Urteil des BVerwG vom 15.04.2010

Rüge, Disziplinarrecht, Wiederholungsgefahr, Beamtenverhältnis

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 82.09
OVG 3 LD 4/08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. April 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Herbert und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Groepper und Dr. Hartung
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision im Urteil des Niedersächsischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 28. April 2009 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
G r ü n d e :
Die auf Verfahrensmängel und auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen
Bedeutung der Sache (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 und 1 VwGO) gestützte Beschwerde
ist unbegründet.
1. a) Die Klägerin rügt als Verfahrensmangel, das Berufungsgericht habe seine
Aufklärungspflicht verletzt, indem es nicht die von ihr benannte Zeugin Dr. V.
vom Gesundheitsamt G. zu der Frage vernommen habe, ob der Beklagte auch
am 6. und 7. Oktober 2003 Geldbeträge entwendet habe; dieser Zeugin gegen-
über habe der Beklagte nämlich eingeräumt, „einige Male kleinere Geldbeträge
entwendet“ zu haben.
Die Rüge greift nicht durch. Das Berufungsgericht hat sich eingehend mit der
Frage beschäftigt, wie oft der Beklagte auf Gelder der Klägerin zugegriffen ha-
be. Während der Beklagte dies nur einmal eingeräumt habe, habe die Beweis-
aufnahme, bei der fünf Zeugen vernommen worden sind, zur Gewissheit des
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Senats Zugriffshandlungen des Beklagten an drei Tagen ergeben, nicht aber,
wie in der Klageschrift angeführt, an fünf Tagen. An dieser Beweiswürdigung
würde sich nichts ändern, wenn man unterstellt, die Zeugin hätte die in ihr Wis-
sen gestellte Erklärung abgegeben, der Beklagte habe ihr gegenüber „einige
Male“ eingeräumt. Im Übrigen hat die Klägerin die Vernehmung der Zeugin
zwar schriftlich beantragt, in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat den
Antrag aber nicht mehr gestellt. Das Gericht verletzt seine Aufklärungspflicht
grundsätzlich nicht, wenn sich ihm eine weitere Aufklärung nicht aufdrängt und
eine sachkundig vertretene Partei die Vernehmung eines weiteren Zeugen nicht
ausdrücklich beantragt (str.Rsp, vgl. Beschlüsse vom 19. August 1997
- BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14 und vom
11. Januar 2008 - BVerwG 9 B 54.07 - Buchholz 310 § 128a VwGO Nr. 2).
Im Übrigen spricht wenig für die Annahme der Beschwerde, dass die tragenden
Erwägungen des Berufungsgerichts andere gewesen wären, wenn dem Kläger
nicht die Entwendung von 120 € durch drei Taten, sondern von 160 € durch fünf
Taten nachgewiesen worden wäre. Das Berufungsgericht hat in seine Überle-
gungen eingestellt, dass der Beklagte durch mehrere geplante Taten Geld der
Klägerin an sich gebracht hat, dessen Wert die Bagatellgrenze von 50 € deut-
lich überstieg. Dass auch bei den Erwägungen des Berufungsgerichts über die
Notwendigkeit einer Zurückstufung des Beklagten gerade der Anzahl der Taten
und dem genauen Betrag ausschlaggebendes Gewicht zugekommen ist, ist den
Gründen des angegriffenen Urteils nicht zu entnehmen.
