Urteil des BVerwG vom 28.05.2003

Mehrarbeit, Freizeit, Ausnahme, Dienstleistung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
Verkündet
am 28. Mai 2003
Schütz
BVerwG 2 C 35.02
Justizobersekretärin
VG 5 A 239.01
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 28. Mai 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S i l b e r k u h l
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. D a w i n , Dr. K u g e l e ,
G r o e p p e r und Dr. B a y e r
für Recht erkannt:
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Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts
Berlin vom 15. März 2002 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I.
Der Kläger ist als Bundesbeamter im Beitrittsgebiet tätig. Er musste aufgrund einer unrichti-
gen Auslegung der Arbeitszeitvorschriften des Einigungsvertrages durch die Beklagte (vgl.
Urteil vom 21. Dezember 2000 - BVerwG 2 C 42.99 - Buchholz 232 § 72 BBG Nr. 37 S. 1 ff.)
mehrere Jahre lang Dienst mit einer Wochenarbeitszeit von 40 statt 38,5 Stunden leisten.
Seinen Antrag, ihm Mehrarbeitsvergütung zu gewähren, lehnte die Beklagte ab.
Die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage, mit der der Kläger Zahlung des in § 4
der Mehrarbeitsvergütung vorgesehenen Geldbetrages für die 38,5 Wochenstunden über-
steigende Arbeitszeit begehrt, hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Zur Begründung hat
es ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung, weil er keine
Mehrarbeit geleistet habe. Der Dienstherr habe keine Mehrarbeit angeordnet, sondern
40 Dienststunden als regelmäßige Wochenarbeitszeit gefordert. Der zusätzliche Dienst kön-
ne auch nicht nachträglich als Mehrarbeit genehmigt werden, weil es an den gesetzlichen
Merkmalen der Mehrarbeit fehle. Ein Schadensersatzanspruch entfalle, weil zusätzlich ge-
leisteter Dienst als Beamter kein Schaden sei. Ein Folgenbeseitigungsanspruch sei nicht auf
einen finanziellen Ausgleich gerichtet.
Mit der Sprungrevision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Er beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 15. März 2002 aufzuheben und nach
dem Klageantrag zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
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Der Vertreter des Bundesinteresses teilt die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts.
II.
Die Revision ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Zahlung ei-
nes Geldbetrages für seine die regelmäßige Arbeitszeit überschreitende Dienstleistung.
Der Klageanspruch kann - wovon das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen ist - nicht
als besoldungsrechtlicher Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung unmittelbar auf die gemäß
§ 48 Abs. 1 BBesG erlassene Verordnung über die Gewährung von Mehrarbeitsvergütung
an Beamte (MVergV) vom 13. März 1992 (BGBl I S. 529), neu bekannt gemacht in der Fas-
sung vom 13. Dezember 1998 (BGBl I S. 3494), gestützt werden. § 3 dieser Verordnung, die
einzige in Betracht kommende Anspruchsgrundlage, setzt nach seiner insoweit während des
gesamten hier in Rede stehenden Zeitraumes unverändert geltenden Fassung voraus, dass
der Beamte schriftlich angeordnete oder genehmigte Mehrarbeit geleistet hat, die aus zwin-
genden dienstlichen Gründen nicht durch Dienstbefreiung ausgeglichen werden kann. Bei
dem Dienst, den der Kläger über 38,5 Stunden wöchentlich hinaus geleistet hat, handelt es
sich nicht um Mehrarbeit im Rechtssinne. Es fehlt sowohl an der Anordnung oder Genehmi-
gung von Mehrarbeit durch den Dienstherrn als auch an den Voraussetzungen für die He-
ranziehung zu Mehrarbeit.
