Urteil des BVerwG vom 04.09.2008

Grundsatz der Unmittelbarkeit, Vorweggenommene Beweiswürdigung, Rechtliches Gehör, Beamtenverhältnis

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 61.07
VGH 16b D 06.942
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. September 2008
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Groepper und Dr. Heitz sowie
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Thomsen
beschlossen:
Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs
vom 16. März 2007 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit
wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an
den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwie-
sen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
Die Beschwerde der Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass die Sache
gemäß § 133 Abs. 6 VwGO, § 69 BDG an das Berufungsgericht zurückzuver-
weisen ist. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil
der Beschluss des Berufungsgerichts den Anspruch der Beklagten auf Gewäh-
rung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO und
das Gebot der unmittelbaren Beweisaufnahme gemäß § 58 Abs. 1 BDG ver-
letzt.
1. Die Beklagte wurde mit rechtskräftigem Strafbefehl wegen Betruges in Tat-
einheit mit Urkundenfälschung in Tatmehrheit mit Unterschlagung zu einer
Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 30 € verurteilt. Als Tathandlungen wurden das
zweimalige unberechtigte Kassieren von Beträgen (19,45 € von der Zeugin P.
und 15,95 € von der Zeugin H.-A.) bei der Paketzustellung gegen Quittung mit
dem Namenskürzel des am selben Tag im Zustellbezirk eingesetzten Brief-
zustellers und die Unterschlagung eines Fangbriefes mit 50 € Bargeld zugrunde
gelegt. Das Verwaltungsgericht hat im sachgleichen Disziplinarklageverfahren
die Beklagte aus dem Beamtenverhältnis entfernt und dabei die im Strafbefehl
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zugrunde gelegten Tathandlungen als erwiesen erachtet. Die Beklagte müsse
die Indizwirkung des Strafbefehls gegen sich gelten lassen, weil sie nach den
Zeugenaussagen in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht ihren Ein-
spruch gegen den Strafbefehl zurückgenommen habe. Eine Beweisaufnahme
hat das Verwaltungsgericht nicht durchgeführt.
Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten durch Beschluss nach
§ 130a VwGO zurückgewiesen. Dabei hat es aus prozessökonomischen Grün-
den den Vorfall „Fangbrief“ ausgeklammert und ist im Übrigen der Beweiswür-
digung des Verwaltungsgerichts beigetreten. Das Vorbringen der Beklagten
biete keinen Anlass, weitere Ermittlungen anzustellen.
2. Unter der unrichtigen Bezeichnung als Divergenzrüge, aber sachlich zutref-
fend rügt die Beklagte, das Berufungsgericht sei gemäß Art. 103 Abs. 1 GG,
§ 108 Abs. 2 VwGO, § 58 Abs. 1 BDG verpflichtet gewesen, den beantragten
Zeugenbeweis zu erheben. Da die Beklagte den Verfahrensmangel gemäß
§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in der Sache hinreichend substanziiert dargelegt hat,
ist dessen unzureichende rechtliche Qualifizierung als Divergenz unschädlich
(vgl. Beschluss vom 22. Dezember 2005 - BVerwG 2 B 50.05 -).
Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die
Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der
Entscheidungsfindung in Erwägung zu ziehen. Demnach muss das Gericht
einem Beweisangebot nachgehen, wenn die unter Beweis gestellte Tatsachen-
behauptung nach seinem Rechtsstandpunkt erheblich ist und die Nichtberück-
sichtigung des Beweisangebots im Prozessrecht keine Stütze findet (Beschluss
vom 14. Juni 2005 - BVerwG 2 B 108.04 - Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 1
m.w.N.).
Nach diesen Maßstäben durfte das Berufungsgericht die Beweisangebote der
Beklagten zu den beiden Vorgängen nicht übergehen. Die Beklagte hat das ihr
zur Last gelegte Dienstvergehen bestritten und mit ihren Beweisanträgen das
Ziel verfolgt, durch die Zeugenaussagen entlastet zu werden. Da der Beru-
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fungsentscheidung die beiden Vorgänge tragend zugrunde liegen, lag die Ent-
scheidungserheblichkeit der beantragten Beweisaufnahme auf der Hand.
