Urteil des BVerwG vom 06.05.2014

Begründungspflicht, Ermessen, Offenkundig, Überzeugung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 68.13
OVG 2 LB 50/12
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 6. Mai 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kenntner und Dollinger
beschlossen:
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 3. Mai 2013 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische Oberver-
waltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
Die Beschwerde des Klägers hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit
gemäß § 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist.
1. Der 1954 geborene Kläger steht als Amtsrat (Besoldungsgruppe A 12) im
gehobenen eichtechnischen Dienst der Beklagten. Seinen Antrag, ihm Alters-
teilzeit gemäß § 63 LBG n.F. zu gewähren, lehnte die Beklagte ab. Der Verwal-
tungsrat habe beschlossen, von einer Anwendung der Altersteilzeit - außer im
Falle von Schwerbehinderten - abzusehen, da bei der Beklagten kein Personal-
überhang bestehe. Würden alle potenziell antragsberechtigten Beamten von
der Möglichkeit einer Altersteilzeit Gebrauch machen, sei dies für die verblei-
benden Mitarbeiter nicht verkraftbar.
Widerspruch und Klageverfahren sind erfolglos geblieben. Im Berufungsurteil ist
zur Begründung ausgeführt, die Beklagte habe ihren Beschluss zur Einschrän-
kung der Altersteilzeit unabhängig vom Vorliegen „zwingender dienstlicher Be-
lange“ treffen dürfen. Ob es sich beim Antrag des Klägers um eine mitbestim-
mungspflichtige Maßnahme gehandelt habe, könne offenbleiben, weil auch bei
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einer Beteiligung des Personalrats keine andere Entscheidung hätte getroffen
werden können.
2. Die mit der Beschwerde geltend gemachte Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2
VwGO) zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. April 2004
(- BVerwG 2 C 22.03 - ZBR 2005, 88) liegt nicht vor, weil die Entscheidungen
nicht zu derselben Rechtsvorschrift ergangen sind (vgl. zu diesem Erfordernis
etwa Beschlüsse vom 4. Februar 1999 - BVerwG 6 B 131.98 - Buchholz 251.8
§ 94 RhPPersVG Nr. 1 = NVwZ-RR 1999, 374 und vom 17. April 2013
- BVerwG 2 B 109.11 - juris Rn. 3). Überdies ist § 88a des Landesbeamtenge-
setzes Schleswig-Holstein in der dem benannten Urteil des Bundesverwal-
tungsgerichts zugrunde liegenden Fassung vom 19. November 2001 (GVOBl
SH S. 184) zwischenzeitlich außer Kraft getreten (vgl. zum Erfordernis einer
noch gültigen Rechtsnorm etwa Beschluss vom 11. Dezember 1981 - BVerwG
7 B 22.81 - Buchholz 451.171 AtG Nr. 10 = NVwZ 1982, 433).
Mit der Beschwerde ist auch keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache
dargelegt (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Das Bundesverwaltungsgericht hat zur
Vorgängervorschrift des § 88a Abs. 3 LBG a.F. bereits entschieden, dass auch
die oberste Dienstbehörde bei ihrer Entscheidung, Verwaltungsbereiche von
der Altersteilzeit auszunehmen, an die tatbestandlichen Anforderungen der ge-
setzlich vorgesehenen Ausnahmemöglichkeiten gebunden ist (Urteile vom
29. April 2004 - BVerwG 2 C 21.03 - BVerwGE 120, 382 sowie - BVerwG 2 C
22.03 - ZBR 2005, 88). Die der obersten Dienstbehörde zugesprochene Ent-
scheidungsbefugnis stellt danach nur deklaratorisch klar, dass sich das Ermes-
sen auch auf einzelne Verwaltungsbereiche oder Beamtengruppen erstreckt
(vgl. zum Gesetzesvorbehalt der Altersteilzeitregelungen auch Urteil vom
25. Oktober 2007 - BVerwG 2 C 16.06 - Buchholz 237.3 § 71b BrLBG Nr. 1 =
NVwZ-RR 2008, 177 Rn. 21 sowie zum Bedeutungsgehalt des unbestimmten
Rechtsbegriffs zwingender dienstlicher Belange Urteil vom 30. März 2006
- BVerwG 2 C 23.05 - Buchholz 236.2 § 76c DRiG Nr. 1 = NVwZ-RR 2008, 45
Rn. 17).
