Urteil des BVerwG vom 20.10.2011

Verfahrensbeteiligter, Begründungspflicht, Diabetes, Zugang

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 86.11
OVG 14 LB 4/10
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. Oktober 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Herbert
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz und Dr. Maidowski
beschlossen:
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Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 23. März 2011 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische Oberver-
waltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache
gemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 69 BDG, § 41 Abs. 1 LDG unter Aufhebung des
Berufungsurteils an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Das
Berufungsurteil beruht auf einem Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2
Nr. 3 VwGO, weil das Oberverwaltungsgericht den Anspruch des Beklagten auf
Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) ver-
letzt hat. Es ist unschädlich, dass der Beklagte den Gehörsverstoß nicht als
solchen bezeichnet, sondern im Rahmen einer Divergenzrüge dargelegt hat
(vgl. Beschlüsse vom 22. Dezember 2005 - BVerwG 2 B 50.05 - und vom
4. September 2008 - BVerwG 2 B 61.07 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 4
Rn. 4).
Das Oberverwaltungsgericht hat die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene
Entfernung des Beklagten aus dem Beamtenverhältnis bestätigt, indem es
„zwecks Vermeidung von Wiederholungen“ gemäß § 130b Satz 2 VwGO, § 4
LDG auf die zutreffenden Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung verwiesen
hat. Zu dieser Vorgehensweise hat der Senat bereits in dem Beschluss vom
4. August 2005 - BVerwG 2 B 5.05 - (Buchholz 235.1 § 66 BDG Nr. 1), der zu
einer Berufungsentscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungs-
gerichts in einer Disziplinarsache ergangen ist, ausgeführt:
„Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil die Beru-
fungsentscheidung den Begründungsanforderungen gemäß § 108 Abs. 1
Satz 2 VwGO, § 3 BDG nicht genügt. Nach dieser Vorschrift, die gemäß § 125
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Abs. 1 Satz 1 VwGO auch für das Berufungsverfahren gilt, sind in dem Urteil
die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen
sind. Dies bedeutet, dass die Entscheidungsgründe eine tatsächliche und recht-
liche Würdigung des Streitstoffes enthalten müssen. Das Gericht muss - unter
Berücksichtigung des darauf bezogenen Vortrags der Verfahrensbeteiligten -
nachvollziehbar darlegen, auf welche tatsächlichen und rechtlichen Gesichts-
punkte es seine Entscheidung stützt (Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C
158.94 - BVerwGE 96, 200 <209>; Beschluss vom 18. Juli 2001 - BVerwG 1 B
118.01 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 18 (Urteil vom 31. Juli 2002
- BVerwG 8 C 37.01 - Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 35 S. 110).
Will das Berufungsgericht den Erwägungen der Vorinstanz vollständig oder in
bestimmten Punkten folgen, so kann es seiner Begründungspflicht dadurch
nachkommen, dass es die Berufung gemäß § 130 b Satz 2 VwGO, § 3 BDG
aus den Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung zurückweist. Dabei sind
die in Bezug genommenen Gründe genau zu bezeichnen. Unter dieser Voraus-
setzung werden sie Bestandteil der Begründung des Berufungsurteils (Be-
schlüsse vom 25. Februar 1992 - BVerwG 1 B 29.92 - Buchholz 310 § 130 b
VwGO Nr. 2 und vom 17. Dezember 1997 - BVerwG 2 B 103.97 - juris).
Die Erfüllung der Begründungspflicht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO durch
Bezugnahme gemäß § 130 b Satz 2 VwGO kommt naturgemäß hinsichtlich
desjenigen Vortrags nicht in Betracht, den ein Verfahrensbeteiligter neu in das
Berufungsverfahren einführt. Stellt ein Beteiligter die entscheidungserhebliche
tatsächliche oder rechtliche Würdigung des erstinstanzlichen Gerichts substan-
tiiert in Frage, so fordert das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß
Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO, dass das Berufungsgericht darauf in-
haltlich eingeht (Beschlüsse vom 20. Juli 1979 - BVerwG 7 CB 21.79 - NJW
1980, 953 <954> und vom 9. Dezember 1980 - BVerwG 7 B 238.80 - Buch-
holz 312 EntlG Nr. 17; BFH, Urteile vom 29. Juli 1992 - II R 14/92 - BFHE 169,
1 <3> und vom 23. April 1998 - IV R 30/97 - NVwZ-RR 151 <152>).“
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Dem Erfordernis, auf substantiierte Einwendungen gegen die tatsächliche oder
rechtliche Würdigung des Verwaltungsgerichts im Berufungsurteil inhaltlich ein-
zugehen, kommt in Disziplinarklageverfahren besondere Bedeutung zu:
In diesen Verfahren ist der Zugang zum Oberverwaltungsgericht eröffnet, ohne
dass es einer Zulassung der Berufung bedarf (§ 41 Abs. 1 LDG, 64 Abs. 1
Satz 1 BDG). Macht ein Verfahrensbeteiligter von der Möglichkeit, Berufung
einzulegen, in zulässiger Weise Gebrauch, hat das Oberverwaltungsgericht als
zweite Tatsacheninstanz die den Verwaltungsgerichten nach § 41 Abs. 1 LDG,
§ 60 Abs. 2 Satz 2 BDG übertragene Disziplinarbefugnis letztverantwortlich
auszuüben. Das Oberverwaltungsgericht hat die erforderliche Disziplinarmaß-
nahme aufgrund einer eigenen Bemessungsentscheidung nach § 13 Abs. 1
Satz 2 bis 4 BDG (§ 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 LDG) zu bestimmen, ohne an die
Wertungen des Dienstherrn gebunden zu sein. Dabei hat es die im Einzelfall
bemessungsrelevanten Tatsachen vollständig zu ermitteln und mit dem ihnen
zukommenden Gewicht in die Gesamtwürdigung einzubeziehen (vgl. Urteile
vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C 9.06 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3 Rn. 11 f.,
vom 29. Mai 2008 - BVerwG 2 C 59.07 - Buchholz 235.1 § 70 BDG Nr. 3
Rn. 11 f. und vom 27. Januar 2011 - BVerwG 2 A 5.09 - Rn. 29 f.
