Urteil des BVerwG vom 20.10.2011

Beteiligter, Behandlung, Beweisantrag, Anhörung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 63.11
VGH 4 S 2233/08
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. Oktober 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Herbert
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz und Dr. Maidowski
beschlossen:
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Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes Baden-
Württemberg vom 24. Januar 2011 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof Baden-
Württemberg zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
Auf die Beschwerde der Klägerin ist der Rechtsstreit nach § 133 Abs. 6 VwGO
unter Aufhebung der Berufungsentscheidung zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen. Die Be-
rufungsentscheidung beruht auf einem Verfahrensmangel im Sinne von § 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO, weil der Verwaltungsgerichtshof über die Berufung des Be-
klagten ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 130a Satz 1
VwGO entschieden hat. Damit hat er den Anspruch der Klägerin auf Gewäh-
rung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verletzt.
Die Klägerin steht als beamtete Lehrerin im Dienst des Beklagten. Sie leidet an
einem cervicocephalen Syndrom aufgrund einer chronischen Schädigung des
Kapselbandapparats, die die Instabilität des Kopfgelenks zur Folge hat. Zur
Linderung ihrer chronischen Beschwerden (Durchblutungsstörungen, Ohn-
machtsanfälle, Bewegungsblockaden) erhält sie physiotherapeutische Behand-
lungen und Massagen, zu deren Aufwendungen der Beklagte Beihilfe gewährt.
Zusätzlich wird die Klägerin nach der „Atlastherapie nach Arlen“ behandelt.
Die Klage, mit der sie die Gewährung von Beihilfe zu Aufwendungen für die At-
lastherapie im Jahr 2004 erreichen will, hatte in erster Instanz Erfolg. Auf die
Berufung des Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof die Klage durch Be-
schluss nach § 130a Satz 1 VwGO abgewiesen. Beide Gerichte haben festge-
stellt, dass die „Atlastherapie nach Arlen“ wissenschaftlich nicht allgemein aner-
kannt ist. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs ist die Anwendung
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dieser Therapie auch im Fall der Klägerin medizinisch nicht geboten. In der Be-
rufungsentscheidung heißt es, die chronischen Beschwerden der Klägerin wür-
den nach den hierfür vorgesehenen Standardtherapien behandelt. Ihr Vortrag,
sie sei auf die Atlastherapie angewiesen, werde durch den Inhalt der ärztlichen
Stellungnahmen und des vom Beklagten eingeholten amtsärztlichen Gutach-
tens nicht belegt.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin vor allem Gehörsver-
stöße geltend: Der Verwaltungsgerichtshof habe ihren Vortrag nicht zur Kennt-
nis genommen, dass sie auf Behandlungen sowohl nach den Standardthera-
pien als auch zusätzlich nach der Atlastherapie angewiesen sei, um ihre Dienst-
fähigkeit zu erhalten. Das Gericht habe ihr trotz ihres Widerspruchs die Mög-
lichkeit genommen, die Besonderheiten ihres Falles in einer mündlichen Ver-
handlung zu erläutern. Auch habe sie der Verwaltungsgerichtshof nicht darauf
hingewiesen, dass er die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen nicht für aus-
reichend halte, um die Notwendigkeit der Atlastherapie neben den Standardthe-
rapien in ihrem Fall zu belegen. Der Verwaltungsgerichtshof habe versäumt,
diese medizinische Frage durch Einholung eines Sachverständigengutachtens
zu klären, obwohl sie dies schriftlich beantragt habe.
Die Klägerin rügt zu Recht, dass die Voraussetzungen für eine Entscheidung
über die Berufung des Beklagten ohne mündliche Verhandlung durch Be-
schluss nach § 130a Satz 1 VwGO nicht vorgelegen haben. Daher verstößt die
Berufungsentscheidung gegen das Gebot, über die Berufung aufgrund mündli-
cher Verhandlung zu entscheiden (§ 101 Abs. 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO);
sie verletzt zugleich den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Ge-
hörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO (stRspr; vgl. Urteile vom
30. Juni 2004 - BVerwG 6 C 28.03 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 64 S. 57
und vom 9. Dezember 2010 - BVerwG 10 C 13.09 - Buchholz 310 § 130a
VwGO Nr. 82 Rn. 24).
Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung
durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder ein-
stimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erfor-
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derlich hält. Ist das Erfordernis der Einstimmigkeit erfüllt, so liegt die Entschei-
dung über den Verzicht auf eine mündliche Berufungsverhandlung im Ermes-
sen des Gerichts. Jedenfalls dann, wenn ein Beteiligter dem beabsichtigten
Verzicht auf mündliche Verhandlung widerspricht, muss sich die Ausübung des
Ermessens daran orientieren, dass die mündliche Verhandlung nach § 101
Abs. 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch im Berufungsverfahren die Regel, eine
Entscheidung im vereinfachten Verfahren nach § 130a VwGO die Ausnahme
bildet. Der Anwendungsbereich des § 130a VwGO soll nach dem Zweck dieser
Bestimmung auf einfach gelagerte Streitsachen beschränkt sein. Dem liegt die
Vorstellung zugrunde, dass die umfassende Erörterung der tatsächlichen und
rechtlichen Gesichtspunkte der Streitsache mit den Beteiligten in einer Beru-
fungsverhandlung regelmäßig geeignet ist, die Richtigkeit und die Akzeptanz
der gerichtlichen Entscheidung zu fördern. Dies gilt umso mehr, je größer die
tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Streitsache sind. Mit dem
Grad der Schwierigkeiten wächst das Gewicht der Gründe, die gegen eine An-
wendung des § 130a VwGO sprechen (stRspr, vgl. Urteil vom 30. Juni 2004
a.a.O. S. 52 f.).
Daher ist die Entscheidung über die Berufung nach § 130a Satz 1 VwGO er-
messensfehlerhaft und verletzt den unterlegenen Beteiligten in seinem An-
spruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, wenn sich die Streitsache nach den
Gesamtumständen des Einzelfalles in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht als
außergewöhnlich schwierig erweist (stRspr; vgl. Urteil vom 30. Juni 2004
a.a.O.). Eine mündliche Berufungsverhandlung kann vor allem zur sachgerech-
ten Aufklärung schwieriger tatsächlicher Fragen geboten sein (Beschluss vom
12. März 1999 - BVerwG 4 B 112.98 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 35
S. 5 f.).
Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung liegt insbesondere dann nahe,
wenn in einer tatsächlich besonders schwierigen Streitsache ein Beteiligter
neuen erheblichen Tatsachenvortrag in das Berufungsverfahren eingeführt hat
oder das Berufungsgericht von der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des
Verwaltungsgerichts abweichen will. Hier erfordert die Gewährung rechtlichen
Gehörs, dass das Berufungsgericht die Beteiligten vor der Entscheidung durch
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Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO im Rahmen der Anhörung nach § 130a
Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die beabsichtigte Würdigung des neuen
Tatsachenvortrags oder auf die tragenden Gründe für seine von derjenigen des
Verwaltungsgerichts abweichende Sachverhalts- und Beweiswürdigung hin-
weist. Führt ein Beteiligter daraufhin neuen aus der Sicht des Berufungsgerichts
erheblichen Sachvortrag ein oder kündigt er einen erheblichen Beweisantrag
an, muss das Berufungsgericht mitteilen, aus welchem Grund es an seiner Ab-
sicht festhält, auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten. Es darf nicht ohne
weitere Anhörung nach § 130a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO ohne münd-
liche Verhandlung durch Beschluss über die Berufung entscheiden (stRspr; vgl.
Beschluss vom 2. März 2010 - BVerwG 6 B 72.09 - Buchholz 310 § 130a
VwGO Nr. 80 Rn. 7 f.).
Hier ist davon auszugehen, dass die Atlastherapie wissenschaftlich nicht allge-
mein anerkannt ist. Denn die Klägerin hat diese Feststellung des Verwaltungs-
gerichtshofs nicht angegriffen. Aufwendungen für eine wissenschaftlich nicht
allgemein anerkannte Behandlungsmethode können nur beihilfefähig sein,
wenn eine anerkannte Behandlungsmethode ohne Erfolg eingesetzt worden ist.
Unter dieser Voraussetzung kann sich eine Behandlung als notwendig erwei-
sen, die nicht dem allgemeinen Stand der medizinischen Wissenschaft ent-
spricht, aber nach ernst zu nehmender
Dies ist regelmäßig der Fall, wenn bereits wissenschaftliche, nicht auf Einzelfäl-
le beschränkte Erkenntnisse vorliegen, die attestieren, dass die Behandlungs-
methode zur Heilung der Krankheit oder zur Linderung von Leidensfolgen ge-
eignet ist und wirksam eingesetzt werden kann (Urteile vom 29. Juni 1995
- BVerwG 2 C 15.94 - Buchholz 271 LBeihilfeR Nr. 15 und vom 18. Juni 1998
- BVerwG 2 C 24.97 - Buchholz 270 § 6 BhV Nr. 10; Beschluss vom 19. Januar
2011 - BVerwG 2 B 76.10 - juris Rn. 7).
