Urteil des BVerwG vom 14.01.2014

Strafverfahren, Strafurteil, Unterlassen, Bindungswirkung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 84.13, 2 PKH 7.13
OVG 8 DO 1167/10
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 14. Januar 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung und Dr. Kenntner
beschlossen:
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Thüringer Oberverwal-
tungsgerichts vom 14. Mai 2013 wird zurückgewiesen.
Der Antrag der Beklagten auf Bewilligung von Prozesskos-
tenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt P. wird abge-
lehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil
des Thüringer Oberverwaltungsgerichts und der Antrag auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe sind unbegründet.
1. Die 1972 geborene Beklagte steht als Steuerobersekretärin (BesGr A 7) im
Dienst des Klägers. Im Jahr 2006 wurde sie wegen versuchter Steuerhinterzie-
hung zu einer Geldstrafe verurteilt. Sie hatte es als Käuferin eines Grundstücks
und damit Schuldnerin der Grunderwerbsteuer unterlassen, dem Finanzamt
mitzuteilen, dass der Kaufpreis im Anschluss an die notarielle Beurkundung des
Kaufvertrages von den Parteien des Kaufvertrages in einer Zusatzvereinbarung
um 10 000 € erhöht worden war. Zudem wurde die Beklagte im Jahr 2007 we-
gen Betruges zu Lasten der Sozialbehörden in Höhe von ca. 9 100 € zu einer
Freiheitsstrafe verurteilt. Im Disziplinarverfahren hat das Verwaltungsgericht die
Beklagte in das Amt einer Steuersekretärin (BesGr A 6) zurückgestuft. Das
Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur
Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Die Voraussetzungen für eine Lösung von den tatsächlichen Feststellungen der
beiden Strafurteile seien nicht erfüllt. Die Feststellungen des Amtsgerichts im
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Zusammenhang mit der Verurteilung wegen versuchter Steuerhinterziehung
stünden nicht im Widerspruch zu Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungs-
sätzen. In Bezug auf die Verurteilung wegen Betruges müsse sich die Beklagte
an ihrem Geständnis festhalten lassen. Es fehlten jegliche Anhaltspunkte für die
Annahme, bei der Verfahrensabsprache seien die rechtsstaatlichen Anforde-
rungen nicht gewahrt worden. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die von der
Beklagten geltend gemachte psychische Erkrankung in einem Zusammenhang
mit dem ihr vorgeworfenen Verhalten stehe. Die der Beklagten zur Last geleg-
ten Vergehen hätten jeweils Bezug zu ihren Dienstpflichten als Finanzbeamtin.
Zu Gunsten der Beklagten seien jedoch die lange Dauer des Disziplinarverfah-
rens sowie ihre besondere familiäre Situation zu berücksichtigen. Das einheitli-
che Dienstvergehen erfordere eine Rückstufung um mindestens zwei Gehalts-
stufen. Deshalb müsse aus Rechtsgründen eine Zurückstufung auf die Ge-
haltsgruppe des Eingangsamts erfolgen.
2. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision ist
unbegründet.
a) Dies gilt zunächst für die von der Beklagten erhobene Grundsatzrüge (§ 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO, § 66 Abs. 1 ThürDG).
Die Beklagte sieht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache in den Fra-
gen:
„Verliert ein Beamter das Recht, sich gegenüber dem Dis-
ziplinargericht auf die Gebotenheit eines Lösungsbe-
schlusses nach § 16 Abs. 1 Satz 2 ThürDG zu stützen,
immer dadurch, dass er in dem von ihm gemäß § 16
Abs. 1 Satz 1 ThürDG zugrunde gelegten Strafverfahren
die ordentlichen Rechtsmittel nicht ausgeschöpft hat oder,
kommt es bei der Bewertung auch auf subjektive Elemen-
te des Einzelfalls an?
Wenn ja, ist durch eine unzulässige informelle strafpro-
zessuale Verfahrensabsprache oder durch eine psychi-
sche Erkrankung ein Grund gegeben, der bei dieser Be-
wertung in der Regel Berücksichtigung beansprucht?“
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Grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) hat eine Rechtssache
nur dann, wenn sie eine - vom Beschwerdeführer zu bezeichnende - grundsätz-
liche, bisher höchstrichterlich nicht beantwortete Rechtsfrage aufwirft, die im
Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder einer Weiterentwicklung
des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf und die für die Entscheidung
des Revisionsgerichts erheblich sein wird (stRspr, u.a. Beschluss vom 2. Okto-
ber 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91 f.>). Dies ist hier nicht der
Fall. Die Bedingungen, unter denen sich die Verwaltungsgerichte von einem
rechtskräftigen Strafurteil zu lösen haben, sind geklärt. Die von der Beklagten
aufgeworfenen Fragen sind ausgehend von diesen Grundsätzen einzelfallbezo-
gen zu beantworten und haben deshalb keine allgemeine Bedeutung.
