Urteil des BVerwG vom 22.09.2006

Beamtenverhältnis, Notlage, Unterschlagung, Unterliegen

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 2 B 52.06
OVG 3 LD 4/04
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. September 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Albers
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller und Dr. Heitz
beschlossen:
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Ober-
verwaltungsgerichts vom 31. Mai 2006 wird zurückgewie-
sen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
G r ü n d e :
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, § 69 BDG gestützte Beschwerde bleibt ohne
Erfolg. Der Sache kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu.
Der Beklagte hält für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob im Rahmen der Erwä-
gungen zum Disziplinarmaß bei so genannten Zugriffsdelikten anstelle einer
starren Milderungs-Bagatellgrenze von 50 € zusätzlich die individuellen Ver-
hältnisse des Beamten (sozialer Status, familiäre Situation, tadelfrei abgeleiste-
te Dienstzeiten, Alter) zu seinen Gunsten berücksichtigt werden müssen.
Die Frage rechtfertigt die Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeu-
tung nicht. Sie ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und
des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt.
Nach § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG ist ein Beamter aus dem Beamtenverhältnis zu
entfernen, wenn er durch ein schweres Dienstvergehen das Vertrauen des
Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat. Bei der Frage nach
der Schwere des Dienstvergehens ist maßgebend auf das Eigengewicht der
Verfehlung abzustellen. Hierfür können bestimmend sein objektive Handlungs-
merkmale (insbesondere Eigenart und Bedeutung der Dienstpflichtverletzung
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sowie besondere Umstände der Tatbegehung), subjektive Handlungsmerkmale
(insbesondere Form und Gewicht der Schuld) sowie unmittelbare Folgen des
Dienstvergehens für den dienstlichen Bereich und für Dritte. Eine objektive und
ausgewogene Zumessungsentscheidung setzt voraus, dass die sich aus § 13
Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG ergebenden Bemessungskriterien - Schwere des
Dienstvergehens, Persönlichkeitsbild des Beamten, Umfang der Vertrauensbe-
einträchtigung - mit dem ihnen im Einzelfall zukommenden Gewicht bei jedem
Dienstvergehen, gleichgültig zu welcher Disziplinarmaßnahme es letztlich führt,
ermittelt und in die Entscheidung eingestellt werden (Urteil vom 20. Oktober
2005 - BVerwG 2 C 12.04 - Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 1).
Hat sich der Beamte bei der Ausübung seiner dienstlichen Tätigkeit an Vermö-
genswerten vergriffen, die als dienstlich anvertraut seinem Gewahrsam unter-
liegen, ist ein solches Dienstvergehen „regelmäßig“ geeignet, das Vertrauens-
verhältnis zu zerstören (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Februar 2003
- 2 BvR 1413/01 - NVwZ 2003, 1504 <1504 f.> m.w.N.), so dass in diesen Fäl-
len die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis grundsätzlich Ausgangspunkt
der Bestimmung der angemessenen Disziplinarmaßnahme ist. Die von der
Schwere des Dienstvergehens ausgehende Indizwirkung entfällt jedoch, wenn
gewichtige und im Einzelfall durchgreifende Entlastungsgründe festgestellt wer-
den. Dann hat das Dienstvergehen keinen endgültigen Vertrauensverlust zur
Folge. Deshalb darf sich die Würdigung nicht auf die Verneinung „anerkannter
Milderungsgründe“ beschränken. Diese „Milderungsgründe“, die besondere
Konfliktsituationen (Handeln in einer wirtschaftlichen Notlage, in einer psychi-
schen Ausnahmesituation oder in einer besonderen Versuchungssituation) und
Verhaltensweisen mit noch günstigen Persönlichkeitsprognosen (freiwillige
Wiedergutmachung des Schadens oder Offenbarung des Fehlverhaltens vor
Tatentdeckung, Zugriff auf geringwertige Gelder oder Güter) umschreiben, sind
zwar auch unter Geltung des § 13 BDG geeignet, bei einem Beamten, der
dienstlich im Kernbereich versagt hat, noch einen Rest an Vertrauen anzuneh-
men. Sie stellen jedoch keinen abschließenden Kanon der bei so genannten
Zugriffsdelikten berücksichtigungsfähigen Entlastungsgründe dar (Urteil vom
20. Oktober 2005 a.a.O. m.w.N.). Es kann auch andere Entlastungsgründe ver-
gleichbaren Gewichts geben, die ein Restvertrauen rechtfertigen. Bei der prog-
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nostischen Frage, ob bei einem Beamten aufgrund eines schweren Dienstver-
gehens ein endgültiger Vertrauensverlust im Sinne des § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG
eingetreten ist, gehören zur Prognosebasis daher alle für diese Einschätzung
bedeutsamen belastenden und entlastenden Bemessungsgesichtspunkte (zum
Beispiel familiäre und wirtschaftliche Verhältnisse, tadelfrei abgeleistete Dienst-
zeiten, Lebensalter), bei einem so genannten Zugriffsdelikt im Rahmen entlas-
tender Umstände also nicht nur die bislang von der Rechtsprechung „anerkann-
ten Milderungsgründe“ wie zum Beispiel der Milderungsgrund des Zugriffs auf
Gelder und Güter im Wert von nicht mehr als etwa 50 € (vgl. dazu Urteil des
Disziplinarsenats vom 11. Juni 2002 - BVerwG 1 D 31.01 - BVerwGE 116, 308
<310 f.>). Dies gebieten sowohl das gesetzliche Bemessungskriterium „ange-
messene Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes des Beamten“ als auch
der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot). Die gesamte Progno-
segrundlage muss in der Entscheidung des Gerichts dargelegt werden; ob sie
dann den Schluss auf einen noch verbliebenen Rest an Vertrauen in die Person
des Beamten zulässt, ist eine Frage der Gesamtabwägung im Einzelfall (Urteil
vom 20. Oktober 2005 a.a.O.).
Die aufgeworfene Rechtsfrage wäre im Übrigen auch nicht klärungsfähig. Sie
würde sich in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht als entscheidungser-
heblich stellen. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts,
an die der Revisionssenat mangels entsprechender Verfahrensrügen gebunden
wäre (§ 137 Abs. 2 VwGO, § 69 BDG), wäre eine Bagatellgrenze von etwa 50 €
weit überschritten. Der wegen Verletzung des Postgeheimnisses in Tateinheit
mit veruntreuender Unterschlagung zu einer Gesamtgeldstrafe rechtskräftig
verurteilte Beklagte, der bei der Deutschen Post AG im Straßenpostdienst ein-
gesetzt war, hatte aus 24 Briefsendungen unerlaubt Bargeldbeträge in Höhe
von insgesamt 750 €, aus vier weiteren Sendungen 10 Schweizer Franken,
500 Isländische Kronen, 6 000 Spanische Peseten und 85 Britische Pfund so-
wie aus einer Sendung drei Goldketten an sich gebracht.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 77 Abs. 4 BDG. Ge-
richtsgebühren werden nicht erhoben (§ 78 Abs. 1 Satz 1 BDG).
Albers Dr. Müller Dr. Heitz
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