b) Als verfahrensfehlerhaft beanstandet die Klägerin ferner, dass das Beru-
fungsgericht auf der Grundlage des von ihm eingeholten Sachverständigengut-
achtens des Dr. T. und dessen Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung
zu dem Ergebnis gekommen ist, der Beklagte habe im Zeitpunkt seiner drei Ta-
ten an einer schweren depressiven Episode gelitten und sei in dessen Folge in
seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt gewesen. Mit diesen Aus-
führungen richtet sich die Beschwerde gegen die Beweiswürdigung des Beru-
fungsgerichts, die dem materiellen Recht zuzurechnen ist und grundsätzlich
nicht mit Verfahrensrügen angegriffen werden kann. Soweit dies ausnahmswei-
se möglich ist - etwa bei Verstößen gegen die Denkgesetze (vgl. Beschluss
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vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO
Nr. 26 S. 15) -, zeigt die Beschwerde nicht auf, dass die Darlegungen des Beru-
fungsgerichts an derartigen Verstößen leiden. Die Beschwerde beanstandet,
dass das Berufungsgericht den Ausführungen des Sachverständigen in der
mündlichen Verhandlung gefolgt ist, in denen er das Ausmaß der gesundheitli-
chen Störungen des Beklagten als gravierender bezeichnet hatte, als er dies in
seinem schriftlichen Gutachten angenommen hatte. Darin liegt kein Verstoß
gegen Denkgesetze; es ist vielmehr Sinn der vom Gericht angeordneten Anhö-
rung eines Sachverständigen im Sinne des § 98 VwGO, § 411 Abs. 3 ZPO, ihm
Gelegenheit zu geben, sein Gutachten zu erläutern, gegebenenfalls auf Ände-
rungen seiner Beurteilung hinzuweisen und diese nachvollziehbar zu erläutern.
Das Berufungsgericht hat diese Ausführungen eines Facharztes für Psychiatrie
und Psychotherapie ohne Verstoß gegen das Verfahrensrecht für überzeugend
gehalten und seiner Entscheidung zugrunde gelegt. Ein zwingender Anlass, zu
dieser Frage auch die weniger spezialisierte Amtsärztin Dr. V. zu vernehmen,
bestand nicht. Die Klägerin hat dies in der mündlichen Verhandlung auch nicht
beantragt.
c) Weiterhin rügt die Klägerin als verfahrensfehlerhaft, das angegriffene Urteil
leide an einem Abwägungsmangel, weil das Berufungsgericht es unterlassen
habe, generalpräventive Überlegungen, die für eine Entfernung des Beklagten
aus dem Beamtenverhältnis sprächen, in seine Entscheidung miteinzubezie-
hen. Auch diese Rüge greift nicht durch. Abgesehen davon, dass zweifelhaft ist,
ob generalpräventive Überlegungen im Disziplinarrecht unter der Geltung der
§§ 13 und 14 BDG überhaupt noch zulässig sind (vgl. zum Meinungsstand:
Hummel/Köhler/Mayer, BDG, A.IV.3 Rn. 89), betrifft die Rüge wiederum die
Verletzung des materiellen Rechts - nämlich des § 13 BDG -, während als Ver-
fahrensfehler allenfalls grobe Fehler bei der Überzeugungsbildung gerügt wer-
den können (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
d) Dasselbe gilt für die Angriffe der Beschwerde gegen die prognostischen Er-
wägungen des Berufungsgerichts, mit denen es eine Wiederholungsgefahr ver-
neint hat. Soweit die Beschwerde in diesem Zusammenhang rügt, das Beru-
fungsgericht habe sich zu der Frage einer möglichen Wiederholung überhaupt
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nicht geäußert, geht sie fehl: Wie die Beschwerde selbst nicht verkennt, hat sich
das Berufungsgericht - wenn auch im Zusammenhang mit dem Erfordernis ei-
ner zusätzlichen Pflichtenmahnung im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 2 BDG - mit
dieser Frage befasst und ausgeführt, konkrete Anhaltspunkte für eine erneute
Dienstpflichtverletzung lägen nicht vor und seien auch von der Klägerin nicht
geltend gemacht worden. Der Beklagte sei weder vor noch nach dem Dienst-
vergehen in vergleichbarer Weise auffällig geworden und habe sich, soweit er-
sichtlich, auch sonst nichts zuschulden kommen lassen. Auch die Art seiner
Erkrankung begründe keine Wiederholungsgefahr (UA S. 30 f.). Der Beschwer-
de lässt sich nicht entnehmen, auf welcher Grundlage das Berufungsgericht bei
der Anwendung des § 13 BDG zu einer anderen Einschätzung hätte kommen
müssen.
