Urteil des BVerwG vom 10.09.2010

Beamtenverhältnis, Disziplinarverfahren, Strafverfahren, Betrug

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 97.09
VGH 16b D 08.139
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. September 2010
durch den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Thomsen und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung
beschlossen:
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom
27. Mai 2009 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof
zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechts-
streit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 69 BDG zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen ist. Die
Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil das Beru-
fungsurteil auf der vom Beklagten geltend gemachten Verletzung seines An-
spruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG beruht.
Der Beklagte, ein Bundesbahnobersekretär, wurde im Jahr 1999 wegen fahr-
lässiger Trunkenheit im Verkehr und im Jahr 2001 wegen Urkundenfälschung in
Tateinheit mit versuchtem Betrug jeweils zu einer Geldstrafe verurteilt. Im Jahr
2003 wurde gegen den Beklagten wegen Urkundenfälschung in Tatmehrheit mit
13 sachlich zusammenhängenden Fällen des Missbrauchs von Scheck- und
Kreditkarten eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verhängt, die zur
Bewährung ausgesetzt wurde. Die jeweils sachgleichen Disziplinarverfahren
wurden eingestellt (§ 27 BDO und § 32 Abs. 1 Nr. 3 BDG). Im November 2006
wurde der Beklagte wegen versuchten Betrugs in zwei Fällen, in einem Fall in
Tateinheit mit Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 11 Mona-
ten verurteilt, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auf die sachgleiche
Disziplinarklage erkannte das Verwaltungsgericht wegen eines außerdienstli-
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chen Dienstvergehens auf Entfernung aus dem Beamtenverhältnis. Der Verwal-
tungsgerichtshof hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.
1. Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich
nicht nur zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt, sondern
auch zur Rechtslage zu äußern, und verpflichtet das Gericht, den Vortrag der
Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei kann es
in besonderen Fällen auch geboten sein, die Verfahrensbeteiligten auf eine
Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gericht der Entscheidung zugrunde
legen will. Es kann im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtsla-
ge gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtli-
chen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger
Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer
Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte. Allerdings ist zu beachten,
dass das Gericht grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem
Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet ist. Auch wenn die Rechtslage
umstritten oder problematisch ist, müssen daher die Verfahrensbeteiligten
grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Be-
tracht ziehen und ihren Vortrag darauf einstellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom
19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <144 f.> und Urteil vom 14. Juli
1998 - 1 BvR 1640/97 - BVerfGE 98, 218 <263> jeweils m.w.N.).
Nach diesen Grundsätzen war das Berufungsgericht verpflichtet, vor seiner
Entscheidung über die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichts diesen darauf hinzuweisen, dass es aufgrund der gegen den Be-
klagten ausgesprochenen Freiheitsstrafe von 11 Monaten bei einem außer-
dienstlichen Dienstvergehen von der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis
quasi als Regelmaßnahme ausgehen würde, von der nur bei Vorliegen beson-
derer, gewichtiger Milderungsgründe abgewichen werden kann. Wie die Aus-
führungen auf Seite 13 des Berufungsurteils belegen, ist der Verwaltungsge-
richtshof der Sache nach davon ausgegangen, dass die Verhängung einer
Freiheitsstrafe im Strafverfahren, die nur wenig unterhalb der sich aus § 48
Satz 1 Nr. 1 BBG a.F. (§ 41 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BBG) ergebenden Grenze liegt,
für das Disziplinarverfahren ohne Weiteres die Dienstentfernung nach sich
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zieht. Diese Rechtsansicht widerspricht der Rechtsprechung des Disziplinarse-
nats des Bundesverwaltungsgerichts zur Bedeutung einer im Strafverfahren
verhängten Freiheitsstrafe für die Bemessung der Disziplinarmaßnahme im
sachgleichen Disziplinarverfahren. Der Disziplinarsenat hat in dem im Beru-
fungsurteil genannten Urteil vom 8. März 2005 (BVerwG 1 D 15.04 - Buchholz
232 § 77 BBG Nr. 24 S. 16) festgestellt, dass wegen der Eigenständigkeit des
Disziplinarrechts der strafrechtlichen Einstufung des Falles durch das Strafmaß
im eigentlichen Sinne keine präjudizielle Bedeutung für die Bemessung der
Disziplinarmaßnahme zukommt. Demnach ist es ausgeschlossen, vom Aus-
spruch einer Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr zwingend auf die
Dienstentfernung zu schließen, ohne weitere bemessungsrelevante Umstände
i.S.d. § 13 Abs. 1 BDG in den Blick zu nehmen. Dies gilt zumal in Betrugsfällen,
in denen stets eine Abwägung der fallbezogenen erschwerenden und entlas-
tenden Umstände stattzufinden hat, wobei der Höhe des Schadens besondere
Bedeutung zukommt (vgl. unten S. 5 f.).
Ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter muss auch unter Berück-
sichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht damit rechnen,
dass ein Gericht ohne Hinweis in einer für den Ausgang des Verfahrens ent-
scheidenden Frage von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht.
Ausweislich der dem Senat vorliegenden Gerichtsakten bot der Ablauf des ge-
richtlichen Verfahrens aus Sicht des Beklagten bis zur Zustellung des Beru-
fungsurteils auch keine Veranlassung, die Rechtsprechung des Bundesverwal-
tungsgerichts zur Bedeutung der im sachgleichen Strafverfahren verhängten
Freiheitsstrafe für die Bemessung der Disziplinarmaßnahme anzusprechen und
vorsorglich einer Abweichung von diesen Grundsätzen entgegenzutreten. Der
Beklagte ist davon überrascht worden, dass das Berufungsgericht die Dienst-
entfernung in Abweichung von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung aus-
schließlich auf die verhängte Freiheitsstrafe gestützt hat.
Das Berufungsurteil beruht auch auf dem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei Berück-
sichtigung des Vorbringens, das der Beklagte in der Beschwerdebegründung
dargelegt hat, zu einer ihm günstigeren Entscheidung gelangt wäre (vgl.
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BVerfG, Beschluss vom 8. Februar 1994 - 1 BvR 765, 766/89 - BVerfGE 89,
381 <392 f.>). Hätte das Berufungsgericht den Beklagten vor dem Urteil über
seine Erwägungen zur Bedeutung einer Freiheitsstrafe für die Bemessung der
Disziplinarmaßnahme in Kenntnis gesetzt, so hätte der Beklagte seinerseits
darauf verweisen können, dass diese mit den Grundsätzen des Bundesverwal-
tungsgerichts zum Verhältnis von Freiheitsstrafe und Bemessung einer Diszipli-
narmaßnahme gerade nicht in Einklang stehen. Dies hätte dazu führen können,
dass das Berufungsgericht seinen Bemessungserwägungen eine mildere Dis-
ziplinarmaßnahme als die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis zugrunde ge-
legt hätte.
2. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
Nach der Grundsatzentscheidung des Disziplinarsenats vom 30. August 2000
- BVerwG 1 D 37.99 (BVerwGE 112, 19), die das Leitbild des Beamten als Vor-
bild für den Rest der Bevölkerung in allen Lebenslagen verabschiedet hat, hat
der Senat im Urteil vom 25. März 2010 - BVerwG 2 C 83.08 (zur Veröffentli-
chung in BVerwGE bestimmt) zwar zur Auslegung gesetzlicher Begriffe wie
„besondere Eignung zur Vertrauensbeeinträchtigung“ auf das Strafrecht abge-
stellt. Er hat aber auch in dieser Entscheidung hervorgehoben, dass nur vor-
sätzlich begangene schwerwiegende Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe
geahndet worden sind, auch ohne Bezug auf das konkrete Amt zu einer Anse-
hensschädigung führen. Wie schwerwiegend eine außerdienstliche Straftat ist,
hängt unter anderen von den Umständen des konkreten Einzelfalles (hier ver-
suchter Betrug) und vom Strafrahmen für die verwirklichten Delikte (hier: 5 Jah-
re im Höchstmaß) ab. Der Senat hat deshalb lediglich für den Ausnahmefall des
außerdienstlichen sexuellen Missbrauch eines Kindes gemäß § 176 Abs. 1
StGB (Rn. 18 und LS, a.a.O.) entschieden, dass aufgrund der Schwere eines
solchen Dienstvergehens gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG als Richtschnur für
die Maßnahmebemessung die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis bzw. die
Aberkennung des Ruhegehalts zugrunde gelegt werden kann.
