Urteil des BVerwG vom 20.10.2011

Neue Beweismittel, Schuldfähigkeit, Verminderung, Beweisantrag

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 61.10
OVG 3d A 2363/09.O
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. Oktober 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Herbert,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Thomsen und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung
beschlossen:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 5. Mai 2010 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entschei-
dung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nord-
rhein-Westfalen zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache
gemäß § 133 Abs. 6 VwGO und § 67 Satz 1 LDG NRW an das Oberverwal-
tungsgericht zurückzuverweisen ist. Das Berufungsurteil beruht auf einem vom
Beklagten geltend gemachten Verstoß gegen die aus § 57 Abs. 1 Satz 1
LDG NRW folgende Pflicht zur umfassenden Erforschung des entscheidungs-
erheblichen Sachverhalts.
Der 1962 geborene Beklagte steht als Brandmeister im Dienst der Beklagten
und wird auch als Rettungsassistent eingesetzt. Der Beklagte ist wegen Urkun-
denfälschung in Tateinheit mit Betrug sowie wegen Entziehung elektrischer
Energie strafrechtlich vorbelastet. Wegen des Vorfalls, der den Gegenstand des
Disziplinarverfahrens bildet, wurde der Beklagte wegen Diebstahls zu einer
Freiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt. Der Beklagte hatte im Jahr 2006 einem
stark alkoholisierten und bewusstlosen Patienten auf der Fahrt im Rettungswa-
gen 50 € entwendet, um diese für sich zu behalten. Erst nach Aufforderung
durch den Fahrer des Rettungswagens, der den Beklagten bei der Tat beo-
bachtet und anschließend zur Rede gestellt hatte, gab der Beklagte das Geld
zurück. Im Disziplinarverfahren hat das Verwaltungsgericht den Beklagten aus
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dem Dienst entfernt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Beklag-
ten zurückgewiesen.
1. Die Revision ist nicht wegen der vom Beteiligten geltend gemachten grund-
sätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO
und § 67 Satz 1 LDG NRW).
In der Rechtsprechung ist zum einen anerkannt, dass die Anwendung des Mil-
derungsgrundes der Geringwertigkeit der entwendeten Sache auch voraussetzt,
dass durch das Dienstvergehen keine weiteren wichtigen öffentlichen oder pri-
vaten Interessen verletzt sind und der Beamte nicht durch sein sonstiges Ver-
halten oder durch die konkrete Tatausführung zusätzlich belastet ist (Urteil vom
11. Juni 2002 - BVerwG 1 D 31.01 - BVerwGE 116, 308 <311> = Buchholz 232
§ 54 Satz 2 BBG Nr. 28). Zum anderen ist geklärt, dass das Verwaltungsgericht
gegen die Bemessungsvorgaben nach § 13 Abs. 2 LDG NRW und auch gegen
das verfassungsrechtlich fundierte Schuldprinzip verstößt, wenn es ohne Sach-
aufklärung zu Gunsten des Beamten davon ausgeht, dessen Einsichts- und
Steuerungsfähigkeit sei im Zeitpunkt der Tat im Sinne des § 21 StGB vermin-
dert gewesen, die Erheblichkeit dieser Annahme jedoch im Hinblick auf die Ein-
sehbarkeit der betreffenden Pflicht verneint. Vielmehr haben die Verwaltungs-
gerichte für die von ihnen zu treffende Bemessungsentscheidung die Frage ei-
ner erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit des Beamten bei der Tat im
Sinne des § 21 StGB aufzuklären, wenn entsprechende Anhaltspunkte vorlie-
gen. Die Frage, ob der Beamte im Zustand erheblich verminderter Schuldfähig-
keit im Sinne von §§ 20 und 21 StGB gehandelt hat, darf nicht quasi schema-
tisch als unbeachtlich behandelt werden (Urteile vom 29. Mai 2008 - BVerwG
2 C 59.07 - Buchholz 235.1 § 70 BDG Nr. 3 S. 3 und vom 25. März 2010
- BVerwG 2 C 83.08 - BVerwGE 136, 173 = Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 11
jeweils Rn. 31 m.w.N.). Einen darüber hinausgehenden Klärungsbedarf zeigt
der Beklagte in seiner Beschwerde nicht auf.
2. Die Revision ist auch nicht wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO und
§ 67 Satz 1 LDG NRW) zuzulassen. Eine die Revision eröffnende Divergenz ist
nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet,
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wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entschei-
dung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem
in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensol-
chen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz
in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (vgl. BVerwG, Be-
schluss vom 21. Juni 1995 - BVerwG 8 B 61.95 - Buchholz 310 § 133
VwGO Nr. 18). Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwen-
dung von Rechtssätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner Recht-
sprechung aufgestellt hat, genügt weder den Zulässigkeitsanforderungen einer
Divergenz- noch denen einer Grundsatzrüge (vgl. BVerwG, Beschluss vom
17. Januar 1995 - BVerwG 6 B 39.94 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 342
).
