Urteil des BVerwG vom 27.02.2004

Zustand, Unfall, Luft, Belastung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 63.03
VGH 4 S 1869/02
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Februar 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S i l b e r k u h l
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. D a w i n und Dr. B a y e r
beschlossen:
Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-
Württemberg vom 17. September 2003 wird aufgehoben.
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Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zu-
rückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentschei-
dung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 3 750 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist begründet. Der Verwaltungsgerichtshof hat seine Pflicht zur er-
schöpfenden Aufklärung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass er dem Ersuchen
der Klägerin auf Einholung eines zahnmedizinischen Sachverständigengutachtens
nicht nachgekommen ist.
Der Verwaltungsgerichtshof ist der Auffassung, der Klägerin stehe unmittelbar auf-
grund der beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht ein Anspruch auf Beihilfe zu den Auf-
wendungen für zahnärztliche Implantate als Ersatz für die durch einen Reitunfall ver-
lorenen Zähne Nr. 21 und Nr. 22 zu, wenn die in der Beihilfeverordnung des Beklag-
ten allein vorgesehene Überkronung der Zahnlücke daran scheitere, dass die der
Lücke benachbarten Zähne Nr. 11 und Nr. 23 nicht als Pfeilerzähne genutzt werden
könnten. Sei die herkömmliche Überkronung aus diesem Grund zahnmedizinisch
unzulänglich, seien die Implantate die einzig zahnmedizinisch mögliche und deshalb
gebotene und angemessene Behandlung.
Die Klägerin hat mehrfach, zuletzt im Schriftsatz vom 28. Oktober 2003, behauptet,
die Zähne Nr. 11 und Nr. 23 seien, ebenfalls als Folge ihres Reitunfalls, nicht mehr
tauglich, die Brückenkonstruktion zu tragen, und hat um die Einholung eines zahn-
medizinischen Sachverständigengutachtens dazu ersucht. Der Verwaltungsgerichts-
hof hat dieses Ersuchen als unzulässigen Beweisermittlungsantrag angesehen und
aus diesem Grunde abgelehnt. Dadurch hat der Verwaltungsgerichtshof § 86 Abs. 1
Satz 1 VwGO verletzt.
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Das Tatsachengericht entscheidet über die Einholung eines weiteren Gutachtens
oder die Ergänzung vorhandener Gutachten nach seinem Ermessen (stRspr, vgl.
Urteil vom 6. Oktober 1987 - BVerwG 9 C 12.87 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 31
und Beschluss vom 24. März 2000 - BVerwG 9 B 530.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1
VwGO Nr. 308). Das gilt auch dann, wenn diese Maßnahme der Sachverhaltsermitt-
lung von einer der Parteien angeregt oder beantragt worden ist. § 86 Abs. 1 VwGO
ist verletzt, wenn der tatrichterlichen Entscheidung gegen ein zusätzliches oder er-
gänzendes Gutachten ein Ermessensfehler anhaftet. Der Verwaltungsgerichtshof hat
jedoch von der Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht in Ausübung sei-
nes Ermessens abgesehen. Vielmehr ist er den rechtserheblichen Behauptungen
der Klägerin über den Zustand ihrer Zähne Nr. 11 und Nr. 23 nicht nachgegangen,
weil er diese Behauptungen als nicht substantiiert (vgl. dazu Beschlüsse vom
29. Juli 1980 - BVerwG 4 B 218.79 - Buchholz 445.4 § 8 WHG Nr. 9 S. 4 und vom
20. Mai 1998 - BVerwG 7 B 440.97 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 153) angesehen
und deshalb das Ersuchen der Klägerin, diese Behauptungen mittels eines Sachver-
ständigengutachtens zu verifizieren, als bloßen Beweisermittlungsantrag qualifiziert
hat, dem schon deshalb nicht nachzugehen sei (vgl. Beschlüsse vom 20. Mai 1998,
a.a.O. und vom 29. Juli 1980, a.a.O. S. 4). Das ist rechtsfehlerhaft.
Die bei Beweisanträgen gebotene Substantiierung besteht in der Bestimmtheit der
aufgestellten Behauptung und des angegebenen Beweismittels (vgl. Beschluss vom
25. Januar 1988 - BVerwG 7 CB 81.87 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 196
m.w.N.). Das Substantiierungsgebot soll ganz generell die missbräuchliche Einleitung
von Beweisverfahren verhindern. Außerdem soll das Gericht in den Stand gesetzt
werden, die Berechtigung des Beweisersuchens anhand der dafür maßgebenden
Kriterien zu prüfen. Das Substantiierungsgebot erfordert ferner, dass die behauptete
Tatsache vom Antragsteller als wahr und als mit den angegebenen Beweismitteln
beweisbar dargestellt wird (Beschluss vom 27. März 2000 - BVerwG 9 B 518.99 -
Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 60 S. 6 ff.). Hierfür genügt es, wenn der Antragsteller
ein ernsthaftes Für-Möglich-Halten zum Ausdruck bringt. Nicht ausreichend ist eine
aufs Geradewohl aufgestellte Behauptung, die Behauptung einer "aus der Luft
gegriffenen" Tatsache (Beschluss vom 27. März 2000 - a.a.O. S. 6 f.).
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Das Ersuchen der Klägerin hat diesen Anforderungen an die Substantiierung genügt.
Ihre Behauptung ging dahin, die der Zahnlücke benachbarten Zähne Nr. 11 und
Nr. 23 seien als Befestigungspunkte für eine Brücke untauglich. Sie seien bei dem
Unfall in der Weise beschädigt worden, dass sie in den Kiefer eingedrückt worden
seien und der Zahnschmelz Risse erhalten habe. Außerdem sei ein Teil des sie tra-
genden Kieferknochens verloren gegangen. Wenn die Brücke an den - weiter ent-
fernten - Zähnen Nr. 12 und Nr. 24 befestigt würde, müssten die Zähne Nr. 11 und
Nr. 23 entfernt werden, sodass mit der Brücke vier Leerstellen überbrückt werden
müssten. Eine derartige Belastung würde aber die Zähne Nr. 12 und Nr. 24 mögli-
cherweise so stark beanspruchen, dass sie nach einigen Jahren ebenfalls entfernt
werden müssten. Die damit behauptete Tatsache entbehrt nicht der nötigen Be-
stimmbarkeit. Die Klägerin trägt der Sache nach vor, der Zustand ihres Gebisses im
Bereich der Zähne Nr. 21, 22, 11, 23, 12 und 24 schließe die Anbringung einer Brü-
cke aus. Die damit behauptete zahnmedizinische Unzulänglichkeit einer Brücke stellt
sie als beweisbare Tatsache dar, die der Gutachter ihrer Überzeugung nach bestäti-
gen wird.
Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache gemäß
§ 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurück.
Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 13 Abs. 2 Satz 1 GKG.
Dr. Silberkuhl Prof. Dawin Dr. Bayer