Gemäß § 58 Abs. 1 BDG erhebt das Gericht die erforderlichen Beweise. Dem-
nach hat es grundsätzlich selbst diejenigen Tatsachen festzustellen, die für den
Nachweis des Dienstvergehens und die Bemessung der Disziplinarmaßnahme
von Bedeutung sind (vgl. auch BTDrucks 14/4659 S. 49, zu § 58 BDG). Ent-
sprechend § 86 Abs. 1 VwGO folgt daraus die Verpflichtung, diejenigen Maß-
nahmen zur Sachaufklärung zu ergreifen, die sich nach Lage der Dinge auf-
drängen. Dies gilt gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG auch für die Berufungsin-
stanz (vgl. dazu Beschlüsse vom 14. Juni 2005 a.a.O., vom 8. Februar 2007
- BVerwG 2 B 9.07 - juris und vom 19. Dezember 2007 - BVerwG 2 B 34.07 -
juris). Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung, der an die Stelle
des früher gemäß § 75 Abs. 2 Satz 1 BDO geltenden Grundsatzes der mittelba-
ren Beweiserhebung getreten ist, verpflichtet das Verwaltungsgericht, alle er-
forderlichen Beweise selbst zu erheben. Es kann deshalb grundsätzlich nicht
mehr eine bestrittene, beweisbedürftige Tatsache durch Verlesen von Verneh-
mungsprotokollen des behördlichen Disziplinarverfahrens oder anderer gesetz-
lich geordneter Verfahren feststellen. Von Zeugen hat es sich in der mündlichen
Verhandlung selbst einen unmittelbaren persönlichen Eindruck zu verschaffen.
Diese Aufklärungspflicht wird durch § 58 Abs. 2, § 65 Abs. 3 BDG begrenzt, die
die Ablehnung verspätet gestellter Beweisanträge ermöglichen. Ferner kann
das Berufungsgericht nach § 65 Abs. 4 BDG vom Verwaltungsgericht erhobene
Beweise seiner Entscheidung ohne erneute Beweisaufnahme zugrunde legen.
Das Berufungsgericht hat seine Ablehnung der Beweisanträge aber nicht auf
§ 65 Abs. 3 oder 4 BDG gestützt, sondern auf § 57 Abs. 2 BDG. Danach sind
die in einem anderen gesetzlich geordneten Verfahren getroffenen tatsächli-
chen Feststellungen nicht bindend, können aber der Entscheidung ohne erneu-
te Prüfung zugrunde gelegt werden. Diese Vorschrift rechtfertigt es nur dann,
von einer gerichtlichen Beweisaufnahme abzusehen, wenn die anderweitig
festgestellten Tatsachen im gerichtlichen Disziplinarverfahren nicht mehr
bestritten werden. Dieser eingeschränkte Bedeutungsgehalt des § 57 Abs. 2
BDG wird durch das im Wortlaut angelegte Regel-Ausnahme-Verhältnis und
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den systematischen Zusammenhang mit dem nachfolgenden § 58 Abs. 1 BDG
vorgegeben (ebenso bereits die stRspr des Disziplinarsenats zu § 18 Abs. 2
BDO: Urteile vom 5. August 1986 - BVerwG 1 D 176.85 - BVerwGE 83, 221 und
vom 16. Juni 1992 - BVerwG 1 D 11.91 - BVerwGE 93, 255 <259>). Danach ist
im vorliegenden Fall für die Anwendung des § 57 Abs. 2 BDG kein Raum.
Das Berufungsgericht durfte die Beweisanträge der Beklagten zudem nicht un-
ter Verweis auf die Beweiswürdigung in dem erstinstanzlichen Urteil und seine
Ausführungen im Anhörungsschreiben ablehnen: Dort heißt es pauschal, dass
das Gericht die von der Beklagten aufgezeigten Widersprüche in den Aussagen
der Zeuginnen nicht sehe. Sodann werden hierzu andere Passagen aus deren
Aussagen in der Verhandlung vor dem Strafgericht solchen aus den Verneh-
mungen bei der Polizei oder der Konzernsicherheit gegenübergestellt.