Nach diesen Grundsätzen ist eine Divergenz nicht dargelegt. Das Oberverwal-
tungsgericht hat in seinem Urteil nicht entgegen dem Urteil des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 20. Oktober 2005 (- BVerwG 2 C 12.04 - BVerwGE 124, 252
= Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 1) den Rechtssatz aufgestellt, das für die Be-
messungsentscheidung bedeutsame Persönlichkeitsbild des betroffenen Beam-
ten sei allein anhand einer einzelnen strafrechtlichen Verurteilung zu bestim-
men und andere Umstände, wie etwa die persönlichen Verhältnisse und das
sonstige dienstliche Verhalten des Beamten, seien irrelevant. Auch hat das
Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil keine allgemeinen Rechtssätze aufge-
stellt, die denen des Senats in seinem Urteil vom 25. März 2010 ( -BVerwG 2 C
83.08 - a.a.O.) zur Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ und zur
Pflicht des Verwaltungsgerichts zur Aufklärung des Sachverhalts hinsichtlich
einer möglichen Verminderung der Schuldfähigkeit des Beamten zum Tatzeit-
punkt widersprechen. Insbesondere ist das Oberverwaltungsgericht nicht
rechtssatzmäßig davon ausgegangen, für die Bemessungsentscheidung stelle
sich die Frage nach der Erheblichkeit einer krankhaften Störung von vornherein
nicht, weil ihr Vorliegen an sich generell unerheblich sei.
3. Begründet ist jedoch die Verfahrensrüge des Verstoßes gegen die aus § 57
Abs. 1 Satz 1 LDG NRW folgende Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts
(§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO und § 67 Satz 1 LDG NRW). Das Oberverwaltungs-
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gericht durfte den in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag zur
Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Erkrankung des Beklagten
nicht mit der Begründung ablehnen, der Beweisantrag sei unerheblich.
Nach § 57 Abs. 1 Satz 1 LDG NRW erhebt das Gericht die erforderlichen Be-
weise. Den Tatsachengerichten obliegt danach die Pflicht, jede mögliche Auf-
klärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Grenze der Zumut-
barkeit zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erfor-
derlich ist (vgl. Urteile vom 6. Februar 1985 - BVerwG 8 C 15.84 - BVerwGE 71,
38 <41> und vom 6. Oktober 1987 - BVerwG 9 C 12.87 - Buchholz 310 § 98
VwGO Nr. 31 S. 1).
Bestehen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Schuldfähigkeit des Beam-
ten bei Begehung der Tat gemindert war, so darf das Verwaltungsgericht im
Rahmen seiner Bemessungsentscheidung diesen Aspekt nicht offen lassen
oder zu Gunsten des Betroffenen unterstellen und sogleich auf die Einsehbar-
keit der betreffenden Pflicht abstellen. Vielmehr muss es die Frage einer Minde-
rung der Schuldfähigkeit des Beamten aufklären. Hat der Beamte zum Tatzeit-
punkt an einer krankhaften seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB gelitten
oder sollte eine solche Störung nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ nicht
ausgeschlossen werden können und ist die Verminderung der Schuldfähigkeit
des Beamten erheblich, so ist dieser Umstand bei der Bewertung der Schwere
des Dienstvergehens mit dem ihm zukommenden erheblichen Gewicht heran-
zuziehen. Bei einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit wird die Höchst-
maßnahme regelmäßig nicht mehr ausgesprochen werden können (Urteil vom
25. März 2010 - BVerwG 2 C 83.08 - BVerwGE 136, 173 = Buchholz 235.1 § 13
BDG Nr. 11 jeweils Rn. 29 ff.).
Hierzu muss geklärt werden, ob der Beamte im Tatzeitraum an einer Krankheit
gelitten hat, die seine Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach die-
ser Einsicht zu handeln, vermindert hat, und welchen Umfang diese Minderung
hat. Aufgrund des Vorbringens des Beklagten im Berufungsverfahren bestand
für das Oberverwaltungsgericht auch hinreichender Anlass, der entscheidungs-
erheblichen Frage der Verminderung der Schuldfähigkeit des Beklagten zum
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Tatzeitpunkt nachzugehen. Der Beklagte hatte das Attest des ihn behandelnden
Arztes vom 4. Mai 2010 vorgelegt. In diesem wurde auf ein bisher nicht erkann-
tes schweres Schlafapnoesyndrom sowie auf die beim Beklagten diagnostizier-
te depressive Grunderkrankung hingewiesen, die auch zu kognitiven Defiziten
führt. Zugleich wurde eine weitere Aufklärung für erforderlich gehalten. Zudem
hat der Beklagte in der Berufungsverhandlung den unbedingten Beweisantrag
gestellt, ein Sachverständigengutachten zur Frage einzuholen, ob bei ihm eine
schwere chronische Schlafstörung vorliegt und ob diese zu Störungen des Be-
wusstseins in Form von Verhaltensaussetzern und Kontrollverlusten führt.
Von einem Eingehen auf die weitere Verfahrensrüge des Beklagten kann abge-
sehen werden (§ 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass nach der Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Lösung von Tatsachenfeststel-
lungen des rechtskräftigen Strafurteils auch dann in Betracht kommt, wenn
neue Beweismittel vorgelegt werden, die dem Strafgericht nicht zur Verfügung
standen, und nach denen die Tatsachenfeststellungen jedenfalls auf erhebliche
Zweifel stoßen (Urteile vom 29. November 2000 - BVerwG 1 D 13.99 - BVerw-
GE 112, 243 <245> und vom 16. März 2004 - BVerwG 1 D 15.03 - Buchholz
232 § 54 Satz 3 BBG Nr. 36; Beschluss vom 24. Juli 2007 - BVerwG 2 B 65.07 -
Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 4 Rn. 11).
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