Urteil des BVerwG vom 23.04.2009

Wahrscheinlichkeit, Vertreter, Rüge, Hinweispflicht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 79.08
OVG 1 Bf 19/08
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. April 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Herbert
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz und Dr. Burmeister
beschlossen:
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Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Hamburgischen Oberver-
waltungsgerichts vom 26. September 2008 wird zurück-
gewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerde-
verfahren auf 13 225 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die 1986 geborene Klägerin begehrt die Übernahme als Beamtin auf Widerruf
in den mittleren Dienst der Steuerverwaltung der Beklagten. Auf ihre Bewer-
bung sagte ihr die Beklagte die Einstellung als Steueranwärterin zum 1. Sep-
tember 2006 unter dem Vorbehalt der gesundheitlichen Eignung zu. Das Gut-
achten des Personalärztlichen Dienstes verneinte die gesundheitliche Eignung
der Klägerin, weil wegen ihrer langjährigen chronisch-entzündlichen Darm-
krankheit (Morbus Crohn) vermehrte Zeiten krankheitsbedingter Dienstunfähig-
keit oder der Eintritt vorzeitiger Dienstunfähigkeit nicht mit hoher Wahrschein-
lichkeit ausgeschlossen werden könnten. Dies gelte trotz der Behinderung der
Klägerin zu 30 % und der Herabsetzung des Prognosezeitraums für den Erhalt
der Dienstfähigkeit auf 10 Jahre. Der Widerspruch der Klägerin gegen den ab-
lehnenden Bescheid blieb erfolglos. Das Verwaltungsgericht hat nach Einholung
eines Gutachtens des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein die Beklagte
verpflichtet, über den Antrag auf Einstellung der Klägerin als Steueranwärterin
zum Zweck ihrer Ausbildung unter Beachtung der Rechtsauffassung des
Gerichts erneut zu entscheiden. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung
der Beklagten zurückgewiesen, weil die Beurteilung der gesundheitlichen
Eignung der einer Schwerbehinderten gleichgestellten Klägerin aus rechtlichen
und tatsächlichen Gründen fehlerhaft sei. Das Oberverwaltungsgericht hat die
Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Die hiergegen gerichtete Be-
schwerde der Beklagten hat keinen Erfolg.
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1. Die Revision ist nicht wegen des geltend gemachten Verfahrensmangels
(§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
Die Beschwerde rügt als Verstoß gegen die gerichtliche Hinweispflicht (§ 86
Abs. 3 VwGO), dass das Oberverwaltungsgericht seine Rechtsauffassung zu
den Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit künftiger Erkrankungen der Klä-
gerin oder des vorzeitigen Eintritts ihrer Dienstunfähigkeit im Prognosezeitraum
dem Vertreter der Beklagten nicht ausreichend zur Kenntnis gegeben habe. Die
Rüge ist unbegründet. Das Oberverwaltungsgericht hat mit einem 10 Tage vor
der mündlichen Verhandlung bei der Beklagten eingegangen Schreiben mitge-
teilt, der Vorsitzende habe in einem Telefonat mit dem Prozessbevollmächtigten
der Klägerin für die mündliche Verhandlung den Hinweis angekündigt, „dass
zweifelhaft erscheine, ob - wie von der Beklagten angenommen - bei der
Einstellung von Schwerbehinderten mit einem hohen Maß an Wahrscheinlich-
keit ausgeschlossen sein muss, dass innerhalb des Prognosezeitraums von
grob 10 Jahren Dienstunfähigkeit eintritt“. Es hat damit in hinreichender Klarheit
zu erkennen gegeben, dass an dem von der Beklagten zugrunde gelegten
Wahrscheinlichkeitsmaßstab Zweifel bestehen können. Die Gründe und die
möglichen Rechtsfolgen dieser Rechtsauffassung hat das Gericht laut Protokoll
der mündlichen Verhandlung im Einzelnen dargelegt und mit den Beteiligten
erörtert. Angesichts dessen kann von einem Verstoß gegen die gerichtliche
Hinweispflicht keine Rede sein.
Die Beschwerde sieht einen Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung
rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO) darin, dass das Oberverwaltungsge-
richt den in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag des Vertreters der
Beklagten abgelehnt hat, ihm zur Stellungnahme zu dem vom Gericht erwoge-
nen Wahrscheinlichkeitsmaßstab eine Schriftsatzfrist einzuräumen. Eine Stel-
lungnahme in der mündlichen Verhandlung habe das Oberverwaltungsgericht
nicht erwarten können, weil der Vertreter der Beklagten den schriftlich ange-
kündigten gerichtlichen Hinweis missverstanden und das Gericht durch den bis
dahin nicht erörterten rechtlichen Gesichtspunkt dem Rechtsstreit eine Wen-
dung gegeben habe, mit der er nicht habe rechnen müssen.