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Für die Feststellung, dass diese Rechtslage auch unter Geltung des § 63 des
Landesbeamtengesetzes vom 26. März 2009 (GVOBl SH S. 93) gilt, bedarf es
nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens. Die Vorschrift ist weitgehend
inhaltsgleich aus § 88a Abs. 3 LBG a.F. übernommen und regelt dieselbe Fra-
gestellung. Auch das Oberverwaltungsgericht selbst ist von einer Parallelität der
Alt- und Neufassung ausgegangen und hat zur Auslegung des § 63 LBG maß-
geblich auf die Entstehungsgeschichte der Vorgängervorschrift aus § 88a
Abs. 3 LBG a.F. verwiesen.
3. Die Beschwerde hat allerdings unter dem Gesichtspunkt eines Verfahrens-
mangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg, soweit sie rügt, der Entscheidung
des Oberverwaltungsgerichts könne nicht nachvollziehbar entnommen werden,
warum es trotz der angenommenen Kontinuität von § 88a Abs. 3 LBG a.F. und
§ 63 LBG n.F. von einem freien Ermessen der obersten Dienstbehörde bei ihrer
Entscheidung über die Einschränkung des Anwendungsbereichs der Altersteil-
zeit ausgegangen ist. Damit macht sie der Sache nach einen Verstoß gegen die
aus § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO folgende Begründungspflicht geltend.
Dabei ist unerheblich, dass in der Beschwerde der Zulassungsgrund des Ver-
fahrensmangels nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht ausdrücklich benannt
worden ist. Da der Kläger den Verfahrensmangel der Sache nach hinreichend
substantiiert dargelegt hat, ist dessen fehlende Einordnung unter den Zulas-
sungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO unschädlich (Beschlüsse vom
4. September 2008 - BVerwG 2 B 61.07 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 4
Rn. 4, vom 20. Oktober 2011 - BVerwG 2 B 86.11 - juris Rn. 1 und vom
15. Februar 2012 - BVerwG 2 B 137.11 - juris Rn. 8; vgl. zur Berücksichtigung
der Vorgaben aus Art. 19 Abs. 4 GG im Zulassungsrecht auch BVerfG, Kam-
merbeschluss vom 30. Juni 2005 - 1 BvR 2615/04 - BVerfGK 5, 369).
Nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO, der gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch
für das Berufungsgericht gilt, sind in dem Urteil die Gründe anzugeben, die für
die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Das Gericht muss sich da-
her nicht mit jedem Vorbringen der Beteiligten ausdrücklich befassen. Aus
Art. 103 Abs. 1 GG folgt aber grundsätzlich die Verpflichtung, auf den wesentli-
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chen Kern des Vorgebrachten einzugehen (stRspr; vgl. zuletzt etwa BVerfG,
Kammerbeschluss vom 14. August 2013 - 1 BvR 3157/11 - FamRZ 2013, 1953
Rn. 14 m.w.N.). Die Entscheidungsgründe müssen daher zu den für das Ver-
fahren wesentlichen Fragen - unter Berücksichtigung des darauf bezogenen
Vortrags der Beteiligten - nachvollziehbare Erwägungen zur tatsächlichen und
rechtlichen Würdigung enthalten (Beschlüsse vom 18. Oktober 2006 - BVerwG
9 B 6.06 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 66 Rn. 24 und vom 20. Okto-
ber 2011 - BVerwG 2 B 86.11 - juris Rn. 3 m.w.N.).
Diesen Anforderungen entspricht das Berufungsurteil bereits deshalb nicht, weil
es den gesamten Vortrag des Klägers zu den verfassungsrechtlichen Bedenken
einer voraussetzungslosen Ermächtigung der Exekutive und dem hieraus fol-
genden Erfordernis einer verfassungskonformen Auslegung übergangen hat.
Auf dieses Vorbringen, das für den Kläger offenkundig von zentraler Bedeutung
war, gehen die Entscheidungsgründe mit keinem Wort ein. Anlass hierzu hätte
überdies deshalb bestanden, weil das Oberverwaltungsgericht selbst hinsicht-
lich der weitgehend identisch abgefassten Vorgängervorschrift des § 88a Abs. 3
LBG a.F. erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken ausgesprochen hatte (Ur-
teil vom 16. Mai 2003 - 3 LB 107/02 - NordÖR 2003, 316). Weder dieses Urteil
selbst noch die darin angestellten rechtlichen Erwägungen werden in den
Gründen der angegriffenen Entscheidung erwähnt. Es ist daher von einer
Nichtberücksichtigung dieser Gesichtspunkte auszugehen (BVerfG, Beschluss
vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <146>).
Auf diesem Verstoß gegen die Begründungspflicht aus § 108 Abs. 1 Satz 2
VwGO kann die angegriffene Entscheidung auch beruhen, weil zwingende
dienstliche Belange, die der Gewährung der beantragten Altersteilzeit ent-
gegenstehen könnten, nicht festgestellt worden sind.
Dies führt zur Zurückverweisung der Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO.
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