Anordnung und Genehmigung von Mehrarbeit sind Ermessensentscheidungen, die der
Dienstherr unter Abwägung der im konkreten Zeitpunkt maßgebenden Umstände zu treffen
hat. Der Dienstherr muss dabei prüfen, ob nach den dienstlichen Notwendigkeiten überhaupt
eine Mehrarbeit erforderlich ist und welchem Beamten sie übertragen werden soll (vgl. Urteil
vom 2. April 1981 - BVerwG 2 C 1.81 - Buchholz 237.7 § 78 a LBG Nordrhein-Westfalen
Nr. 2 S. 3). Eine derartige Entscheidung hat die Beklagte nach den tatsächlichen Feststel-
lungen im angefochtenen Urteil, an die der Senat gebunden ist (§ 137 Abs. 2, § 134 Abs. 4
VwGO), nicht getroffen. Durch die Aufstellung und Praktizierung des Dienstplans mit
40 Wochenstunden in der Dienststelle des Klägers hat die Beklagte keine Mehrarbeit im Um-
fang der die gesetzliche Wochenarbeitszeit übersteigenden Stunden angeordnet. Sie hat
vielmehr die regelmäßige Arbeitszeit rechtswidrig zu hoch festgesetzt.
Der zusätzlich geleistete Dienst kann nicht nachträglich als Mehrarbeit genehmigt werden.
Mehrarbeit darf nur angesetzt werden, wenn zwingende dienstliche Gründe dies erfordern
und sich die Mehrarbeit auf Ausnahmefälle beschränkt (§ 72 Abs. 2 Satz 1 BBG, § 7 Abs. 2
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AZV). Beide Voraussetzungen waren nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des
Verwaltungsgerichts „ersichtlich nicht“ gegeben.
Die Vergütungsregelung des § 3 MVergV ist eine eng begrenzte Ausnahme von dem Grund-
satz, dass der Beamte bei zwingenden dienstlichen Erfordernissen ohne Entschädigung
auch über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus Dienst zu tun hat (§ 72 Abs. 2 Satz 1 BBG,
§ 44 BRRG). Außerhalb der gesetzlich bestimmten Grenzen dieser Ausnahme verbleibt es
bei dem Grundsatz (vgl. Urteil vom 21. Februar 1991 - BVerwG 2 C 48.88 - BVerwGE 88, 60
<62>). Die strikte Gesetzesbindung der Besoldung (§ 2 Abs. 1 BBesG) schließt weiterge-
hende Ansprüche auf Vergütungen (§ 1 Abs. 2 Nr. 5 BBesG) aus.
Der Dienstherr darf allerdings nicht auf Dauer einen Teil seines Personalbedarfs durch He-
ranziehung der Beamten zur Dienstleistung über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus decken.
Mehrarbeit muss sich - wie gesetzlich ausdrücklich geboten - auf Ausnahmefälle beschrän-
ken und bei erheblicher zusätzlicher Belastung grundsätzlich durch Freizeit ausgeglichen
werden. Gegen eine rechtswidrige übermäßige zeitliche Beanspruchung kann der Beamte
sich jedoch durch Rechtsbehelfe - einschließlich der Inanspruchnahme vorläufigen Rechts-
schutzes - mit dem Ziel alsbaldiger Unterlassung zur Wehr setzen (vgl. Urteil vom 21. Feb-
ruar 1991, a.a.O. S. 62 f.). Außer dem unmittelbaren Rechtsschutz steht ihm ein Anspruch
auf Vergütung oder Entschädigung auch bei rechtswidriger längerer Heranziehung zum
Dienst über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus nicht zu.
Für einen Schadensersatzanspruch fehlt es jedenfalls an einem in Geld zu ersetzenden
Schaden. Zusätzlicher Dienst eines Beamten ist kein Schaden im Sinne des allgemeinen
Schadensersatzrechts. Für beamtenrechtliche Schadensersatzansprüche ist der Schadens-
begriff maßgebend, der den §§ 249 ff. BGB zugrunde liegt (stRspr; vgl. u.a. Urteile vom
21. Februar 1991 - BVerwG 2 C 48.88 - BVerwGE 88, 60 <63> m.w.N. und vom 10. Februar
2000 - BVerwG 2 A 4.99 - Buchholz 236.1 § 24 SG Nr. 18 S. 10). Danach ist mangels be-
sonderer Vorschriften Geldersatz nur bei einem Vermögensschaden, nicht bei einem imma-
teriellen Schaden zu leisten. Der Aufwand von Zeit und Arbeitskraft zur Leistung des zusätz-
lichen Dienstes und der damit verbundene Verlust von Freizeit als solcher sind kein durch
Geld zu ersetzender materieller Schaden (vgl. Urteile vom 21. Februar 1991, a.a.O., sowie
vom 5. November 1998 - BVerwG 2 A 2.98 - Buchholz 240 § 48 BBesG Nr. 7 S. 4; ebenso
BGH, Urteile vom 29. April 1977 - V ZR 236/74 - BGHZ 69, 34 <36> und vom 22. November
1988 - VI ZR 126/88 - BGHZ 106, 28 <31 f.>).