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Auch diese Rüge ist unbegründet. Abgesehen davon, dass die Klägerin die
Frage des zugrunde zu legenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabs bereits zum
Gegenstand ihres Vorbringens vor dem Oberverwaltungsgericht gemacht hatte
(Schriftsatz vom 25. August 2008, S. 5 am Ende), weshalb die Beklagte von
diesem rechtlichen Gesichtspunkt nicht überrascht sein durfte, hat das Ober-
verwaltungsgericht durch die Ablehnung des Antrags auf Schriftsatznachlass
das rechtliche Gehör nicht verletzt. Das Gericht hat bei seiner Entscheidung, ob
bei Vorliegen erheblicher Gründe eine Schriftsatzfrist einzuräumen ist, nach
pflichtgemäßem Ermessen sowohl das Gebot der Beschleunigung des Verfah-
rens als auch den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs
zu berücksichtigen. Der Vertreter der Beklagten musste angesichts des schrift-
lich angekündigten gerichtlichen Hinweises damit rechnen, dass in der münd-
lichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht nicht nur der Prognose-
zeitraum, sondern auch der Wahrscheinlichkeitsmaßstab erörtert werden wür-
de. Selbst wenn er das Schreiben in Bezug auf die Erheblichkeit des Wahr-
scheinlichkeitsmaßstabs missverstanden haben sollte, musste ihm das Ober-
verwaltungsgericht keine weitere Gelegenheit zur Stellungnahme geben, weil
die Frage der Wahrscheinlichkeit einer vorzeitigen Dienstunfähigkeit der Kläge-
rin nach Gegenstand und Verlauf des Prozesses kein für ihn überraschender
rechtlicher Gesichtspunkt sein konnte. Unter diesen Umständen hat das Ober-
verwaltungsgericht dem Grundsatz der Prozessbeschleunigung aus den im
Verhandlungsprotokoll dargelegten Gründen, an deren Richtigkeit zu zweifeln
kein Anlass besteht, ermessensfehlerfrei den Vorrang eingeräumt.
2. Die Revision ist auch nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen
Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Die Be-
schwerde hält für klärungsbedürftig,
ob „sich der vom Hamburgischen Oberverwaltungsgericht
formulierte Wahrscheinlichkeitsmaßstab, demgemäß das
Mindestmaß körperlicher Eignung für die vorgesehene
Verwendung bei Schwerbehinderten oder ihnen Gleichge-
stellten gemäß § 13 Abs. 1 HmbLVO lediglich verlangt,
dass für die Dauer eines Prognosezeitraumes von etwa 10
Jahren eine höhere Wahrscheinlichkeit als 50 % dafür
spricht, dass der Beamte dienstfähig bleibt und darüber
hinaus in diesem Zeitraum krankheitsbedingte Fehlzeiten
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nicht mehr als etwa 2 Monate pro Jahr auftreten werden,
wobei die Wahrscheinlichkeit einer einmaligen etwas län-
geren Ausfallzeit im Prognosezeitraum anstelle wieder-
kehrender längerer krankheitsbedingter Ausfallzeiten einer
insgesamt positiven Prognose nicht entgegen steht, bei
verfassungskonformer Auslegung in Einklang mit dem
Aussagegehalt von Art. 33 Abs. 2 GG bringen“ lässt.
Diese Frage rechtfertigt die Zulassung der Grundsatzrevision nicht, weil das
Oberverwaltungsgericht, soweit seine Erwägungen verallgemeinerungsfähig
sind, von einem Maßstab für die Prognose der gesundheitlichen Eignung
schwerbehinderter Menschen ausgegangen ist, der sich dem Gesetz und der
hierzu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung entnehmen lässt. Da-
nach darf bei der Einstellung eines Schwerbehinderten aufgrund des Benach-
teiligungsverbots gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG die gesundheitliche Eignung
nur verneint werden, wenn im Einzelfall zwingende Gründe für das Festhalten
an dem allgemeinen Maßstab sprechen (Urteil vom 21. Juni 2007 - BVerwG 2 A
6.06 - Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 35 S. 4 <7> m.w.N.). Allgemeiner
Maßstab für Zweifel an der gesundheitlichen Eignung eines (Probe-)Beamten
ist die „hohe“ Wahrscheinlichkeit vorzeitiger dauernder Dienstunfähigkeit und
häufiger krankheitsbedingter Fehlzeiten (Urteil vom 18. Juli 2001 - BVerwG 2 A
5.00 - Buchholz 232 § 31 BBG Nr. 60 S. 1 <3> m.w.N.). Wenn das Oberver-
waltungsgericht zwingende Gründe für das Festhalten an diesem Maßstab bei
Schwerbehinderten und Gleichgestellten verneint und es für eine positive Eig-
nungsprognose für ausreichend erachtet hat, dass ihre Dienstfähigkeit im Pro-
gnosezeitraum mit „überwiegender“ Wahrscheinlichkeit angenommen werden
kann, hält es sich im Rahmen dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung. Es
hat damit zugleich dem Umstand Rechnung getragen, dass nach § 13 der
Hamburgischen Laufbahnverordnung bei schwerbehinderten Menschen nur ein
„Mindestmaß körperlicher Eignung“ für die vorgesehene Verwendung verlangt
werden darf. Die Behauptung der Beschwerde, der vom Oberverwaltungsge-
richt angenommene Wahrscheinlichkeitsmaßstab werde zu einem „Verbeam-
tungsanspruch“ der Schwerbehinderten führen, liegt neben der Sache.
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3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 133 Abs. 5 Satz 2
VwGO ab. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Streit-
wertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 GKG.
Herbert Dr. Heitz Dr. Burmeister
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