Urteil des BVerwG vom 03.02.2010

Medizinisches Gutachten, Verkehrsunfall, Nova, Verwertung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 73.09
VGH 1 A 2518/07
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. Februar 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Herbert und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz und Dr. Maidowski
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 5. Mai 2009 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 14 433,65 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde der Klägerin kann keinen Erfolg haben. Die Klägerin hat weder
eine Frage von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO aufgeworfen noch liegt der geltend gemachte Verfahrensmangel
im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vor.
Die wegen dauernder Dienstunfähigkeit mit Wirkung zum 31. Mai 2004 vorzeitig
in den Ruhestand versetzte Klägerin will Unfallruhegehalt als Versorgung erhal-
ten, weil ihre Dienstunfähigkeit durch einen Dienstunfall herbeigeführt worden
sei. Die als Bundesbeamtin bei der Telekom AG beschäftigte Klägerin war seit
1. Juli 1999 beurlaubt, um auf arbeitsvertraglicher Grundlage eine Tätigkeit bei
der T-Systems Nova GmbH, einem Tochterunternehmen der Telekom AG,
wahrzunehmen. Am 15. Juli 2003 stieß sie auf dem Parkplatz dieses Unter-
nehmens beim Ausparken ihres Fahrzeugs mit einem vorbeifahrenden Fahr-
zeug zusammen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat nicht geprüft, ob die Voraussetzungen des § 31
Abs. 5 BeamtVG vorliegen, unter denen beurlaubten Beamten Unfallfürsorge
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gewährt werden kann. Vielmehr hat er den Verkehrsunfall als Dienstunfall im
Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG angesehen, obwohl die Klägerin zum
Zeitpunkt des Unfalls aufgrund ihrer Beurlaubung von der beamtenrechtlichen
Dienstleistungspflicht befreit war. Sie war nicht als Beamtin, sondern als Ange-
stellte der T-Systems Nova GmbH tätig (vgl. Urteile vom 16. März 2004
- BVerwG 1 D 15.03 - Buchholz 232 § 54 Satz 3 BBG Nr. 36 S. 82 und vom
29. Oktober 2009 - BVerwG 2 C 134.07 - juris Rn. 14 - zur Veröffentlichung in
der amtlichen Sammlung vorgesehen).
Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs steht der Klägerin Unfallruhege-
halt nach § 36 Abs. 1 BeamtVG nicht zu, weil es an dem nach dieser Regelung
erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Verkehrsunfall und den
Gesundheitsschäden der Klägerin fehle, die zu ihrer dauernden Dienstunfähig-
keit geführt hätten. Auf der Grundlage eines technischen Gutachtens zu Unfall-
hergang und -folgen habe der gerichtlich bestellte Sachverständige in einem
orthopädisch-traumatologischen Zusammenhangsgutachten schlüssig und
nachvollziehbar dargelegt, dass weder die Gelenk- und Wirbelsäulenschäden
noch die Fibromyalgie der Klägerin auf den Unfall zurückzuführen seien. Dies
gelte erst recht für ihr psychovegetatives Erschöpfungssyndrom.
1. Die Klägerin macht geltend, die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache
ergebe sich daraus,
dass der Verwaltungsgerichtshof sein Urteil auf ein medi-
zinisches Gutachten gestützt habe, welches davon aus-
gehe, dass es bei Verkehrsunfällen unterhalb einer be-
stimmten Grenze einer Aufprallgeschwindigkeit (Harmlo-
sigkeitsgrenze) Verletzungen nicht gebe, während etwa
der Bundesgerichtshof an der Harmlosigkeitsgrenze gera-
de nicht mehr festhalte.
Die Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO setzt voraus, dass die Rechtssache eine konkrete, in dem zu ent-
scheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Inte-
resse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Rechtsfortbildung der
Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf (Beschluss vom 2. Oktober 1961
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- BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91> = Buchholz 310 § 132 VwGO
Nr. 18; stRspr).
Danach kann grundsätzliche Bedeutung nur einer Frage des revisiblen Rechts
zukommen, die der Klärung des Bedeutungsgehalts einer konkret entschei-
dungserheblichen Rechtsnorm oder eines Rechtsgrundsatzes dient. Im vorlie-
genden Fall kommt es für die Gewährung eines Unfallruhegehalts auf die Aus-
legung und Anwendung des § 36 Abs. 1 und des § 31 Abs. 5 BeamtVG an. Mit
diesen gesetzlichen Regelungen befasst sich die Beschwerdebegründung der
Klägerin nicht. Vielmehr wendet sie sich mit der Grundsatzrüge gegen die Ver-
wertung eines Sachverständigengutachtens durch den Verwaltungsgerichtshof.
Dessen Würdigung des Gutachtens stellt revisionsrechtlich jedoch nicht Rechts-
anwendung, sondern Tatsachenfeststellung dar. Die Klägerin will keine
Rechtsfrage, sondern die Vertretbarkeit fachwissenschaftlicher Meinungen ge-
klärt wissen.