Ob Aufklärungsmaßnahmen den beabsichtigten Erfolg haben werden, lässt sich
erst nach ihrer Durchführung beurteilen. Das Absehen von einer weiteren
Sachaufklärung mit der Begründung, etwa in Betracht kommende Beweismittel
würden voraussichtlich nicht den gewünschten Aufschluss erbringen, stellt eine
unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung und damit eine Verletzung der
Verpflichtung des Gerichts gemäß § 86 Abs. 1 VwGO, § 58 Abs. 1 i.V.m. § 65
Abs. 1 BDG dar, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (vgl. Urteil
vom 19. März 1998 - BVerwG 2 C 5.97 - BVerwGE 106, 263 <265 f.>). Die
nach Einschätzung des Gerichts geringe Wahrscheinlichkeit, dass Aufklä-
rungsmaßnahmen zu weiteren Erkenntnissen führen werden, begrenzt nicht die
Amtsermittlungspflicht (Beschlüsse vom 22. August 2000 - BVerwG 2 B 29.00 -
Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 310, vom 14. Juni 2005 a.a.O. und vom
19. Dezember 2007 a.a.O.). Dies gilt erst recht, wenn ein Gericht jegliche Be-
weisaufnahme ablehnt, weil es bereits vorher vom Gegenteil überzeugt ist. Das
Berufungsgericht wird daher die Zeugen auch zu den von der Beklagten aufge-
zeigten Widersprüchen zu befragen haben.
3. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
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In Disziplinarklageverfahren nach dem Bundesdisziplinargesetz darf das Beru-
fungsgericht nicht - wie geschehen - gemäß § 130a VwGO auf eine Entfernung
aus dem Beamtenverhältnis, Aberkennung des Ruhegehalts oder Zurückstu-
fung erkennen oder eine solche Entscheidung bestätigen. Diese Vorschrift ist
wegen der Sonderregelung des § 59 BDG nicht anwendbar, der über die Ver-
weisungsnorm des § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG im Berufungsverfahren Anwendung
findet (Urteil vom 25. Oktober 2007 - BVerwG 2 C 43.07 - Buchholz 235.1 § 65
BDG Nr. 2).
Bei einer Ablehnung der Beweisanträge zum „Fangbrief“ aus prozessökonomi-
schen Gründen könnte nicht - wie geschehen - mit einem Verweis auf die Ur-
teilsgründe des Verwaltungsgerichts eine Entfernung aus dem Dienst begründet
werden. Denn der vom Verwaltungsgericht verneinte Milderungsgrund der
Geringwertigkeit wäre dann als entlastender Umstand zu berücksichtigen und
die zum „Fangbrief“ vom Verwaltungsgericht aufgeführten weiteren belastenden
Umstände, mit denen es die Dienstentfernung begründet hat, wären dann hin-
fällig. Eine solche Begründung ließe nicht erkennen, welche Rechtssätze für
das Berufungsgericht überhaupt leitend sind und welche Feststellungen es im
Hinblick darauf als entscheidungserheblich ansieht, so dass sie gegen die Be-
gründungsanforderungen gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 1
Satz 1 VwGO und § 3 BDG verstößt (stRspr, vgl. Beschluss vom 4. August
2005 - BVerwG 2 B 5.05 - Buchholz 235.1 § 66 BDG Nr. 1 m.w.N.).
