Urteil des BVerwG vom 22.06.2015

Rechtliches Gehör, Geburt, Probe, Beamtenverhältnis

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 54.14
OVG 5 LB 6/14
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. Juni 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung und Dollinger
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Ober-
verwaltungsgerichts vom 1. April 2014 wird zurückgewie-
sen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 24 814,08 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie auf Verfahrens-
fehler gestützte Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revisi-
on (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO) ist unbegründet.
1. Die 1963 geborene Klägerin absolvierte nach dem Abitur eine Ausbildung zur
Medizinisch-Technischen Assistentin. In diesem Beruf war sie bis 1994 tätig. Im
April 1994 wurde ihre Tochter geboren. Bis April 1997 nahm die Klägerin El-
ternzeit in Anspruch und war anschließend bis Mai 1998 ohne Bezüge beur-
laubt. Auch nach der Geburt ihres Sohnes im Mai 1998 nahm die Klägerin El-
ternzeit in Anspruch, die im Mai 2001 endete. Von Oktober 2002 bis Januar
2007 absolvierte die Klägerin ein Lehramtsstudium. Im Anschluss an den Vor-
bereitungsdienst legte sie die Zweite Staatsprüfung im September 2008 ab. Seit
November 2008 ist die Klägerin im niedersächsischen Schuldienst als Lehrkraft
im Angestelltenverhältnis tätig.
Den Antrag der Klägerin vom September 2009 auf Einstellung in das Beamten-
verhältnis auf Probe lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, die Klägerin
habe die in Niedersachsen geltende Höchstaltersgrenze überschritten. Das
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Verwaltungsgericht hat den Beklagten verpflichtet, die Klägerin zum nächst-
möglichen Zeitpunkt in das Beamtenverhältnis auf Probe einzustellen. Das
Oberverwaltungsgericht hat das Urteil geändert und die Klage sowohl hinsicht-
lich des Hauptantrags als auch in Bezug auf die Hilfsanträge abgewiesen. Zur
Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Der Hauptantrag, den Beklagten zu verpflichten, die Klägerin zum nächstmögli-
chen Zeitpunkt in das Beamtenverhältnis auf Probe einzustellen, sei bereits
mangels Spruchreife unbegründet. Der Dienstherr habe die gesundheitliche
Eignung der Klägerin zunächst in eigener Verantwortung zu ermitteln. Auch die
Hilfsanträge auf Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung des Einstel-
lungsbegehrens sowie auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des ablehnenden
Bescheids seien unbegründet. Die Klägerin habe die laufbahnrechtliche
Höchstaltersgrenze überschritten. Auf die Erhöhung der Höchstaltersgrenze bis
zur Vollendung des 49. Lebensjahres könne sich die Klägerin nicht berufen. Sie
habe nicht wegen der tatsächlichen Betreuung eines Kindes unter 18 Jahren
von einer Bewerbung um Einstellung in einen Vorbereitungsdienst vor Vollen-
dung des 40. Lebensjahres abgesehen. Kinderbetreuungszeiten könnten auch
vor dem Entschluss eines Bewerbers liegen, die Lehrerlaufbahn einzuschlagen.
Bei der Klägerin habe aber nicht der Umstand der Betreuung ihrer Kinder, son-
dern der späte Entschluss, den Lehrerberuf zu ergreifen, zur Überschreitung
der Höchstaltersgrenze geführt. Gegen die Glaubhaftigkeit des Vorbringens der
Klägerin, seit April 1994 den Lehrerberuf ernsthaft angestrebt zu haben, spre-
che der objektive Umstand, dass sie ihren Arbeitsvertrag als Medizinisch-
Technische Assistentin mit einer Einrichtung in Hannover nach ihrem Wegzug
aus Hannover Ende des Jahres 1993 nicht beendet habe. Darüber hinaus sei
die Kausalität zwischen der Kinderbetreuung und der späten Bewerbung der
Klägerin um Einstellung in den Vorbereitungsdienst auch deshalb ausgeschlos-
sen, weil für die Klägerin im Oktober 1997 keine realistische Möglichkeit zur
Aufnahme des Studiums bestanden habe. Denn selbst wenn sie im Oktober
1997 für die Betreuung ihres ersten Kindes einen Vormittagsbetreuungsplatz
erhalten hätte, wäre ihr der Beginn des Studiums wegen ihrer erneuten
Schwangerschaft nicht möglich gewesen.