2. Mit ihren Verfahrensrügen gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO macht die Klä-
gerin geltend, der Verwaltungsgerichtshof habe durch die Verwertung der von
ihm eingeholten Sachverständigengutachten gegen seine Aufklärungspflicht
gemäß § 86 Abs. 1 VwGO verstoßen. Die Gutachten hätten wegen ihrer fachli-
chen Mängel nicht verwertet werden dürfen. Der Verwaltungsgerichtshof sei
verpflichtet gewesen, neue Gutachten anderer Sachverständiger einzuholen.
Über Art und Zahl der einzuholenden Sachverständigengutachten hat das Tat-
sachengericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen (§ 98 VwGO,
§ 412 Abs. 1 ZPO). Seine Weigerung, ein weiteres Gutachten einzuholen, findet
im Prozessrecht nur dann keine Stütze, wenn das bereits vorliegende Gut-
achten nicht geeignet ist, dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbil-
dung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Dies ist der Fall, wenn
das vorliegende Gutachten auch für den Nichtsachkundigen erkennbare Mängel
aufweist, etwa nicht auf dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft
beruht, von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, unlösbare
inhaltliche Widersprüche enthält oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde
oder Unparteilichkeit des Sachverständigen gibt. Die Verpflichtung zur
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Einholung eines weiteren Gutachtens folgt nicht schon daraus, dass ein Betei-
ligter das vorliegende Gutachten als Erkenntnisquelle für unzureichend hält (Ur-
teil vom 6. Februar 1985 - BVerwG 8 C 15.84 - BVerwGE 71, 38 <45> =
Buchholz 303 § 414 ZPO Nr. 1 S. 6; Beschlüsse vom 26. Februar 2008
- BVerwG 2 B 122.07 - ZBR 2008, 257 <259 f.> und vom 29. Mai 2009
- BVerwG 2 B 3.09 - NJW 2009, 2614; stRspr).
Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich nicht, dass den Sachverständigen-
gutachten, auf die das Berufungsurteil gestützt ist, derartige Mängel anhaften.
Hierzu ist zu bemerken:
Das technische Sachverständigengutachten hält die Klägerin für unverwertbar,
weil es von falschen tatsächlichen Voraussetzungen ausgehe. Dies trifft nicht
zu, wie der Verwaltungsgerichtshof in dem Berufungsurteil zutreffend dargelegt
hat. Danach sind die Berechnungen, die die Klägerin zum Nachweis einer hö-
heren aufprallbedingten Geschwindigkeitsveränderung vorgelegt hat, ihrerseits
nicht verwertbar, weil ihnen exakte Kollisionsgeschwindigkeiten zugrunde lie-
gen, obwohl diese nachträglich nur geschätzt werden können. Auch hat der
gerichtlich bestellte Sachverständige plausibel begründet, dass die Instandset-
zungsarbeiten und die Höhe der Reparaturrechnung keine Rückschlüsse auf
die Deformationsenergie beim Unfall zulassen. Mit ihrem Vorbringen, bei Fahr-
zeugen mit Anhängerkupplung und älteren Fahrzeugen mit steiferen Sitzrü-
ckenlehnen sei das Risiko von Wirbelsäulenverletzungen bei Unfällen höher,
kann die Klägerin das Gutachten nicht erschüttern, weil es keinen Bezug zu den
konkreten Unfallumständen und den dazu getroffenen Feststellungen des
Gutachters aufweist.
Das Zusammenhangsgutachten des medizinischen Sachverständigen Dr. Sch.
hält die Klägerin für unverwertbar, weil es auf wissenschaftlichen Auffassungen
beruhe, die entweder unvertretbar seien oder jedenfalls in der Fachwelt über-
wiegend nicht geteilt würden. Die von der Klägerin erhobenen Einwendungen
können die Verwertbarkeit dieses Gutachtens jedoch nicht in Frage stellen, weil
sich ihre Bedeutung für die konkreten, den Unfall vom 15. Juli 2003 betreffen-
den Feststellungen und Beurteilungen des Sachverständigen nicht erschließt.
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Die Klägerin macht geltend, der Sachverständige Dr. Sch. sei Anhänger der
medizinisch nicht vertretbaren Adaptionslehre. Hierzu hat der Verwaltungsge-
richtshof in dem Berufungsurteil ausgeführt, diese wissenschaftliche Theorie
habe für das vorliegende Gutachten keine Rolle gespielt. Sie befasse sich da-
mit, welche Bedeutung langjährigen beruflichen Belastungen für Gelenk- und
Wirbelsäulenerkrankungen zukomme. Demgegenüber gehe es im vorliegenden
Fall um die Folgen eines einmaligen Unfallereignisses. Hierauf geht die Klägerin
in der Beschwerdebegründung nicht ein. Vielmehr beschränkt sie sich auf die
Wiederholung ihres Vorbringens in der Berufungsinstanz, die Adaptionslehre
stelle den Ursachenzusammenhang zwischen plötzlichen Ereignissen und
Schäden der Hals- und Lendenwirbelsäule generell in Abrede.
