Urteil des BVerwG vom 29.08.2013

Veranstaltung, Dienstort, Dienstzeit, Anerkennung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 2 C 1.12
OVG 1 A 269/11
Verkündet
am 29. August 2013
Stowasser
Obersekretär
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 29. August 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen
sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz, Dr. von der Weiden,
Dr. Hartung und Dr. Kenntner
für Recht erkannt:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes
vom 7. Dezember 2011 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückver-
wiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger beansprucht die Anerkennung von Impfschäden aus einer Grippe-
schutzimpfung als Dienstunfall.
Der 1951 geborene Kläger stand bis zum Eintritt in den Ruhestand Ende März
2011 als Polizeioberkommissar im Dienst des Saarlandes. Im hier maßgeben-
den Zeitraum leistete er Dienst als Vollzugsbeamter; Dienstort war das Polizei-
revier in S.-B. Im November 2005 fuhr der Kläger mit Einverständnis des
Dienststellenleiters während der Dienstzeit mit einem Dienstwagen zum in
einem anderen Stadtteil von S. gelegenen Sitz des polizeiärztlichen Dienstes,
um sich dort gegen die Virusgrippe impfen zu lassen. Auf die kostenlose
Schutzimpfung war der Kläger durch einen Aushang im Polizeirevier aufmerk-
sam geworden. Im Jahr 2006 trat beim Kläger eine Störung der gesamten Mo-
torik der rechten Körperhälfte auf. Ursache hierfür ist eine Entzündung des Rü-
ckenmarks, die der Kläger auf die Schutzimpfung zurückführt.
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Der Beklagte lehnte den Antrag auf Anerkennung der Grippeschutzimpfung als
Dienstunfall ab. Das Verwaltungsgericht hat die nach erfolgloser Durchführung
des Vorverfahrens erhobene Klage abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht
hat die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil zurückgewiesen. Zur Begrün-
dung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Selbst wenn unterstellt werde, die Impfung sei die wesentliche Ursache für die
körperlichen Beschwerden des Klägers, habe dieser keinen Anspruch auf An-
erkennung der Impfung als Dienstunfall. Das schädigende Ereignis sei dem pri-
vaten Lebensbereich des Klägers zuzuordnen, weil der Kläger den Polizeiarzt
aus vorrangig privaten Gründen aufgesucht habe. Der Besuch beim Arzt wäh-
rend der Dienstzeit und die Impfung gehörten weder zu den Dienstaufgaben
des Klägers noch stünden sie damit im engen Zusammenhang.
Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, mit der er beantragt,
die Urteile des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes
vom 7. Dezember 2011 und des Verwaltungsgerichts des
Saarlandes vom 29. März 2011 sowie den Bescheid des
Beklagten vom 21. Mai 2008 in Gestalt des Wider-
spruchsbescheides vom 25. November 2008 aufzuheben
und den Beklagten zu verpflichten, die Grippeschutzimp-
fung vom 14. November 2005 als Dienstunfall mit den
Dienstunfallfolgen cerviale Myelitis in Höhe C2/C3 und
neurologische Beschwerden in der rechten Körperhälfte
anzuerkennen sowie die Hinzuziehung eines Bevollmäch-
tigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist mit der Maßgabe begründet, dass das Berufungsurteil aufzu-
heben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist
(§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts ver-
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letzt § 31 Abs. 1 BeamtVG in der Fassung des Gesetzes zur Regelung der Ver-
sorgung bei besonderen Auslandsverwendungen vom 21. Dezember 2004
(BGBl I S. 3592). Ob sich das Urteil aus anderen Gründen als richtig darstellt
(§ 144 Abs. 4 VwGO), kann der Senat mangels ausreichender tatsächlicher
Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts nicht entscheiden.
Für die Unfallfürsorge ist das Recht maßgeblich, das im Zeitpunkt des Unfaller-
eignisses gegolten hat, sofern sich nicht eine Neuregelung ausdrücklich Rück-
wirkung beimisst (Urteile vom 24. Oktober 1963 - BVerwG 2 C 10.62 -
BVerwGE 17, 59 <60>, vom 25. Oktober 2012 - BVerwG 2 C 41.11 - NVwZ-RR
2013, 320 Rn. 8 und vom 13. Dezember 2012 - BVerwG 2 C 51.11 - NVwZ-RR
2013, 522 Rn. 8).
Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG ist ein Dienstunfall ein auf äußerer Einwir-
kung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körper-
schaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes
eingetreten ist. Zum Dienst gehört nach Satz 2 Nr. 2 auch die Teilnahme an
dienstlichen Veranstaltungen. Die vom Dienstherrn des Klägers angebotene
und verantwortete Grippeschutzimpfung ist eine solche dienstliche Veranstal-
tung.