Bereits nach seinem Wortlaut setzt § 16 Abs. 1 Satz 1 ThürDG für die Bindung
der Disziplinarorgane ein rechtskräftiges Strafurteil voraus. Unter welchen Um-
ständen dieses Urteil Rechtskraft erlangt hat, z.B. durch Rechtsmittelverzicht,
ist für die Bindungswirkung, die im Interesse der Rechtssicherheit verhindern
soll, dass zu ein- und demselben Geschehensablauf unterschiedliche Tatsa-
chenfeststellungen getroffen werden, grundsätzlich unerheblich. Die Vorausset-
zungen, unter denen das Gericht sich von den tatsächlichen Feststellungen
dieses rechtskräftigen Urteils zu lösen hat, sind in der Rechtsprechung geklärt.
Die Verwaltungsgerichte sind nur dann berechtigt und verpflichtet, sich von den
Tatsachenfeststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils zu lösen und den dis-
ziplinarrechtlich bedeutsamen Sachverhalt eigenverantwortlich zu ermitteln,
wenn sie ansonsten „sehenden Auges" auf der Grundlage eines unrichtigen
oder aus rechtsstaatlichen Gründen unverwertbaren Sachverhalts entscheiden
müssten. Dies ist etwa der Fall, wenn die Feststellungen in Widerspruch zu
Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen stehen, aus sonstigen
Gründen offenbar unrichtig oder in einem ausschlaggebenden Punkt unter of-
fenkundiger Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften zustande gekom-
men sind. Hierunter fällt auch, dass das Strafurteil auf einer Urteilsabsprache
beruht, die den rechtlichen Anforderungen nicht genügt. Darüber hinaus entfällt
die Bindungswirkung, wenn Beweismittel eingeführt werden, die dem Strafge-
richt nicht zur Verfügung standen und nach denen seine Tatsachenfeststellun-
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gen zumindest auf erhebliche Zweifel stoßen (vgl. Urteile vom 29. November
2000 - BVerwG 1 D 13.99 - BVerwGE 112, 243 <245> = Buchholz 235 § 18
BDO Nr. 2 S. 5 f. und vom 16. März 2004 - BVerwG 1 D 15.03 - Buchholz 232
§ 54 Satz 3 BBG Nr. 36 S. 81 f.; Beschlüsse vom 24. Juli 2007 - BVerwG 2 B
65.07 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 4 Rn. 11, vom 26. August 2010
- BVerwG 2 B 43.10 - Buchholz 235.1 § 57 BDG Nr. 3 Rn. 5 und vom 15. März
2013 - BVerwG 2 B 22.12 - juris Rn. 6 ff.).
Einen darüber hinausgehenden Klärungsbedarf legt die Beschwerde nicht dar.
b) Eine Zulassung der Revision wegen der von der Beschwerde geltend ge-
machten Abweichung von einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
(§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, § 66 Abs. 1 ThürDG) scheidet ebenfalls aus.
Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich
bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz
benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts aufgestellten ebensolchen die Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvor-
schrift widersprochen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Juni 1995
- BVerwG 8 B 61.95 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 18). Dies ist der
Beschwerde nicht zu entnehmen.
Die Beschwerde legt nicht dar, dass das Oberverwaltungsgericht in Anwendung
derselben Rechtsvorschrift von einem durch das Bundesverfassungsgericht in
dem von der Beschwerde angeführten Beschluss aufgestellten (abstrakten)
Rechtssatz mit einem widersprechenden Rechtssatz abgerückt ist.