Die Klägerin trägt vor, Dr. Sch. vertrete die wissenschaftlich unhaltbare Auffas-
sung, dass Fahrzeugunfälle bei nur geringer Aufprallgeschwindigkeit keine
Schäden der Hals- und Lendenwirbelsäule hervorrufen könnten. Dieser sog.
Harmlosigkeitsgrenze habe der Bundesgerichtshof eine Absage erteilt. Wie be-
reits der Verwaltungsgerichtshof zutreffend festgestellt hat, liegt dem Gutachten
nicht die Auffassung zugrunde, Wirbelsäulenverletzungen als Folge eines Zu-
sammenstoßes von Fahrzeugen seien stets ausgeschlossen, wenn die auf-
prallbedingte Geschwindigkeitsveränderung unterhalb eines bestimmten
Grenzwerts liegt. Vielmehr hat der Sachverständige seine Beurteilung, der Un-
fall vom 15. Juli 2003 könne die für die dauernde Dienstunfähigkeit maßgeben-
den Körperschäden nicht herbeigeführt haben, aufgrund der konkreten Unfall-
umstände getroffen. Neben der geringen Geschwindigkeitsveränderung des
Fahrzeugs der Klägerin hat er darauf abgestellt, dass das Heck des Fahrzeugs
durch den Zusammenstoß nicht verschoben worden sei. Davon ausgehend hat
er Verletzungen der Rumpfwirbelsäule und im Beckenbereich aufgrund der
Sitzposition der Klägerin und des Schutzes durch den Sicherheitsgurt für aus-
geschlossen gehalten. Im Halsbereich sei allenfalls eine Distorsion ersten Gra-
des (Muskelzerrung) möglich gewesen.
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Auch der Vortrag der Klägerin, entgegen der Auffassung des Sachverständigen
könne bei einem Heckauffahrunfall eine Kopfdrehung im Augenblick des Auf-
pralls zu dauerhaften Schäden der Halswirbelsäule führen, ist nicht geeignet,
einen erheblichen Mangel des Gutachtens zu begründen. Der Sachverständige
hat substanziiert ausgeführt, die veröffentlichten Untersuchungen sprächen ge-
gen die Hypothese der erhöhten Verletzungsanfälligkeit der Halswirbelsäule bei
einer besonderen Kopfhaltung („out of position“). Dem stellt die Klägerin wie
bereits in der Berufungsinstanz ihre abweichende Auffassung gegenüber, ohne
auf die vom Sachverständigen genannten Belegstellen einzugehen.
Der Einwand der Klägerin, der Sachverständige habe Auffahrunfälle mit Seiten-
kollisionen im Hinblick auf Verletzungen der Halswirbelsäule zu Unrecht als re-
lativ harmlos dargestellt, geht von einer unzutreffenden tatsächlichen Annahme
aus. Der Sachverständige hat keine generelle Aussage zu derartigen Unfällen
getroffen, vielmehr den Unfall der Klägerin aufgrund der konkreten Umstände
als relativ harmlos beurteilt.
Schließlich macht die Klägerin geltend, die Ursächlichkeit des Unfalls für die
diagnostizierten Beschwerden sei entgegen dem Gutachten „zwingend logisch“,
weil die Schmerzen und Beschwerden erst nach dem Unfall aufgetreten seien.
Auch wenn diese zeitliche Abfolge als richtig unterstellt wird, kann daraus nicht
auf die fachliche Fehlerhaftigkeit des Gutachtens geschlossen werden. Der
Sachverständige war beauftragt, zu beurteilen, ob der Unfall vom 15. Juli 2003
für sich genommen die Ursache für die schwerwiegenden gesundheitlichen Be-
einträchtigungen gewesen sein kann, die die dauernde Dienstunfähigkeit der
Klägerin begründet haben. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die Kläge-
rin an den von ihr geschilderten Schmerzen und Beschwerden leidet. Auf die
Beantwortung dieser weiteren Frage kommt es nicht entscheidungserheblich
an, weil hiervon die Gewährung von Unfallruhegehalt gemäß § 36 Abs. 1
BeamtVG nicht abhängt. Die festgestellten Körperschäden, die den geschilder-
ten Schmerzen und Beschwerden zugrunde liegen, sind Grund für die Dienst-
unfähigkeit der Klägerin und nicht zwangsläufig kausale Unfallfolgen.
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Die Rüge der Klägerin, der medizinische Sachverständige Dr. Sch. sei aufgrund
der von ihm vertretenen medizinischen Auffassungen befangen, ist schon des-
halb unbeachtlich, weil die Klägerin in der Berufungsinstanz keinen Ableh-
nungsantrag gegen den Sachverständigen gestellt hat (§ 98 VwGO, § 406
Abs. 2, § 43 ZPO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und 3,
Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Herbert
Dr. Heitz
Dr. Maidowski
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