzeitkontrolle stellten einen unzulässigen Eingriff in ihre gesetzlich ver-
ankerte sachliche Unabhängigkeit dar und behinderten sie in der ordnungsge-
mäßen Wahrnehmung ihrer Dienstaufgaben im Bereich des Vormundschafts-,
Pflegschafts- und Betreuungsrechts.
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Diesen Antrag lehnte der Direktor des Amtsgerichts ab. Widerspruch, Klage
und Berufung der Klägerin blieben erfolglos. Das Oberverwaltungsgericht hat
zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Die Klage sei nur als Feststellungsklage mit dem Ziel zulässig, die Nichtigkeit
der Dienstvereinbarung festzustellen, soweit sie die Klägerin in ihren Geltungs-
bereich einbeziehe. Der Beklagte dürfe nicht einseitig durch Verwaltungsakt von
dieser Dienstvereinbarung abweichen.
Die Klage sei aber nicht begründet. Die Klägerin sei an die Dienstvereinbarung
über die gleitende Arbeitszeit gebunden. Als Beamtin werde sie von dem per-
sönlichen Geltungsbereich der Vorschrift erfasst, die für eine Ausnahme oder
„Befreiung“ von Beschäftigten wie der Klägerin keine Grundlage biete. Die
Dienstvereinbarung sei auch nicht wegen Verstoßes gegen höherrangiges
Recht unwirksam; sie stimme mit den Regelungen des gesetzlichen Arbeitszeit-
rechts überein. Unbeschadet ihrer Funktion als Rechtspflegerin sei die Klägerin
Beamtin des gehobenen Justizdienstes und werde als solche von den allge-
meinen Arbeitszeitregelungen erfasst. Zwar ermöglichten diese die Anordnung,
einzelne Beamte oder Gruppen von Beamten von Regelungen über die gleiten-
de Arbeitszeit auszunehmen, allerdings fehlten insoweit Ermessensdirektiven
des höherrangigen Rechts, die eine Einbeziehung der Rechtspfleger in eine
solche Ausnahme geböten. Das Verfassungsrecht enthalte keine derartigen
Direktiven; statusrechtlich und auch im Sinne des Verfassungsrechts seien
Rechtspfleger keine Richter. Es bestehe deshalb kein Anlass, die für Richter
aus der Verfassung abgeleiteten Folgerungen deckungsgleich auf Rechtspfle-
ger zu übertragen. Auch das Rechtspflegergesetz bestimme nicht, dass
Rechtspfleger von der Einhaltung der Dienstzeiten zu befreien seien. Das Ge-
setz sehe zwar die sachliche Unabhängigkeit des Rechtspflegers vor, enthalte
aber nichts Eindeutiges über die Bindung an Dienstzeiten. Die sachliche Unab-
hängigkeit enthalte als Kernbestandteil die Weisungsfreiheit des Rechtspfle-
gers, die jedoch nicht zwangsläufig mit der Freistellung von Dienstzeiten ver-
knüpft sei; dies sei auch aus der Entstehungsgeschichte der Norm nicht abzu-
leiten. Rechtspfleger seien stärker in den allgemeinen Geschäftsbetrieb des
Gerichts eingebunden als Richter. Soweit die Einhaltung der allgemeinen
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Dienstzeiten zu Schwierigkeiten bei der Erfüllung der dem Rechtspfleger zuge-
wiesenen Aufgaben führe, seien diese im Rahmen der Gerichtsorganisation
ebenso unbürokratisch zu lösen, wie dies auch bei anderen Beamten möglich
sei, die aus dienstlichen Gründen außerhalb der regelmäßigen Dienstzeiten zur
Verfügung stehen müssten.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin, mit der sie die Ver-
letzung materiellen Rechts rügt. Sie beantragt,
die Urteile des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 6. Oktober 2004 und des Ver-
waltungsgerichts Köln vom 25. Oktober 2001 aufzuheben
und festzustellen, dass die allgemein für Beamte gelten-
den Arbeitszeitvorschriften für sie als Rechtspflegerin nicht
anwendbar sind.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Vertreterin des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren und verteidigt
das angefochtene Urteil.