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Bei einem außerdienstlich begangenen Betrug ist die Variationsbreite, in der
gegen fremdes Vermögen gerichtete Verfehlungen denkbar sind, zu groß, als
dass sie einheitlichen Regeln unterliegen und in ihren Auswirkungen auf Ach-
tung und Vertrauen gleichermaßen eingestuft werden können. Stets sind die
besonderen Umstände des Einzelfalls maßgebend. In Fällen des innerdienstli-
chen Betrugs zum Nachteil des Dienstherrn ist der Beamte in der Regel aus
dem Dienst zu entfernen, wenn im Einzelfall Erschwerungsgründe vorliegen,
denen keine Milderungsgründe von solchem Gewicht gegenüberstehen, dass
eine Gesamtbetrachtung nicht den Schluss rechtfertigt, der Beamte habe das
Vertrauen endgültig verloren. Je gravierender die Erschwerungsgründe in ihrer
Gesamtheit zu Buche schlagen, desto gewichtiger müssen die Milderungsgrün-
de sein, um davon ausgehen zu können, dass noch ein Rest an Vertrauen zum
Beamten vorhanden ist. Erschwerungsgründe können sich z.B. aus Anzahl und
Häufigkeit der Betrugshandlungen, der Höhe des Gesamtschadens, der miss-
bräuchlichen Ausnutzung der dienstlichen Stellung oder dienstlich erworbener
Kenntnisse sowie daraus ergeben, dass die Betrugshandlung im Zusammen-
hang mit weiteren Verfehlungen von erheblichem disziplinarischen Eigenge-
wicht, z.B. mit Urkundenfälschungen stehen (Urteile vom 28. November 2000
- BVerwG 1 D 56.99 - Buchholz 232 § 54 Satz 2 BBG Nr. 23; vom
26. September 2001 - BVerwG 1 D 32.00 - Buchholz 232 § 77 BBG Nr. 18 und
vom 22. Februar 2005 a.a.O.; Beschluss vom 14. Juni 2005 - BVerwG 2 B
108.04 - NVwZ 2005, 1199 <1200>). Aus der Senatsrechtsprechung lässt sich
der Grundsatz ableiten, dass beim einem Gesamtschaden von über 5 000 € die
Entfernung aus dem Dienst ohne Hinzutreten weiterer Erschwerungsgründe
gerechtfertigt sein kann (Beschluss vom 24. Februar 2005 - BVerwG 1 D 1.05 -
juris m.w.N.). Derartige Bemessungsgrundsätze gelten auch für außerdienstli-
che Betrugsfälle und Veruntreuungen (Urteil vom 24. November 1998 - BVerwG
1 D 36.97 - Buchholz 232 § 54 Satz 3 BBG Nr. 16; Beschluss vom 3. Juli 2007
- BVerwG 2 B 18.07 - Buchholz 235.1 § 69 BDG Nr. 1 Rn. 12).
Für die Zumessungsentscheidung müssen weiter die in § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4
BDG genannten Bemessungskriterien ermittelt und mit dem ihnen zukommen-
den Gewicht eingestellt werden. Insoweit kann von Bedeutung sein, dass der
Beklagte nach den tatsächlichen Feststellungen im Berufungsurteil in dem rela-
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tiv kurzen Zeitraum von der Erhebung der Disziplinarklage vor dem Verwal-
tungsgericht (Ende Juli 2007) bis zum Berufungsurteil (27. Mai 2009) seinen
Schuldenstand von 25 000 € immerhin um 10 000 € reduzieren konnte. Auch
sind die Gründe einzubeziehen, die für die Einstellung der früheren Disziplinar-
verfahren maßgebend waren.
Dr. Heitz
Thomsen
Dr. Hartung