Es spricht zudem vieles dafür, dass auch der Nachweis der beiden ersten Vor-
gänge nicht ausreicht, um die Beklagte aus dem Beamtenverhältnis zu entfer-
nen. Welche Disziplinarmaßnahme im Einzelfall erforderlich ist, richtet sich ge-
mäß § 13 Abs. 1 Satz 2 und 3 BDG nach der Schwere des nachgewiesenen
Dienstvergehens unter angemessener Berücksichtigung der Persönlichkeit des
Beamten und des Umfangs der durch das Dienstvergehen herbeigeführten Ver-
trauensbeeinträchtigung. Die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis setzt ge-
mäß § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG voraus, dass der Beamte durch ein schweres
Dienstvergehen das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgül-
tig verloren hat. Die Schwere des Dienstvergehens beurteilt sich nach objekti-
ven Handlungsmerkmalen wie Eigenart und Bedeutung der Dienstpflichtverlet-
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zung, Häufigkeit und Dauer eines wiederholten Fehlverhaltens, subjektiven
Handlungsmerkmalen wie Form und Gewicht des Verschuldens des Beamten
und Beweggründen für sein Verhalten sowie den unmittelbaren Folgen des
Dienstvergehens für den dienstlichen Bereich und für Dritte. Ein endgültiger
Vertrauensverlust gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG ist eingetreten, wenn die
Gesamtwürdigung der bedeutsamen Umstände ergibt, dass der Beamte auch
künftig seinen Dienstpflichten nicht nachkommen wird oder die Ansehensschä-
digung nicht wiedergutzumachen ist (Urteile vom 20. Oktober 2005 - BVerwG
2 C 12.04 - BVerwGE 124, 252 <258 ff.> und vom 3. Mai 2007 - BVerwG 2 C
9.06 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 3, vgl. auch Urteil vom 25. Oktober 2007
a.a.O.).
Die Bemessungsvorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG gelten auch für
die Fallgruppe der Zugriffsdelikte, d.h. für die Veruntreuung dienstlich anver-
trauter Gelder und Güter einschließlich der Gebührenüberhebung. Aufgrund der
Schwere dieser Dienstvergehen ist hier die Entfernung aus dem Beamten-
verhältnis grundsätzlich Richtschnur für die Maßnahmebestimmung, wenn die
Beträge oder Gegenstände insgesamt die Schwelle der Geringwertigkeit deut-
lich übersteigen (Urteile vom 20. Oktober 2005 a.a.O., vom 3. Mai 2007 a.a.O.
und vom 25. Oktober 2007 a.a.O.). Daher muss das Berufungsgericht durch
Erhebung der erforderlichen Beweise feststellen, ob der Beklagten die Unter-
schlagung des Geldbetrags in dem Fangbrief zur gerichtlichen Überzeugung
nachgewiesen werden kann. Der Nachweis kann nicht durch Plausibilitätserwä-
gungen auf der Grundlage des Akteninhalts geführt werden.
Groepper Dr. Heitz Thomsen
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Beamtendisziplinarrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
GG
Art. 103 Abs. 1
BDG
§ 13 Abs. 1 und 2, § 57 Abs. 2, § 58 Abs. 1 und 2,
§ 65 Abs. 1 und 3, § 69
VwGO
§ 86 Abs. 1, § 130a
Stichworte:
Rechtliches Gehör; vorweggenommene Beweiswürdigung; Unmittelbarkeit der
Beweisaufnahme.
Leitsatz:
Der im gerichtlichen Disziplinarverfahren geltende Grundsatz der unmittelbaren
Beweiserhebung durch das Verwaltungsgericht verbietet es, eine bestrittene,
beweisbedürftige Tatsache statt im Wege des Zeugenbeweises durch Verlesen
von Vernehmungsprotokollen des behördlichen Disziplinarverfahrens oder an-
derer gesetzlich geordneter Verfahren festzustellen.
Das Verwaltungsgericht darf die in einem anderen gesetzlich geordneten Ver-
fahren getroffenen tatsächlichen Feststellungen nach § 57 Abs. 2 BDG seiner
Entscheidung nur dann ohne erneute Prüfung zugrunde legen, wenn sie nicht
bestritten werden.
Beschluss des 2. Senats vom 4. September 2008 - BVerwG 2 B 61.07
I. VG München vom 22.02.2006 - Az.: VG M 13B DK 05.5514 -
II. VGH München vom 16.03.2007 - Az.: VGH 16b D 06.942 -