2. Der Sache kommt auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu. Die Beschwerde hält für klärungsbedürftig,
„ob bei einem Mehrfachversagen des Beamten im Kernbe-
reich seiner Amtspflichten (hier als Vorgesetzter in der
Geldbearbeitung der Deutschen Bundesbank) im Rahmen
von Zugriffsdelikten das Vorliegen eines Milderungsgrun-
des einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfä-
higkeit allein für ein Absehen von der disziplinaren
Höchstmaßnahme der Entfernung aus dem Beamten-
verhältnis sowie im Ergebnis (im Hinblick auf die Anwen-
dung der Vorschrift des § 14 Abs. 1 BDG) auch für ein Ab-
sehen von Disziplinarmaßnahmen überhaupt ausreichen
kann.“
Diese Frage bedarf keiner weiteren Klärung in einem Revisionsverfahren. Wie
das Berufungsgericht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Senats zutref-
fend ausgeführt hat, setzt erheblich verminderte Schuldfähigkeit gem
voraus, dass die Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen oder
nach dieser Einsicht zu handeln, wegen einer Störung im Sinne v
bei der Tat erheblich eingeschränkt war. Für die Steuerungsfähigkeit kommt es
darauf an, ob das Hemmungsvermögen so stark herabgesetzt war, dass der
Betroffene den Tatanreizen erheblich weniger Widerstand als gewöhnlich ent-
gegenzusetzen vermochte. Die daran anknüpfende Frage, ob die Verminderung
der Steuerungsfähigkeit aufgrund einer krankhaften seelischen Störung „erheb-
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lich“ war, ist eine Rechtsfrage, die die Verwaltungsgerichte ohne Bindung an die
Einschätzung Sachverständiger in eigener Verantwortung zu beantworten ha-
ben. Hierzu bedarf es einer Gesamtschau der Persönlichkeitsstruktur des Be-
troffenen, seines Erscheinungsbildes vor, während und nach der Tat und der
Berücksichtigung der Tatumstände, insbesondere der Vorgehensweise. Die
Erheblichkeitsschwelle liegt umso höher, je schwerer das in Rede stehende De-
likt wiegt. Dementsprechend hängt im Disziplinarrecht die Beurteilung der Er-
heblichkeit im Sinne vvon der Bedeutung und Einsehbarkeit der
verletzten Dienstpflichten ab. Aufgrund dessen wird sie bei Zugriffsdelikten nur
in Ausnahmefällen erreicht werden (vgl. Urteil vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C
9.06 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3, Rn. 31 ff. m.w.N.). Hieraus ergibt sich,
dass auch bei einem Mehrfachversagen des Beamten im Kernbereich seiner
Amtspflichten und auch im Rahmen von Zugriffsdelikten die Steuerungsfähig-
keit (als eine der beiden in § 21 StGB genannten Alternativen) als Folge einer
Störung im Sinne des § 20 StGB in erheblichem Maße eingeschränkt sein kann
und dass dies bei der Bestimmung der nach § 13 BDG angemessenen Diszipli-
narmaßnahme zu berücksichtigen ist. Erneuter Klärungsbedarf in dem Sinne,
ob in bestimmten Fällen die erheblich eingeschränkte Schuldfähigkeit des Be-
amten ohne disziplinarische Relevanz ist, ist auf der Grundlage der Rechtspre-
chung des Senats nicht ersichtlich.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Der Festsetzung
eines Gegenstandswertes bedarf es nicht, weil das Verfahren gerichtskostenfrei
ist (§ 78 Satz 1 i.V.m. § 85 Abs. 11 BDG).
Herbert
Groepper
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