Urteil des BVerwG vom 10.10.2014

Grundsatz der Gleichbehandlung, Beamtenverhältnis, Verwirkung, Disziplinarverfahren

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 66.14
VGH 28 A 1177/12.D
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. Oktober 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz und Dr. Hartung
beschlossen:
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Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 27. Mai 2014 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten kann keinen Erfolg haben. Auf-
grund des Darlegungserfordernisses nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO ist der
Senat darauf beschränkt, über die Revisionszulassung ausschließlich auf der
Grundlage der Beschwerdebegründung zu entscheiden. Aus der Beschwer-
debegründung des Beklagten ergibt sich nicht, dass der geltend gemachte Re-
visionszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung im Sinne von § 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO vorliegt. §§ 132 und 133 VwGO sind hier nach § 73 des
Hessischen Disziplinargesetzes vom 21. Juli 2006 - HDG - (GVBl. I S. 394) an-
wendbar.
Der Beklagte, der als Kriminaloberkommissar im Dienst des klagenden Landes
steht, wurde im November 2007 rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe von
zehn Monaten verurteilt, weil er in der Zeit von November 2001 bis März 2004
in 20 Fällen das Dienstgeheimnis verletzt hatte. Der Beklagte hatte jeweils ver-
traulich oder geheim eingestufte Dokumente der Polizei und des Verfassungs-
schutzes über Ermittlungen und Erkenntnisse mit islamistischem Bezug einem
Journalisten übergeben. Auf die im Januar 2011 erhobene Disziplinarklage hat
das Verwaltungsgericht den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt; die
Berufung des Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof zurückgewiesen. In
den Gründen des Berufungsurteils heißt es im Wesentlichen, für Verletzungen
der Pflicht zur Amtsverschwiegenheit habe sich wegen der Bandbreite mögli-
cher Verfehlungen keine Regeleinstufung herausgebildet. Das Fehlverhalten
des Beklagten sei wegen der Vertraulichkeit der Dokumente sowie der Häufig-
keit der Verstöße über einen längeren Zeitraum als schwerwiegend einzustufen.
Erschwerend komme hinzu, dass der Beklagte uneinsichtig sei. Er gehe nach
wie vor davon aus, die Weitergabe der Dokumente sei die angemessene Reak-
tion darauf gewesen, dass seine innerdienstlichen Bemühungen um eine Ände-
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rung der behördlichen Praxis gegenüber dem islamistischen Umfeld erfolglos
geblieben seien. Eine übermäßige Verzögerung des Disziplinarverfahrens sei
nur im Bereich mittlerer Disziplinarmaßnahmen mildernd zu berücksichtigen,
stehe aber der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis nicht entgegen.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde wirft der Beklagte die Fragen als rechts-
grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auf, ob die
Entfernung aus dem Beamtenverhältnis bei der unangemessen langen Dauer
des Disziplinarverfahrens wegen der sich daraus ergebenden, vom Dienstherrn
verursachten Nachteile aus Fürsorgegründen verwirkt sein kann.
Damit kann der Beklagte die Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Be-
deutung nicht erreichen, weil die mit dem Beschwerdevortrag in Zusammen-
hang stehenden Rechtsfragen durch die Rechtsprechung des Bundesverwal-
tungsgerichts ausdrücklich geklärt sind. Die einschlägige Rechtsprechung zur
Bedeutung einer unangemessen langen Dauer des Disziplinarverfahrens für die
Bestimmung der Disziplinarmaßnahme lässt sich wie folgt zusammenfassen
(vgl. insbesondere Urteil vom 28. Februar 2013 - BVerwG 2 C 3.12 - BVerwGE
146, 98):
Die gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK verstoßende unangemessen lange Dauer
eines behördlichen oder gerichtlichen Verfahrens kann nicht dazu führen, dass
den Verfahrensbeteiligten eine Rechtsstellung zuwächst, die ihnen nach dem
innerstaatlichen materiellen Recht nicht zusteht. Daher kann der Verstoß für die
Sachentscheidung in dem zu lange dauernden Verfahren nur berücksichtigt
werden, wenn das materielle Recht dies vorschreibt oder zulässt. Ob diese
Möglichkeit besteht, ist durch die Auslegung der entscheidungserheblichen ma-
teriell-rechtlichen Normen und Rechtsgrundsätze zu ermitteln. Bei dieser Aus-
legung ist das Gebot der konventionskonformen Auslegung im Rahmen des
methodisch Vertretbaren zu berücksichtigen (Urteil vom 28. Februar 2013
a.a.O. Rn. 50).
Dementsprechend hat der Gesetzgeber die Verfahrensbeteiligten wegen der
unangemessen langen Verfahrensdauer auf Entschädigungsansprüche nach
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Maßgabe der §§ 198 ff. GVG in der Fassung des Gesetzes über den Rechts-
schutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfah-
ren vom 24. November 2011 ) verwiesen. Diese Vorschriften
finden auch für gerichtliche Disziplinarverfahren Anwendung (Urteil vom
28. Februar 2012 a.a.O. Rn. 51). Für den vorliegenden Fall ergibt sich dies aus
§ 173 Satz 2 VwGO, § 6 HDG.