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Ein Folgenbeseitigungsanspruch kann nicht auf Schadensersatz oder Entschädigung in Geld
für rechtswidriges Verwaltungshandeln, sondern allein auf die Wiederherstellung des durch
einen rechtswidrigen hoheitlichen Eingriff veränderten rechtmäßigen Zustandes gerichtet
sein, der im Zeitpunkt des Eingriffs bestand (stRspr; vgl. Urteil vom 21. September 2000
- BVerwG 2 C 5.99 - Buchholz 237.1 Art. 86 BayLBG Nr. 10 S. 19 m. zahlr. w. N.).
Dass in Fällen wie dem vorliegenden kein Ausgleich in Geld zu gewähren ist, verstößt auch
nicht gegen höherrangiges Recht. Der Gesetzgeber war weder durch den Gleichheitssatz
(Art. 3 Abs. 1 GG) noch durch das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG)
gehalten, über den unmittelbaren Rechtsschutz gegen eine rechtswidrige Heranziehung zur
Dienstleistung über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus Schadens- oder sonstige Ausgleichs-
ansprüche in Geld zu gewähren. Der Gesetzgeber hat die Vergütung von Mehrarbeit im Be-
amtenrecht ausdrücklich nur als sachlich und zeitlich begrenzte Ausnahme vorgesehen. Im
Übrigen verbleibt es bei den Grundsätzen des Beamtenrechts, wonach der Beamte dem
Dienstherrn seine volle Arbeitskraft, wenn auch nach Maßgabe des Arbeitszeitrechts, zur
Verfügung stellt, als Gegenleistung dafür Anspruch auf amtsangemessene Alimentation in
Gestalt der Dienstbezüge hat und Mehrarbeit, soweit überhaupt, allein durch Freizeit ausge-
glichen wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Dr. Silberkuhl Prof. Dawin Dr. Kugele
Groepper Dr. Bayer
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 12 000 € festgesetzt
(pauschalierter Betrag der begehrten Mehrarbeitsvergütung für eine Mehrarbeit von
1,5 Stunden wöchentlich während der Zeit von Oktober 1992 bis Dezember 2000).
Dr. Silberkuhl Prof. Dawin Dr. Bayer
Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Beamtenrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
GG
Art. 3 Abs.1, Art. 19 Abs. 4
BRRG § 44
BBG § 72
BBesG § 1 Abs. 2 Nr. 5, § 2 Abs. 1, § 48 Abs. 1
AZV §§ 1, 7
BGB §§ 249 ff.
Stichworte:
Arbeitszeit der Bundesbeamten im Beitrittsgebiet; zu hoch festgesetzte Wochenarbeitszeit;
Freizeitausgleich; Mehrarbeitsvergütung; Schadensersatz in Geld wegen entgangener Frei-
zeit bei Mehrarbeit ohne Freizeitausgleich.
Leitsatz
Die im Beitrittsgebiet tätigen Bundesbeamten, die bis zum 31. Dezember 2000 Dienst mit
einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden leisten mussten, haben kei-
nen Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung oder auf Schadensersatz in Geld.
Urteil des 2. Senats vom 28. Mai 2003 - BVerwG 2 C 35.02
I. VG Berlin vom 15.03.2002 - Az.: VG 5 A 239.01 -