Gegenstand des in der Beschwerdebegründung herangezogenen Beschlusses
des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10, 2 BvR
2883/10 und 2 BvR 2155/11 - (NJW 2013, 1058), von dem das Oberverwal-
tungsgericht abgewichen sein soll, ist die Rechtslage seit Inkrafttreten des Ge-
setzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009
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(BGBl I S. 2353) am 4. August 2009. Dies kommt sowohl in Leitsatz 4 des Be-
schlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2013, der den ab-
schließenden Charakter dieses Gesetzes betont, als auch in den Ausführungen
zu Transparenz- und Dokumentationspflichten in Rn. 97 des Beschlusses zum
Ausdruck, die in der Beschwerdebegründung der Beklagten ausdrücklich ge-
nannt sind. Das Urteil, durch das die Beklagte wegen Betruges zu einer Frei-
heitsstrafe verurteilt worden ist und das nach den Feststellungen des Oberver-
waltungsgerichts auf einem Teilgeständnis der Beklagten infolge einer Abrede
zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung beruht, stammt vom Mai
2007. Damit waren die Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Verständi-
gung im Strafverfahren, insbesondere § 257c StPO, für diese Abrede nicht
maßgeblich.
c) Auch in Bezug auf den von der Beklagten geltend gemachten Verfahrensfeh-
ler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 66 Abs. 1 ThürDG) kann die Beschwerde kei-
nen Erfolg haben.
Die Beklagte rügt, das Oberverwaltungsgericht habe es entgegen § 16 Abs. 1
Satz 2 ThürDG unterlassen, innerhalb des Disziplinarsenats eine Feststellung
darüber herbeizuführen, ob die Mehrheit seiner Mitglieder Zweifel an der Rich-
tigkeit der Feststellungen des Urteils hat, mit dem die Beklagte wegen Betruges
verurteilt worden ist. Das trifft nicht zu.
Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 ThürDG sind die tatsächlichen Feststellungen eines
rechtskräftigen Urteils im Strafverfahren im Disziplinarverfahren, das denselben
Sachverhalt zum Gegenstand hat, für die Disziplinarorgane bindend. Das Ge-
richt hat jedoch die nochmalige Prüfung solcher Feststellungen zu beschließen,
deren Richtigkeit seine Mitglieder mit Stimmenmehrheit bezweifeln (Satz 2).
Ungeachtet des Umstandes, dass es die Beklagte unterlassen hat, in der münd-
lichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht einen Antrag auf eine
förmliche Beschlussfassung des Oberverwaltungsgerichts nach § 16 Abs. 1
Satz 2 ThürDG zu stellen, obwohl der Senat für Disziplinarsachen im Beschluss
vom 18. März 2013 über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, berichtigt
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durch den Beschluss vom 29. März 2013, seine Einschätzung zur Bindung an
die beiden strafgerichtlichen Verurteilungen der Beklagten detailliert dargelegt
hatte, ist die Verfahrenrüge deshalb unbegründet, weil die Verfahrensweise des
Oberverwaltungsgerichts nicht gegen das Gesetz verstößt.
§ 16 Abs. 1 Satz 2 ThürDG schreibt nicht vor, dass der Spruchkörper, der nach
§ 59 Abs. 1 ThürDG die angemessene Disziplinarmaßnahme unabhängig von
tatsächlichen Feststellungen und disziplinarrechtlichen Wertungen des Dienst-
herrn selbst bestimmt, in jedem Fall vorab einen gesonderten Beschluss über
die Bindung an tatsächliche Feststellungen in anderen Verfahren trifft und die-
sen verkündet. Die gesetzliche Regelung, deren Wortlaut an § 18 Abs. 1 Satz 2
BDO angelehnt ist, sieht einen solchen Beschluss nur vor, wenn die Mehrheit
der Mitglieder des Gerichts die Richtigkeit von tatsächlichen Feststellungen ei-
nes rechtskräftigen Urteils im Strafverfahren bezweifelt. Andernfalls hat das Ge-
richt im Urteil die Gründe darzulegen, die es nach Maßgabe des § 16 Abs. 1
Satz 2 ThürDG dazu veranlasst haben, sich nicht von den grundsätzlich bin-
denden tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils zu lösen.
3. Aus den vorstehenden Darlegungen zu 2. ergibt sich, dass auch der Antrag
der Beklagten auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres
bisherigen Verfahrens- und Prozessbevollmächtigten unbegründet ist. Die
Rechtsverfolgung der Beklagten bietet auch unter Berücksichtigung des inso-
weit geltenden niedrigeren Maßstabs (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. März
1990 - 2 BvR 94/88 - BVerfGE 81, 347 <357>) keine hinreichende Aussicht auf
Erfolg (§ 166 VwGO, § 114 Satz 1 ZPO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 73 Satz 1 ThürDG. Das Verfahren ist ge-
bührenfrei (§ 77 Abs. 4 ThürDG).
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