fentlichung in der Entscheidungssammlung Buchholz vorgesehen>). Die Grün-
de des Berufungsurteils müssen erkennen lassen, dass das Oberverwaltungs-
gericht eine eigene Bemessungsentscheidung getroffen hat. Dazu gehört jeden-
falls, dass es zu substantiierten tatsächlichen und rechtlichen Einwendungen
gegen die erstinstanzliche Bemessungsentscheidung Stellung nimmt.
Der Beklagte hat in der Beschwerdebegründung dargelegt, dass er sich mit sei-
ner Berufung gegen tatsächliche und rechtliche Würdigungen des Verwaltungs-
gerichts gewandt hat, auf denen die Bemessungsentscheidung beruht. Der Be-
klagte hat vor dem Oberverwaltungsgericht erneut vorgetragen, er habe sich im
Tatzeitraum in einer existentiellen wirtschaftlichen Notlage befunden, die zu
einer schweren persönlichen Krise geführt habe. Er habe sich beim Bau eines
Eigenheims hoffnungslos übernommen. Seine Frau habe aufgrund eines Un-
falls nicht mehr arbeiten und daher das Familieneinkommen nicht mehr aufbes-
sern können. Seit 2003 leide er an Diabetes des Typs II, danach sei er an einer
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schweren depressiven Episode erkrankt und alkoholabhängig geworden. Das
Verwaltungsgericht habe seine wirtschaftliche Lage und deren gesundheitliche
Auswirkungen bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme nicht berücksich-
tigt. Vielmehr habe es sich darauf beschränkt, die sog. anerkannten Milde-
rungsgründe zu prüfen.
Angesichts dieser Einwendungen des Beklagten gegen das erstinstanzliche
Urteil durfte sich das Oberverwaltungsgericht nicht darauf beschränken, dessen
Vorbringen im Tatbestand des Berufungsurteils kursorisch zu erwähnen und in
den Entscheidungsgründen auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug
zu nehmen. Damit hat es in der Sache die Erwägungen des Verwaltungsge-
richts wiederholt, die der Beklagte gerade angegriffen hat. Die Gründe des Be-
rufungsurteils lassen nicht erkennen, dass das Oberverwaltungsgericht unter
Berücksichtigung des Berufungsvorbringens des Beklagten eine eigene Be-
messungsentscheidung nach § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 LDG getroffen hat.
Die Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und der Diver-
genz (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO, § 69 BDG, § 41 Abs. 1 LDG) hat der
Beklagte nicht dargelegt:
Die aufgeworfene Frage nach den inhaltlichen Anforderungen an die Bemes-
sungsentscheidung nach § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 LDG ist durch die Rechtspre-
chung des Senats zu den wortgleichen Bestimmungen des § 13 Abs. 1 Satz 2
bis 4 BDG geklärt. Danach ist die Prüfung entlastender Gesichtspunkte auch
bei sog. Zugriffsdelikten nicht darauf beschränkt, ob die Voraussetzungen eines
sog. anerkannten Milderungsgrundes vorliegen. Diese in der Rechtsprechung
des Disziplinarsenats des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Milderungs-
gründe dürfen nicht als abschließender Kanon der allein beachtlichen Entlas-
tungsgründe angesehen werden. Vielmehr ist das Gewicht aller entlastenden
Gesichtspunkte, etwa einer außergewöhnlich schwierigen Lebenssituation wäh-
rend des Tatzeitraums, der Schwere des Dienstvergehens gegenüberzustellen
(Urteile vom 20. Oktober 2005 - BVerwG 2 C 12.04 - BVerwGE 124, 252
<260 f.> = Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 1 S. 7 f. und vom 3. Mai 2007
- BVerwG 2 C 9.06 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3 Rn. 23).
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Eine Divergenz ist nicht gegeben, weil die Annahme nahe liegt, dass das Ver-
waltungsgericht den vom Senat entwickelten Maßstäben für die Bemessungs-
entscheidung nicht prinzipiell widersprechen wollte, sondern sie im vorliegen-
den Fall rechtsfehlerhaft angewandt hat (vgl. Beschlüsse vom 3. Juli 2007
- BVerwG 2 B 18.07 - juris Rn. 4 und vom 5. Dezember 2007 - BVerwG 2 B
87.07 - juris Rn. 4). Das Oberverwaltungsgericht hat auf die fallbezogenen feh-
lerhafte Anwendung Bezug genommen.
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