II
Die Änderung des Feststellungsantrags im Revisionsverfahren stellt keine ge-
mäß § 142 Abs. 1 Satz 1 VwGO unzulässige Klageänderung dar. Denn damit
ist weder eine Änderung des Rechtsschutzziels noch des Sach- und Streit-
stands verbunden (vgl. Urteile vom 2. Juli 1982 - BVerwG 8 C 101.81 -
BVerwGE 66, 75 <78> und vom 21. Oktober 1993 - BVerwG 6 C 12.92 -
Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 320). Mit dem zunächst gestellten Antrag,
die Nichtigkeit der Dienstvereinbarung festzustellen, kann die Klägerin ihr
Rechtsschutzziel nicht erreichen, weil sie bei Nichtigkeit der Dienstvereinbarung
an die sich aus der Arbeitszeitverordnung ergebenden allgemeinen täglichen
Dienstzeiten gebunden wäre.
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Die Revision ist unbegründet. Das Berufungsurteil verletzt kein revisibles Recht.
Sowohl die Dienstvereinbarung zwischen dem Beklagten und dem Personalrat
als auch § 7 der Verordnung über die Arbeitszeit der Beamten im Lande Nord-
rhein-Westfalen vom 28. Dezember 1986 (GV.NRW. 1987, S. 15), zuletzt ge-
ändert durch Gesetz vom 17. Dezember 2003 (GV.NRW. 2003, S. 814)
- AZVO - sind mit höherrangigem Recht vereinbar. Die Klägerin hat keinen An-
spruch darauf, von der Pflicht freigestellt zu werden, die in der Dienstvereinba-
rung und in der genannten Verordnung festgelegten Dienststunden einzuhalten.
1. Wie sich aus § 1 Abs. 1 und 2 AZVO ergibt, unterfällt die Klägerin als Beam-
tin des gehobenen Justizdienstes den allgemein für Beamte geltenden Vor-
schriften. Diese sehen in § 7 AZVO vor, dass sie - nach Maßgabe der Dienst-
vereinbarung über die gleitende Arbeitszeit - ihren Dienst zu festen Zeiten zu
verrichten hat.
2. Aus § 9 des Rechtspflegergesetzes in der Fassung des Dritten Gesetzes zur
Änderung des Rechtspflegergesetzes vom 6. August 1998 (BGBl I S. 2030) und
späterer Änderungen - RPflG - ergibt sich nichts anderes. Nach dieser
Vorschrift ist der Rechtspfleger sachlich unabhängig und nur an Recht und Ge-
setz gebunden. Die Bestimmung modifiziert nicht die landesrechtlichen Arbeits-
zeitvorschriften.
Zu Unrecht leitet die Klägerin aus dem in § 9 RPflG verwendeten Begriff der
sachlichen Unabhängigkeit die Freiheit von der Pflicht her, Dienststunden ein-
zuhalten. Es gibt keinen Rechtssatz, dass sachliche Unabhängigkeit notwendi-
gerweise und ohne Rücksicht auf Status und Funktion des Betroffenen mit die-
ser Freiheit verbunden ist. Der Gesetzgeber kann sie hiermit verbinden, wenn
ihm dies im Hinblick auf die übertragene Aufgabe zweckmäßig erscheint, muss
es aber nicht.
§ 9 RPflG bestimmt, dass der Rechtspfleger bei der Erledigung der gemäß § 3
RPflG übertragenen Geschäfte keinen Weisungen unterliegt und insoweit von
der für Beamte geltenden Gehorsamspflicht (vgl. § 58 Satz 2 LBG; § 37 Satz 2
und 3 BRRG) entbunden ist. Weder eine Weisung im Einzelfall noch eine all-
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gemeine Dienstvorschrift dürfen dem Rechtspfleger vorschreiben, auf welche
Weise er seine rechtsanwendende Tätigkeit auszuüben und welche Entschei-
dungen er zu treffen hat.