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2. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Be-
schwerde beimisst.
Grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) hat eine Rechtssache
nur dann, wenn sie eine - vom Beschwerdeführer zu bezeichnende - grundsätz-
liche, bisher höchstrichterlich nicht beantwortete Rechtsfrage aufwirft, die im
Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder einer Weiterentwicklung
des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf und die für die Entscheidung
des Revisionsgerichts erheblich sein wird (stRspr, BVerwG, Beschluss vom
2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91 f.>).
Die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob
"§ 16 Abs. 1 Satz 3 NLVO im Falle des Entschlusses, ein
Lehramtsstudium zu beginnen und die Lehrerlaufbahn
einzuschlagen, so auszulegen ist, das dann, wenn dieser
Entschluss anlässlich oder kurz nach der Geburt eines
Kindes gefasst worden ist, Anknüpfungspunkt für den hy-
pothetischen Kausalverlauf nicht der Zeitpunkt der Ent-
schlussfassung selbst ist, sondern erst derjenige Zeit-
punkt, zu dem erstmals die Realisierung dieses Ent-
schlusses ins Auge gefasst war und auch möglich er-
schien, bspw. weil für die zu betreuenden Kinder im
Grundsatz eine Fremdbetreuung im Kindergarten in Be-
tracht gekommen wäre",
vermag die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der
Rechtssache nicht zu rechtfertigen. Denn das Oberverwaltungsgericht hat die
entscheidungserhebliche Annahme, die Betreuung oder Pflege eines Kindes
unter 18 Jahren sei für die verspätete Bewerbung der Klägerin um Einstellung
in den Vorbereitungsdienst nicht kausal gewesen, auf zwei selbstständig tra-
gende Gründe gestützt. Das Oberverwaltungsgericht hat in Bezug auf die erfor-
derliche Kausalität in erster Linie festgestellt, die Klägerin habe im Jahr 1994
nicht den ernsthaften Entschluss zum Lehramtsstudium gefasst. Daran habe
sich bis zum tatsächlichen Beginn des Studiums im Oktober 2002 nichts geän-
dert. Die weiteren
Ausführungen
des Oberverwaltungsgerichts zum maßgebli-
chen Anknüpfungszeitpunkt für den hypothetischen Kausalverlauf, d.h. zur Ein-
schätzung der Klägerin, ihre Studienaufnahme sei im Hinblick auf die Kinderbe-
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treuung erst im Oktober 2002 zu realisieren gewesen, tragen die Annahme des
Berufungsgerichts zur fehlenden Kausalität selbstständig.
Ist eine Berufungsentscheidung - wie hier - auf mehrere Gründe gestützt, kann
nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Revi-
sion nur zugelassen werden, wenn gegenüber jeder der Begründungen ein
durchgreifender Revisionszulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt
(BVerwG, Beschlüsse vom 15. Juni 1990 - 1 B 92.90 - Buchholz 11 Art. 116 GG
Nr. 20 S. 11, vom 20. August 1993 - 9 B 512.93 - Buchholz 310 § 132 VwGO
Nr. 320 S. 51 und vom 9. Dezember 1994 - 11 PKH 28.94 - Buchholz 310 § 132
Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 4 S. 4). Daran fehlt es hier, weil im Hinblick auf die
Feststellung des Berufungsgerichts, die Klägerin habe einen bereits im Jahr
1994 gefassten Entschluss zum Lehramtsstudium und dessen durchgehendes
Fortbestehen bis zur Studienaufnahme im Oktober 2002 nicht glaubhaft ge-
macht, kein Zulassungsgrund besteht.
3. Das Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht leidet nicht an den in der
Beschwerdebegründung geltend gemachten Verfahrensmängeln.
a) Einen Verfahrensmangel sieht die Beschwerde zunächst darin begründet,
dass das Oberverwaltungsgericht das Vorbringen der Klägerin, sie habe sich
bereits Anfang 1994 für das Lehramtsstudium entschieden, im Hinblick darauf
als nicht glaubhaft bewertet habe, dass sie ihr ruhendes Arbeitsverhältnis mit
einer medizinischen Einrichtung in Hannover auch nach dem Ende der dreijäh-
rigen Elternzeit nach der Geburt ihres ersten Kindes aufrechterhalten habe.
Dies stelle einen Verstoß gegen die Denkgesetze und damit zugleich eine Ver-
letzung des Überzeugungsgrundsatzes des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO dar.