Danach kommt es für die Beihilfefähigkeit der Aufwendungen zu der Atlasthe-
rapie der Klägerin darauf an, ob feststeht, dass die Anwendung der allgemein
anerkannten Therapien für sich genommen nicht ausreicht, um ihre chronischen
Beschwerden zu lindern oder auf ein erträgliches Maß zu beschränken. Die Be-
antwortung dieser tatsächlichen Frage erweist sich als besonders schwierig,
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weil sie nicht nur fachärztliche Sachkunde, sondern die medizinische Beurtei-
lung eines außergewöhnlich gelagerten Sachverhalts erfordert. Der Umstand,
dass für die Behandlung eines cervicocephalen Syndroms allgemein anerkann-
te Therapien etabliert sind, genügt angesichts des substantiierten Sachvortrags
der Klägerin nicht, um die medizinische Notwendigkeit der Atlastherapie in ih-
rem Fall zu verneinen. Die Klägerin hat vorgetragen und durch ärztliche Stel-
lungnahmen belegt, dass sie zur Linderung ihrer chronischen Beschwerden
kumulativ auf Behandlungen nach allgemein anerkannten Therapien und zu-
sätzlich nach der Atlastherapie angewiesen sei. Im Hinblick darauf hat das Ver-
waltungsgericht den Nachweis der Notwendigkeit der Atlastherapie als erbracht
angesehen. Dagegen hat das Verwaltungsgericht das amtsärztliche Gutachten
nicht herangezogen, weil dieses von falschen tatsächlichen Voraussetzungen in
Bezug auf den Einsatz der Atlastherapie ausgehe, sich im Wesentlichen auf
allgemein gehaltene Aussagen beschränke und das spezifische Krankheitsbild
der Klägerin nicht in den Blick nehme. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin
Sachverständigenbeweis zur Frage der Notwendigkeit der Atlastherapie bean-
tragt.
Angesichts dieses Sach- und Streitstandes zu einer besonders schwierigen
Tatsachenfrage erweist sich die Entscheidung über die Berufung durch Be-
schluss nach § 130a Satz 1 VwGO als ermessensfehlerhaft. Der Verwaltungs-
gerichtshof durfte sich in der Anhörungsmitteilung nach § 130a, § 125 Abs. 2
Satz 3 VwGO nicht auf den Hinweis beschränken, nach dem Inhalt der Akten
komme in Betracht, der Berufung des Beklagten durch Beschluss stattzugeben.
Vielmehr musste er der Klägerin zur Gewährung des rechtlichen Gehörs die
tragenden Erwägungen für den in Aussicht gestellten Erfolg der Berufung des
Beklagten mitteilen. Hierfür bestand aus mehreren Gründen Anlass: Der Ver-
waltungsgerichtshof hat die Erkenntnismittel umfassend anders gewürdigt als
das Verwaltungsgericht. Er hat das amtsärztliche Gutachten trotz dessen lü-
ckenhafter tatsächlicher Feststellungen für die Beurteilung der Notwendigkeit
der Atlastherapie im Fall der Klägerin herangezogen und die vorgelegten ärztli-
chen Stellungnahmen als zu wenig aussagekräftig angesehen. Vor allem hat er
daraus ohne weitere Sachaufklärung den Schluss gezogen, es stehe fest, dass
die Anwendung der Atlastherapie im Fall der Klägerin medizinisch nicht not-
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wendig sei. Damit musste die Klägerin, die für diesen Fall Sachverständigen-
beweis beantragt hatte, nach dem Prozessverlauf nicht rechnen. Der Verwal-
tungsgerichtshof hat ihr die Möglichkeit genommen, einem Erfolg der Berufung
ohne weitere Sachaufklärung entgegenzutreten, etwa auf eine Ergänzung der
ärztlichen Stellungnahmen oder auf eine vorherige Entscheidung über ihren
Beweisantrag hinzuwirken.
Der Senat sieht davon ab, auf die weiteren Gehörsrügen einzugehen (§ 133
Abs. 5 Satz 2 VwGO). Der aufgeworfenen materiell-rechtlichen Frage kommt
keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu. Es
liegt auf der Hand, dass Aufwendungen zu wissenschaftlich nicht allgemein an-
erkannten Behandlungsmethoden auch dann nur unter den dargestellten Vor-
aussetzungen beihilfefähig sind, wenn sie nicht in einer Negativliste der generell
ausgeschlossenen Methoden aufgeführt werden (Urteil vom 29. Juni 1995
a.a.O. S. 9).
Herbert Dr. Heitz Dr. Maidowski
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