Dagegen folgt aus der Verwendung des Begriffs der sachlichen Unabhängigkeit
in § 9 RPflG nicht, dass Rechtspfleger von den allgemein für Beamte geltenden
Arbeitszeitregelungen freigestellt sind. Ein solcher Bedeutungsgehalt des Be-
griffs liegt schon deshalb fern, weil dem Bundesgesetzgeber zu einer derartigen
Festlegung die Kompetenz fehlt. Das Recht des öffentlichen Dienstes ist Sache
der Länder, soweit dem Bund nicht die ausschließliche (Art. 73 Nr. 8 GG), die
konkurrierende (Art. 74a Abs. 1 GG) oder die Rahmengesetzgebung (Art. 75
Abs. 1 Nr. 1 GG) zusteht. Auf die Regelung der Arbeitszeit der Beamten er-
streckt sich die Gesetzgebungskompetenz des Bundes nicht. Ihm kann daher
mangels greifbarer Anhaltspunkte nicht unterstellt werden, er habe gleichwohl
eine derartige gesetzliche Regelung treffen wollen.
Eine Pflicht, Rechtspfleger von den allgemein für Beamte geltenden Dienst-
stundenregelungen auszunehmen, lässt sich auch nicht aus der Entstehungs-
geschichte, dem Sinn und Zweck oder dem Gesamtzusammenhang des
Rechtspflegergesetzes entnehmen: Die bis zur Novellierung im Jahr 1998 gel-
tende Vorgängerregelung des § 9 RPflG i.d.F. vom 5. November 1969 (BGBl I
S. 2065) sah vor, dass der Rechtspfleger bei seinen Entscheidungen nur dem
Gesetz unterworfen ist und selbständig entscheidet, soweit sich nicht aus dem
Gesetz etwas anderes ergibt. Dies wurde allgemein als gesetzliche Festlegung
der inhaltlichen Weisungsfreiheit des Rechtspflegers bei Erledigung der
Rechtspflegeraufgaben, nicht aber als Freistellung von Arbeitszeitregelungen
verstanden (BVerfG, Beschluss vom 20. Januar 1981 - 2 BvL 2/80 - BVerfGE
56, 110 <127>; BVerwG, Beschluss vom 15. Februar 1991 - BVerwG 2 B
19.91 - DokBer B 1991, 170; Dallmayer/Eickmann, RPflG, 1996, § 9 Rn. 5, 13
m.w.N.). Es bestand keine Absicht, die Beschränkung der Selbständigkeit auf
inhaltliche Weisungsfreiheit durch die Neufassung des § 9 RPflG im Jahr 1998
zu erweitern. Durch die Verwendung des Begriffs der sachlichen Unabhängig-
keit sollte der Inhalt des § 9 RPflG nicht geändert werden; die Änderung sollte
vielmehr rein sprachlicher Natur sein (vgl. BTDrucks 13/10244 S. 7 ff.).
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Mit Recht hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass das geltende Ar-
beitszeitrecht die Möglichkeit eröffnet, dienstlichen Bedürfnissen nach einer
Erfüllung der Dienstpflichten zu abweichenden Dienstzeiten sachgemäß zu
entsprechen (vgl. § 7 Abs. 2 AZVO). Mit diesen Möglichkeiten bleibt die Kläge-
rin aber innerhalb des für alle Beamten geltenden allgemeinen Arbeitszeit-
rechts.
3. Höherrangiges Bundesrecht zwingt zu keinem anderen Verständnis des § 9
RPflG. Art. 97 GG, den die Klägerin in diesem Zusammenhang hierfür unter
Hinweis auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 16. November 1990
- RiZ 2/90 (DRiZ 1991, 61 = NJW 1991, 1103) in Anspruch nimmt, spricht nicht
von sachlicher Unabhängigkeit, sondern von richterlicher Unabhängigkeit, die
die sachliche und die persönliche Unabhängigkeit des Richters umfasst und
nicht nur die Art und Weise seiner Aufgabenerledigung regelt, sondern konstitu-
tiv seinen Status definiert.
Der Status des Rechtspflegers ist von dem des Richters deutlich unterschieden.
