Urteil des BVerwG vom 08.02.2007

Post, Anvertrautsein, Verbringen, Stillschweigend

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 9.07
OVG 11 Bf 455/05.F
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. Februar 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Albers
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller und Groepper
beschlossen:
Das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts
vom 9. Oktober 2006 wird aufgehoben. Die Sache wird zur
erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hambur-
gische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist begründet.
Ohne Erfolg macht die Beklagte allerdings geltend, der Sache komme grund-
sätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, § 69 BDG zu; die
Rechtsprechung habe bisher noch nicht entschieden, wie der Fall zu beurteilen
sei, dass ein Beamter Gegenstände bzw. Wertgutscheine aus Sendungen ent-
nehme, die nicht mehr an die Empfänger zugestellt werden sollten und zur Ver-
nichtung bestimmt gewesen seien.
Mit diesen Ausführungen wird keine Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung
formuliert, die im Interesse der Fortbildung des Rechts der Klärung durch eine
höchstrichterliche Entscheidung bedürfte. Es geht vielmehr um die disziplinar-
rechtliche Würdigung eines Sachverhalts durch den Tatrichter. Diese ist grund-
sätzlich nicht Sache des Revisionsgerichts. Dass sich in diesem Zusammen-
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hang klärungsbedürftige Rechtsfragen stellen, wird von der Beschwerde in ei-
ner den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO, § 69 BDG, genügen-
den Weise nicht dargelegt.
Mit Recht macht die Beklagte dagegen als Verfahrensfehler geltend, das Beru-
fungsgericht hätte im Wege der Sachaufklärung der Frage nachgehen müssen,
ob die Vorgesetzten der Beklagten ihr Verhalten gekannt und gebilligt hatten
(Zulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO). Das Be-
rufungsgericht ist, wie sich aus den Entscheidungsgründen auf S. 13 der Ur-
teilsausfertigung ergibt, dieser Frage nur unzureichend nachgegangen. Es hat
die Aussagen der Beklagten nicht als schlüssig angesehen. Die Beklagte habe
„nicht behauptet, dass genau dieser Missstand, nämlich die Entnahme von
Wertgutscheinen aus zu vernichtenden Postsendungen, geduldet gewesen sei“.
Demgegenüber hat die Beklagte, wie das angefochtene Urteil selbst ausführt
(Urteilsabdruck S. 8), ihre Berufung damit begründet,
„in der Postdienststelle 'ZAC' in A. sei es durchaus üblich
gewesen, dass Postbedienstete mit Genehmigung des
jeweiligen Vorgesetzten Sendungen, die zur Vernichtung
vorgesehen gewesen seien, mitnehmen durften. Ihr Vor-
gesetzter Herr W. habe ihr auf Nachfragen mündlich mit-
geteilt, dass dies erlaubt sei. Ferner hätten auch die wei-
teren Vorgesetzten, Herr N. und Frau M., Kenntnis von
dieser Praxis gehabt. Auf dem Zustellstützpunkt in A. sei
ebenso verfahren worden. Auch hier habe sie sich vor der
Entnahme der Gutscheine mehrfach bei ihren Vorgesetz-
ten erkundigt, ob Infopostsendungen, die zur Vernichtung
vorgesehen seien, aus den 'Dassler-Behältern' entnom-
men werden dürften. Dies sei ihr mehrfach von ihrem
Vorgesetzten ausdrücklich genehmigt worden“.
Hat eine anwaltlich vertretene Prozesspartei in der Berufungsverhandlung da-
von abgesehen, einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen, so verletzt ein
Berufungsgericht seine Aufklärungspflicht grundsätzlich nicht, wenn es von ei-
ner Beweisaufnahme absieht, die weder von einer Partei beantragt ist noch sich
den Umständen nach aufdrängt (vgl. Beschlüsse vom 6. März 1995 - BVerwG
6 B 81.94 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265 und vom 14. Juni 2005
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- BVerwG 2 B 108.04 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 1 = NVwZ 2005, 1199).
Hier allerdings drängte sich eine weitere Beweisaufnahme auf, auch ohne dass
die Beklagte sie förmlich beantragen musste. Denn wie sich aus den Darlegun-
gen auf S. 13 des Urteilsabdrucks ergibt, war dem Berufungsgericht klar, dass
es einen wesentlichen Entlastungsgrund darstellen konnte, wenn sich die Be-
hauptung der Beklagten als wahr erwiesen hätte, dass ihre Vorgesetzten von
der von der Beklagten geübten Praxis Kenntnis und sie stillschweigend gedul-
det oder sogar ausdrücklich gebilligt hatten, zumal „es allem Anschein nach ge-
duldet war, dass die in der Abteilung der Beklagten tätigen Beamten verschie-
dene Dinge, die sonst vernichtet worden wären, der unzustellbaren Post ent-
nehmen durften ...“. Ob es sich dabei um einen „anerkannten“ Milderungsgrund
handelte oder nicht, hat im Rahmen der nach § 13 BDG gebotenen Gesamtbe-
trachtung keine allein ausschlaggebende Bedeutung (vgl. Urteil vom 20. Okto-
ber 2005 - BVerwG 2 C 12.04 - BVerwGE 124, 252 ).
Gemäß § 58 Abs. 1 BDG erhebt das Gericht die erforderlichen Beweise. Dem-
nach hat es grundsätzlich selbst diejenigen Tatsachen festzustellen, die für den
Nachweis des Dienstvergehens und die Bemessung der Disziplinarmaßnahme
von Bedeutung sind (vgl. auch BTDrucks 14/4659, S. 49, zu § 58 BDG). Ent-
sprechend § 86 Abs. 1 VwGO folgt daraus die Verpflichtung, diejenigen Maß-
nahmen der Sachaufklärung zu ergreifen, die sich nach Lage der Dinge auf-
drängen. Dies gilt gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG auch für die Berufungsin-
stanz. Hier bedurfte nicht nur der praktische Betriebsablauf in der Dienststelle
der Beklagten der Aufklärung, sondern ebenso, inwieweit Vorgesetzte sich um
regelwidrige Abläufe kümmerten, ihnen entgegentraten oder sie duldeten.
Zum Zwecke der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der in § 133
Abs. 6 VwGO vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch und verweist den Rechts-
streit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsge-
richt zurück.
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Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das Berufungsgericht
Gelegenheit haben, seine Auffassung zu überprüfen, das der Beklagten zur
Last gelegte Verhalten sei als „Zugriffsdelikt“ einzuordnen (UA S. 11). Abgese-
hen davon, dass es nach der Rechtsprechung des Senats für die Maßnahme-
bemessung auf diese Einordnung nicht allein entscheidend ankommt (s.o.; vgl.
Urteil vom 20. Oktober 2005, a.a.O.), weist der Senat darauf hin, dass nach der
Rechtsprechung des Disziplinarsenats ein „Zugriffsdelikt“ bei solchen Gegen-
ständen ausscheidet, die zur Vernichtung bestimmt und bereits aussortiert sind.
Das amtliche Anvertrautsein einer Sache setzt ein Erhaltungsinteresse voraus,
das dann fehlt, wenn nur noch die Vernichtung oder das Verbringen in einen
Müllcontainer zu erledigen ist (vgl. Urteile vom 16. Juni 1999 - BVerwG 1 D
67.98 - und vom 29. Oktober 1997 - BVerwG 1 D 65.96 - BVerwG DokBer B
1998, 147).
Albers Dr. Müller Groepper
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