Dies kann dem Berufungsgericht nicht vorgeworfen werden.
Ein Verstoß gegen Denkgesetze ist nicht bereits bei einer von der inhaltlichen
Position eines Beteiligten abweichenden Wertung eines Sachverhalts gegeben,
sondern liegt erst dann vor, wenn eine Schlussfolgerung aus Gründen der Logik
schlechthin nicht gezogen werden kann (BVerwG, Beschluss vom 26. Februar
2008 - 2 B 122.07 - ZBR 2008, 257 <260>). Der Schluss des Oberverwaltungs-
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gerichts, die Aufrechterhaltung des bestehenden Arbeitsverhältnisses stehe der
Annahme der beruflichen Neuorientierung und der Hinwendung zum Lehrerbe-
ruf entgegen, ist aber nicht aus Gründen der Logik ausgeschlossen. Der Sache
nach setzt die Klägerin lediglich der Würdigung der Umstände durch das Beru-
fungsgericht ihre eigene Beweis- und Sachverhaltswürdigung entgegen, indem
sie aus den konkreten Umständen für sich günstigere Schlussfolgerungen zieht.
b) Die Beschwerde sieht einen Verstoß gegen das Gebot des rechtlichen Ge-
hörs (Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO) sowie gegen den Überzeu-
gungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO darin begründet, dass das
Oberverwaltungsgericht den Vortrag der Klägerin im Rahmen ihrer Parteiver-
nehmung in der Berufungsverhandlung unberücksichtigt gelassen habe, sie
habe sich bereits 1994 nach der Geburt ihres ersten Kindes bei der Universität
Bremen nach den Bedingungen des Lehramtsstudiums erkundigt. Auch diese
Verfahrensrüge ist unbegründet.
Der Anspruch eines Prozessbeteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet das
Gericht, seine Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu zie-
hen. Die Gerichte sind jedoch nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen eines
Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Art. 103
Abs. 1 GG ist nur dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das
Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. (BVerfG, Beschlüsse vom
5. Oktober 1976 - 2 BvR 558/75 - BVerfGE 42, 364 <367 f.> und vom 19. Mai
1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <145 f.> und Kammerbeschluss vom
28. August 2014 - 2 BvR 2639/09 - NVwZ 2015, 52 Rn. 47). § 108 Abs. 1 Satz 1
VwGO verpflichtet das Gericht, seiner Überzeugungsbildung den im Verfahren
festgestellten Sachverhalt vollständig und richtig zugrundezulegen. Für die in-
nere Überzeugung des Gerichts fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrund-
lage, wenn es einzelne erhebliche Tatsachenfeststellungen oder Beweisergeb-
nisse nicht in die rechtliche Würdigung einbezieht, insbesondere Umstände
übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen
(BVerwG, Urteil vom 2. Februar 1984 - 6 C 134.81 - BVerwGE 68, 338
<339 f.>). Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht bei seiner Schlussfolge-
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rung, die Klägerin habe den Lehrerberuf nicht bereits 1994 ernsthaft angestrebt,
nicht verletzt.
Das Oberverwaltungsgericht hat in seinem Urteil auf den Inhalt der Aussagen
der Klägerin über den Zeitpunkt und die näheren Umstände ihres Entschlusses
zur Aufnahme des Lehramtsstudiums sowie zu den Ursachen der Verzögerung
des Studienbeginns im Rahmen ihrer Parteivernehmung Bezug genommen (UA
S. 11). Das Vorbringen der Klägerin zu ihren Nachfragen bei der Universität
Bremen zu den Studienbedingungen hat es in den Entscheidungsgründen aus-
drücklich wiedergegeben (UA S. 24). Daraus folgt, dass das Gericht diese An-
gaben der Klägerin bei der ihm obliegenden Würdigung der Umstände des kon-
kreten Einzelfalls tatsächlich berücksichtigt hat. Dass das Gericht dem objekti-
ven Umstand der Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin mit
ihrem früheren Arbeitgeber in Hannover maßgebliches Gewicht beigemessen
hat, verletzt weder Art. 103 Abs. 1 GG noch § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Denn
diese Bestimmungen gewähren dem Prozessbeteiligten keinen Schutz davor,
dass das Gericht die Umstände des Falles anders als der Beteiligte würdigt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 GKG
a.F.
Domgörgen Dr. Hartung Dollinger
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