Der Rechtspfleger ist Beamter des gehobenen Dienstes; seine Aufgabe ist eine
Funktion und keine Amtsbezeichnung. Aufgaben nach dem Rechtspfle-
gergesetz werden ihm nicht vom Präsidium des Gerichts zugewiesen, das sei-
nerseits richterliche Unabhängigkeit genießt, sondern vom Präsidenten des
Amtsgerichts als Behördenchef. Dieser kann die Geschäfte nach Bedarf vertei-
len und - anders als das Präsidium im Hinblick auf die richterlichen Geschäfte
(§ 21e Abs. 3 Satz 1 GVG) - diese Verteilung jederzeit ändern (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 25. Februar 2003 - 2 BvR 281/00 - BVerfGK 1, 55, Rn. 4;
BVerwG, Urteil vom 9. Juli 1964 - BVerwG 2 C 201.61 - BVerwGE 19, 112
<116>). Der dienstrechtliche Anspruch der Klägerin auf amtsangemessene Be-
schäftigung umfasst nicht den Anspruch, mit Geschäften betraut zu werden, die
nach dem Rechtspflegergesetz dem Rechtspfleger übertragen sind. Vielmehr
steht sie nach dem organisatorischen Ermessen des Leiters des Amtsgerichts
auch für andere Dienstgeschäfte einschließlich der Geschäfte der Urkundsbe-
amtin der Geschäftsstelle zur Verfügung (§ 27 Abs. 1 RPflG). Auch wenn der
Rechtspfleger ihm nach dem Rechtspflegergesetz übertragene Aufgaben erle-
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digt, kann ihm der Gerichtspräsident Weisungen erteilen, bestimmten Geschäf-
ten - etwa Grundbuchsachen - Vorrang einzuräumen und andere Aufgaben zu-
rückzustellen. Art. 92 und 97 GG, aus denen nach der Rechtsprechung sowohl
des Bundesverwaltungsgerichts als auch des Bundesgerichtshofs unmittelbar
von Verfassungs wegen die Freiheit der Richter von der Geltung arbeitszeitli-
cher Regelungen als Bestandteil der richterlichen Unabhängigkeit abzuleiten ist,
sind auf die Klägerin nicht anwendbar (vgl. Urteil vom 29. Oktober 1987
- BVerwG 2 C 57.86 - BVerwGE 78, 211 <213 f.> m.w.N.; BGH, Urteil vom
16. November 1990 - RiZ 2/90 - a.a.O.). Die Klägerin ist als Rechtspflegerin
keine Richterin, sondern Beamtin. Durch ihre Rechtspflegertätigkeit übt sie kei-
ne rechtsprechende Gewalt i.S.v. Art. 92 GG aus. Dem entspricht, dass sie
nicht mit richterlicher Unabhängigkeit gemäß Art. 97 Abs. 1 und 2 GG ausges-
tattet ist.
Diese in Art. 97 GG verankerte, vom Grundgesetz selbst in Art. 114 Abs. 2
Satz 1 als „richterliche Unabhängigkeit“ bezeichnete Rechtsstellung knüpft dar-
an an, dass die Rechtsprechung gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG eine eigene,
von der vollziehenden Gewalt getrennte Staatsgewalt darstellt. Diese in den
§§ 39 bis 42 DRiG auch einfachgesetzlich abgesicherte Unabhängigkeit fordert,
dass Richter weitestgehend keine Aufgaben der vollziehenden Gewalt über-
nehmen und vor deren Einflussnahmen soweit als möglich abgeschirmt werden
(vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Januar 1981 - 2 BvR 401, 606/76 - BVerfGE 55,
372 <389> m.w.N.). Die Nichtanwendung arbeitszeitrechtlicher Vorschriften auf
den Richter ist deswegen kein subjektives Recht und kein Privileg des Richters,
auf das er etwa verzichten könnte, sondern eine sachlich gebotene institu-
tionelle Vorkehrung gegen vermeidbare Einflussnahmen der Verwaltung auf die
gemäß Art. 92 Halbs. 1 GG allein den Richtern anvertraute Rechtsprechung.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Albers Prof. Dawin Groepper
Dr. Bayer Dr. Heitz
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B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren gemäß § 47
Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG auf 5 000 € festgesetzt.
Albers Groepper Dr. Bayer