Ergibt die für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme erforderliche Gesamt-
würdigung aller erschwerenden und mildernden Umstände des Dienstverge-
hens, im vorliegenden Fall nach § 16 Abs. 1 Satz 2 bis 4 HDG, dass die Entfer-
nung aus dem Beamtenverhältnis geboten ist, kann davon nicht abgesehen
werden, weil das Disziplinarverfahren unangemessen lange gedauert hat. Ein
Verbleib im Beamtenverhältnis ausschließlich aufgrund einer überlangen Ver-
fahrensdauer lässt sich nicht mit dem Zweck der Disziplinarbefugnis, nämlich
dem Schutz der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung und der Integri-
tät des Berufsbeamtentums, vereinbaren. Diese Schutzgüter und der Grundsatz
der Gleichbehandlung schließen aus, dass ein Beamter weiterhin Dienst leisten
und als Repräsentant des Dienstherrn auftreten kann, obwohl er durch ein gra-
vierendes Fehlverhalten untragbar geworden ist. Die Dauer des Disziplinarver-
fahrens ist nicht geeignet, das von dem Beamten zerstörte Vertrauensverhältnis
wiederherzustellen (Urteil vom 28. Februar 2013 a.a.O. Rn. 53).
Ergibt die Gesamtwürdigung dagegen, dass eine pflichtenmahnende Diszipli-
narmaßnahme ausreichend ist, steht fest, dass der Beamte im öffentlichen
Dienst verbleiben kann. Hier kann eine unangemessen lange Verfahrensdauer
bei der Bestimmung der Disziplinarmaßnahme aus Gründen der Verhältnismä-
ßigkeit mildernd berücksichtigt werden, wenn das disziplinarrechtliche Sankti-
onsbedürfnis wegen der mit dem Verfahren verbundenen Belastungen gemin-
dert ist (Urteil vom 28. Februar 2013 a.a.O. Rn. 54).
Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtsprechung in dem Kammerbe-
schluss vom 28. Januar 2013 (2 BvR 1912/12, NVwZ 2013, 788) gebilligt. Da-
nach ist es mit dem Grundgesetz vereinbar, dass einem Beamten, der während
seiner Dienstzeit durch ein schwerwiegendes Dienstvergehen die Entfernung
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aus dem Beamtenverhältnis verwirkt hat, trotz der unangemessen langen Dauer
des Disziplinarverfahrens das Ruhegehalt aberkannt wird.
Der Verwaltungsgerichtshof hat diese zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung
veröffentlichte Rechtsprechung des Senats zwar nicht berücksichtigt. Seine
Rechtsauffassung, eine unangemessen lange Verfahrensdauer sei unbeacht-
lich, wenn die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis geboten sei, stimmt da-
mit jedoch im Ergebnis überein.
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist auch geklärt, dass
der Disziplinaranspruch des Dienstherrn, d.h. der Anspruch auf Bestimmung
der für ein Dienstvergehen erforderlichen Disziplinarmaßnahme, nicht durch
Verwirkung untergehen kann. Die gesetzlich geregelten Fälle, in denen eine
Disziplinarmaßnahme wegen eines Maßnahmeverbots nicht verhängt werden
darf, sind abschließend; sie können nicht durch ein ungeschriebenes Maßnah-
meverbot wegen Verwirkung ergänzt werden. Dem liegt die Erwägung zugrun-
de, dass der Zweck der disziplinarischen Sanktionierung nicht darin liegt, be-
gangenes Unrecht zu vergelten. Vielmehr geht es darum, die Integrität des Be-
rufsbeamtentums und die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes auf-
rechtzuerhalten (Urteil vom 5. Mai 1998 - BVerwG 1 D 12.97 - Buchholz 232
§ 54 Satz 2 BBG Nr. 16; Beschlüsse vom 6. Juli 1984 - BVerwG 1 DB 21.84 -
BVerwGE 76, 176 <177 f.> und vom 13. Oktober 2005 - BVerwG 2 B 19.05 -
Buchholz 235.1 § 15 BDG Nr. 2 Rn. 5).
Schließlich ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt,
dass bei einem Beamten, der durch gravierendes Fehlverhalten untragbar ge-
worden ist, das Beamtenverhältnis nicht deshalb aufrechterhalten werden kann,
um soziale Härten, etwa die Folgen des Verlusts der Beihilfeberechtigung, zu
vermeiden. Damit sind Folgen angesprochen, die nicht Gegenstand des Diszi-
plinarverfahrens sind; sie können bei der Bestimmung der Disziplinarmaßnah-
me durch die Gesamtwürdigung der erschwerenden und mildernden Umstände,
im vorliegenden Fall nach § 16 Abs. 1 Satz 2 bis 4 HDG, nicht zugunsten des
Beamten berücksichtigt werden. Dieser ist bei der Entfernung aus dem Beam-
tenverhältnis gegebenenfalls darauf verwiesen, die sozialrechtlichen Schutzvor-
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schriften in Anspruch zu nehmen (Beschluss vom 17. Mai 2006 - BVerwG 2 B
15.06 - Buchholz 235.1 § 12 BDG Nr. 1 Rn. 5 f.). So kann ein pflichtversicherter
Arbeitsuchender im Rahmen des Bezugs von Arbeitslosengeld II (§§ 19 ff.
SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende) in eine Krankenkasse der gesetz-
lichen Krankenversicherung (§ 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V) und damit zugleich in
eine Pflegekasse der sozialen Pflegeversicherung (§ 1 Abs. 2 Satz 1 und
Abs. 3, § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a SGB XI) wechseln (vgl. Müller, Beamtendis-
ziplinarrecht, Rn. 165).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1 Satz 1 HDG. Einer Festsetzung
des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil für das Ver-
fahren Gebühren nach der Anlage zu § 82 Abs. 1 Satz 1 HDG erhoben werden
(Nr. 62).
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