1. Das gesetzliche Merkmal „in Ausübung oder infolge des Dienstes“ verlangt
eine besonders enge ursächliche Verknüpfung des Ereignisses mit dem Dienst
(Urteile vom 24. Oktober 1963 a.a.O. S. 62 f., vom 18. April 2002 - BVerwG 2 C
22.01 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 12 S. 3, vom 15. November 2007
- BVerwG 2 C 24.06 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 18 Rn. 11 und vom
25. Februar 2010 - BVerwG 2 C 81.08 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 23
Rn. 17). Maßgebend hierfür ist der Sinn und Zweck der beamtenrechtlichen
Unfallfürsorgeregelung. Dieser liegt in einem über die allgemeine Fürsorge hi-
nausgehenden besonderen Schutz des Beamten bei Unfällen, die außerhalb
seiner privaten (eigenwirtschaftlichen) Sphäre im Bereich der in der dienstlichen
Sphäre liegenden Risiken eintreten, also in dem Gefahrenbereich, in dem der
Beamte entscheidend aufgrund der Anforderungen des Dienstes tätig wird.
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Ausgehend vom Zweck der gesetzlichen Regelung und dem Kriterium der Be-
herrschbarkeit des Risikos der Geschehnisse durch den Dienstherrn kommt
dem konkreten Dienstort des Beamten eine herausgehobene Rolle zu. Der
Beamte steht bei Unfällen, die sich innerhalb des vom Dienstherrn beherrsch-
baren räumlichen Risikobereichs ereignen, unter dem besonderen Schutz der
beamtenrechtlichen Unfallfürsorge. Zu diesem Bereich zählt der Dienstort, an
dem der Beamte seine Dienstleistung erbringen muss, wenn dieser Ort zum
räumlichen Machtbereich des Dienstherrn gehört. Risiken, die sich hier wäh-
rend der Dienstzeit verwirklichen, sind dem Dienstherrn zuzurechnen, unab-
hängig davon, ob die Tätigkeit, bei der sich der Unfall ereignet hat, dienstlich
geprägt ist. Eine Ausnahme gilt nur für den Fall, dass diese Tätigkeit vom
Dienstherrn verboten ist oder dessen wohlverstandenen Interessen zuwiderläuft
(Urteile vom 15. November 2007 a.a.O. Rn. 13 und vom 22. Januar 2009 -
BVerwG 2 A 3.08 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 21 Rn. 14; Beschluss
vom 26. Februar 2008 - BVerwG 2 B 135.07 - Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG
Nr. 20 Rn. 7).
Dienstort im dienstunfallrechtlichen Sinne ist derjenige Ort, an dem der Beamte
die ihm übertragenen dienstlichen Aufgaben zu erledigen hat. Sind dem Beam-
ten für gewisse Zeit Aufgaben zugewiesen, die er nicht an seinem üblichen
Dienstort, insbesondere nicht an seinem Arbeitsplatz in einem Dienstgebäude,
sondern an einem anderen Ort wahrnehmen muss, so wird dieser Ort für die
Dauer der Aufgabenerledigung vorübergehend Dienstort (Urteile vom 22. Janu-
ar 2009 a.a.O. Rn. 15 und vom 25. Februar 2010 a.a.O. Rn. 19).
Mit dem Merkmal „infolge des Dienstes“ werden die Fälle erfasst, in denen die
den Dienstunfall kennzeichnende Kausalkette zwischen dem den Schaden aus-
lösenden Ereignis und dem Eintritt des Körperschadens zwar während der Er-
füllung der Dienstobliegenheiten durch den Beamten begonnen, aber erst nach
deren Abschluss ihr Ende gefunden hat (Urteile vom 28. Januar 1971 - BVerwG
2 C 136.67 - BVerwGE 37, 139 <143> = Buchholz 232 § 135 BBG Nr. 42 S. 27
und vom 29. Oktober 2009 - BVerwG 2 C 134.07 - BVerwGE 135, 176 =
Buchholz 239.1 § 31 BeamtVG Nr. 22, jeweils Rn. 14).
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Die Zuordnung der Grippeschutzimpfung zur Risikosphäre des Dienstherrn
nach den Kriterien Dienstzeit und Dienstort scheidet hier aus. Zwar ließ sich der
Kläger nach den nach § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststel-
lungen des Oberverwaltungsgerichts während der Dienstzeit impfen. Das
Dienstgebäude des polizeiärztlichen Dienstes war jedoch zum Zeitpunkt der
Impfung nicht der Dienstort des Klägers. Der Kläger hatte seine dienstlichen
Pflichten im Polizeirevier zu erfüllen. Der Dienstherr hatte das Dienstgebäude
des polizeiärztlichen Dienstes auch nicht für die Dauer der Impfung zum
Dienstort des Klägers bestimmt. Der Beklagte hatte den Kläger weder angewie-
sen, sich beim polizeiärztlichen Dienst impfen zu lassen, noch hatte er auch nur
eine entsprechende Empfehlung ausgesprochen.
2. Die Grippeschutzimpfung ist aber eine dienstliche Veranstaltung im Sinne
von § 31 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BeamtVG, sodass sie der dienstlichen Risikosphä-
re zuzurechnen ist und die Teilnahme an ihr als Dienstunfall anzuerkennen ist.
Mit der ausdrücklichen Aufführung der dienstlichen Veranstaltung in § 31 Abs. 1
Satz 2 Nr. 2 BeamtVG hat der Gesetzgeber den gesetzlichen Dienstunfallbegriff
nicht erweitert. Es sollte lediglich klargestellt werden, dass neben dem eigentli-
chen Dienst auch dienstliche Veranstaltungen zum Dienst gehören (Urteil vom
19. April 1967 - BVerwG 6 C 96.63 - Buchholz 232 § 135 BBG Nr. 32 S. 88).
Veranstaltungen sind kollektive - für alle Beamten des Dienstherrn oder einer
Behörde oder für einen bestimmten Kreis von Bediensteten - geschaffene Maß-
nahmen oder Einrichtungen. Die Veranstaltung muss formell und materiell
dienstbezogen sein. Um ihre entscheidende Prägung durch die dienstliche
Sphäre zu erhalten, muss eine Veranstaltung im Zusammenhang mit dem
Dienst stehen, dienstlichen Interessen dienen und, sei es unmittelbar oder mit-
telbar, von der Autorität eines Dienstvorgesetzten getragen und damit in den
weisungsgebundenen Dienstbereich einbezogen sein (Urteile vom 13. August
1973 - BVerwG 6 C 26.70 - BVerwGE 44, 36 <38> = Buchholz 232 § 135 BBG
Nr. 51 S. 54 f. und vom 14. Dezember 2004 - BVerwG 2 C 66.03 - Buchholz
239.1 § 45 BeamtVG Nr. 6 S. 11). Der Dienstvorgesetzte muss die Veranstal-
tung nicht ausdrücklich oder förmlich als „dienstlich“ bezeichnet haben. Maßge-
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blich ist, ob aus dem Verhalten des Dienstvorgesetzten unter Berücksichtigung
aller sonstigen objektiven Umstände auf einen entsprechenden Willen ge-
schlossen werden kann (Urteil vom 13. August 1973 a.a.O. S. 57).
Nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts sind diese
Voraussetzungen für die Annahme einer dienstlichen Veranstaltung hier erfüllt.
Die Grippeschutzimpfung lag vollständig in der Verantwortung des Dienstherrn
des Klägers. Denn er hatte die Impfung sämtlichen Bediensteten seines Ge-
schäftsbereichs durch einen Aushang angeboten. Durch die Schilderung der
echten Virusgrippe als lebensbedrohliche Erkrankung sowie durch den Hinweis
auf die gute Verträglichkeit des Impfstoffs hatte er sein Interesse an der Teil-
nahme der Beschäftigten deutlich zum Ausdruck gebracht. Der Beklagte gestat-
tete es, dass sich die Bediensteten während der Dienstzeit impfen lassen konn-
ten. Vor allem aber bestimmte der Beklagte den Impfstoff, stellte das Personal
und die Räumlichkeiten zur Verfügung und übernahm auch sämtliche Kosten
der Impfung. Zudem lag die Impfung auch objektiv im dienstlichen Interesse des
Beklagten, weil bei geimpften Bediensteten das Risiko geringer ist, krankheits-
bedingt auszufallen.
Der Annahme einer dienstlichen Veranstaltung steht schließlich nicht entgegen,
dass der Beklagte seinen Bediensteten die Teilnahme an der Impfung freige-
stellt hatte. Der Begriff der dienstlichen Veranstaltung setzt, wie etwa bei einem
Betriebsausflug oder einer Weihnachtsfeier, nicht voraus, dass der Dienstvor-
gesetzte die Teilnahme aller Beamten seiner Dienststelle angeordnet hat oder
ihre Teilnahme erwartet (Plog/Wiedow, BeamtVG, § 31 Rn. 102).
Das Oberverwaltungsgericht hat nunmehr zu klären, ob die Grippeschutzimp-
fung tatsächlich die wesentliche Ursache für die beim Kläger diagnostizierte
Erkrankung ist (vgl. Urteil vom 18. April 2002 - BVerwG 2 C 22.01 - Buchholz
239.1 § 31 BeamtVG Nr. 12 S. 3).
Domgörgen Dr. Heitz Dr. von der Weiden
Dr. Hartung Dr. Kenntner
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Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Beamtenrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquelle:
BeamtVG
§ 31 Abs. 1
Stichworte:
Dienstunfall; Dienstzeit und Dienstort; Grippeschutzimpfung; dienstliche Veran-
staltung; dienstliches Interesse; Impfstoff; Kostenübernahme; Risikosphäre des
Dienstherrn; private Risikosphäre des Beamten.
Leitsatz:
Eine freiwillige Grippeschutzimpfung ist eine dienstliche Veranstaltung im Sinne
von § 31 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BeamtVG, wenn sie vollständig in der Verantwor-
tung des Dienstherrn liegt und auch dienstlichen Interessen dient.
Urteil des 2. Senats vom 29. August 2013 - BVerwG 2 C 1.12
I. VG Saarland vom 29.03.2011 - Az.: VG 2 K 1879/08 -
II. OVG Saarland vom 07.12.2011 - Az.: OVG 1 A 269/11 -